09.11.2023

Frankreich und der Nahe Osten

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Frankreich und der Nahe Osten

von Benoît Breville

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Am 13. Oktober 1996 traf der französische Präsident Jacques Chirac den damaligen Palästinenserführer Jassir Arafat in Gaza. Dort tauften die beiden vor einer jubelnden Menschenmenge eine Straße feierlich auf den Namen Charles de Gaulle. Am Tag zuvor hatte Chirac sich bei seinem Besuch in der Jerusalemer Altstadt mit israelischen Sicherheitskräften angelegt, als diese Journalisten und Palästinenser zurückdrängten.

Zehn Jahre später, im April 2007, war der neue Präsident der Palästinensischen Autonomiebehörde Mahmud Abbas in Paris zu Besuch und kündigte an, dass es in Ramallah bald eine ­Jacques-Chirac-Straße geben werde. Auf eine Emmanuel-Macron-Straße in Nablus wird man jedoch vergeblich warten.

Der aktuelle französische Präsident ist in den arabischen Ländern verhasst. Wenn in Tunis oder Beirut Menschen auf die Straße gehen, um gegen das israelische Bombardement in Gaza zu protestieren, ziehen sie auch vor die französische Botschaft und rufen „Macron Mörder!“. Am 24. Oktober warb Frankreichs Präsident bei einem Besuch in Israel und im Westjordanland für Friedensverhandlungen und sagte in Ramallah an Abbas gerichtet: „Nichts rechtfertigt jemals terroristische Gewalt, und Sie wissen es, Herr Präsident.“

Ein paar Tage zuvor hatte US-Präsident Joe Biden erklärt: „Israel hat das Recht, auf diese schrecklichen Angriffe zu reagieren, es hat sogar die Pflicht, darauf zu reagieren. Es gibt keine Rechtfertigung für Terrorismus, es gibt keine Entschuldigung.“ Wie schon bei früheren Militäroperationen seit 2008 hatte Israel vonseiten seiner Verbündeten grünes Licht für die Operation „Iron Swords“. Strom- und Wasserversorgung für den Gazastreifen wurden abgeschnitten, Menschen vertrieben, gnadenlos bombardiert. Die französische Außenministerin Catherine Colonna äußerte dazu in einem Radio­inter­view, Israel habe das Recht, sich zu verteidigen, müsse sich aber „an internationales Recht halten“.

Lange Zeit galt Frankreich als Freund des palästinensischen Volks. Über Jahrzehnte zögerten führende französische Politiker nie, die israelische Siedlungspolitik, die Besatzung, die Vertreibungen und Demütigungen anzuprangern. Inzwischen gilt solche Kritik als ein verbotenes „Ja, aber“ und wird aus den offiziellen Verlautbarungen verbannt.

Charles de Gaulle verurteilte den israelischen Präventivschlag, mit dem der Sechstagekrieg vom Juni 1967 begonnen hatte, und verhängte sogar ein Waffenembargo gegen Israel. Einige Monate später, am 27. November 1967, erklärte er auf einer berühmt gewordenen Pressekonferenz: „Jetzt organisiert Israel in den eroberten Gebieten die Besatzung, die nicht ohne Unterdrückung, Repression und Vertreibung ablaufen kann; dort entsteht nun ein Widerstand, den Israel als Terrorismus bezeichnet.“

Bis zur Wahl von Nicolas Sarkozy im Jahr 2007 warteten französische Präsidenten immer wieder mit spektakulären Aktionen auf, mit symbolischen Gesten und diplomatischen Entscheidungen, die die Regierungen in Tel Aviv und Washington verärgerten. So trieb Georges Pompidou die Waffenexporte in arabische Länder voran; Valéry Giscard d’Estaing nahm den Dialog mit der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) auf und drängte die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft 1980 zur Annahme der Erklärung von Venedig, die das Recht des palästinensischen Volks auf Selbstbestimmung bekräftigt; François Mitterrand sprach 1982 in einer Rede vor der Knesset von der PLO und einem „palästinensischen Staat“ und empfing 1989 Jassir Arafat im Élysée-Palast.

Jacques Chirac wiederum ist vielen Palästinensern in positiver Erinnerung, weil er den Irakkrieg 2003 vehement ablehnte, den todkranken Arafat in Frankreich aufnahm und ihm nach seinem Tod als erstes Staatsoberhaupt die letzte Ehre erwies.

Diese spezielle französische „Blockfreiheit“ war Teil einer umfassenderen „arabischen Politik“, die de ­Gaulle ab 1967 verfolgte, zu einer Zeit also, als die Beziehungen zwischen Paris und den Staaten des Maghreb und des Nahen Ostens – gelinde gesagt – stürmisch waren. Wofür es handfeste Gründe gab, denn Frankreich hatte sich 1956 in der Suez-Krise an die Seite der Israelis und der Briten gegen Ägypten gestellt, das den Kanal verstaatlichen wollte.

Mit Tunesien hatte es sich 1961 über die Rückgabe des Marinestützpunkts Bizerta zerstritten. Nur drei Jahre zuvor hatte die französische Armee das tunesische Dorf Sakiet Sidi Youssef bombardiert, wobei 70 Menschen starben. Der wichtigste Grund aber war der Algerienkrieg, mit hunderttausenden To­ten.1 Frankreichs Image in der Re­gion war denkbar schlecht.

De Gaulle erkannte die geopolitische Bedeutung der arabischen Welt, mit der Frankreich durch seine Kolonialherrschaft und Mandatszeit verbunden war. Die erdölreiche Region spielte eine immer wichtigere geostrategische Rolle, blieb aber vom Kalten Krieg relativ unberührt. Die französische Regierung hatte daher gute Chancen, einen eigenen Weg zwischen den beiden Blöcken zu gehen und so mehr als nur eine Statistenrolle in der Region zu spielen. Paris konnte darauf hoffen, die arabischen Länder als Brücke zu nutzen, als Verbindung zur „Dritten Welt“.

De Gaulle versuchte auf diese Weise, den französischen Einfluss nach dem Ende des Kolonialreichs aufrechtzuerhalten. Zugleich wollte er sein Land aus der Abhängigkeit von den USA lösen, indem er ein eigenes Nukleararsenal aufbaute und 1966 die militärische Kommandostruktur der Nato verließ. 1956 kritisierte er in einer Rede bei einem Besuch in Phnom Penh das militärische Engagement der USA in Vietnam.2

„Frankreich hat keine arabische Politik, so wenig wie es eine chinesische Politik hat, aber es hat eine Politik, die seine Interessen gegenüber den arabischen Ländern vertritt“, erklärte Michel Jobert, einer der Architekten dieser außenpolitischen Strategie.3 Mal verlangten diese Interessen, sich hinter die USA zu stellen, wie im Golfkrieg von 1991, mal eine Distanzierung von Washington, was Frankreich eine gewisse Popularität in weiten Teilen der Welt sicherte. So lief Jacques Chirac 2003, nachdem er die US-Invasion im Irak verurteilt hatte, unter dem Jubel Hunderttausender wie ein Held durch Algier und Oran; auch im malischen Timbuktu (auch Mali war einst französische Kolonie) wurde er von einer begeisterten Menge empfangen.

In letzter Zeit aber musste sich Frankreich an Proteste vor seinen Botschaften gewöhnen, von Niger bis zum Libanon, von Burkina Faso bis Tune­sien, vom Tschad bis Iran, denn die französischen Präsidenten folgen in der israelisch-palästinensischen Frage der US-Linie: Sie unterstützen die israelische Regierung und behandeln diesen Konflikt um Land zunehmend als Teil des „Kampfes gegen den Terrorismus“.

Im Jahr 2009, nach drei Wochen heftiger Bombardierung des Gazastreifens, erklärte Präsident Sarkozy, dass „die Europäer an der Seite Israels stehen, um sein Recht auf Sicherheit zu gewährleisten“. Fünf Jahre später, als Gaza erneut beschossen wurde, versicherte François Hollande Israel seine volle Solidarität, da es berechtigt sei, „alle Maßnahmen zum Schutz seiner Bevölkerung zu ergreifen“. Macron schlägt in dieselbe Kerbe.

Für Frankreich bedeutet diese transatlantische Ausrichtung einen Imageverlust bei den Ländern des Südens. Mehr noch: Indem Paris in strategischen Fragen den USA folgt, bindet es Frankreichs Schicksal an das einer umstrittenen, im Niedergang befindlichen Macht. In einer Zeit, in der viele Staaten eine multipolare Weltordnung anstreben, sollte Frankreich nach neuen Allianzen suchen und seinen Status als vermittelnde Macht wiederbeleben, statt einen Großteil der Welt gegen sich aufzubringen.

Durch die Anpassung an die US-Linie untergräbt Präsident Macron Frankreichs Ansehen in der Welt – und auch seinen eigenen Ruf. Wenn er autoritäre Regime geißelt, umgibt er sich mit der Aura von Freiheit, Demokratie und Toleranz. Doch zur Verteidigung dieser außenpolitischen Liberalität greift er zu freiheitsfeindlichen Maßnahmen: Am 12. Oktober versendete das Innenministerium Telegramme an alle Präfekten des Landes mit der Aufforderung, Solidaritätskundgebungen mit den Palästinensern zu verbieten.

In mehreren Fällen wurden bereits Ermittlungen wegen der „Verherrlichung von Terrorismus“ eingeleitet: gegen die Nouveau Parti Anticapita­liste, die ihre „Unterstützung für die Palästinenser und die Mittel des Kampfs, die sie für ihren Widerstand gewählt haben“ geäußert hatte; gegen die isla­misch-antikoloniale Parti des Indi­gènes de la République; gegen die Abgeordnete Danièle Obono von der Linkspartei La France Insoumise, die die Hamas ziemlich ungeschickt als „Widerstandsbewegung, die sich als solche definiert“ bezeichnet hatte; gegen einen Fußballer aus Nizza, zwei Ge­werk­schaf­ter:innen, einen sozialistischen Abgeordneten und ein paar andere.

Innenminister Gérald Darmanin will zudem ein Verbot von Gruppierungen, „die inoffiziell und versteckt die Hamas oder Bewegungen rund um die Hamas unterstützen und teilweise auch finanzieren“.

Die Aufregung kann auch komische Züge annehmen, wie in Valence, wo einem Restaurant der Kette „Chamas Tacos“ mit polizeilicher Schließung gedroht wurde, weil wegen nicht funk­tionierender Leuchtröhren aus dem Namen ein „Hamas Tacos“ geworden war. ⇥Benoît Bréville

1 Von 1954 bis 1962 erkämpfte Algerien seine Unabhängigkeit von Frankreich.

2 Kambodscha gehörte ebenso wie Vietnam und Laos zum französischen Kolonialgebiet Indochina und wurde 1953 unabhängig.

3 Siehe Ignace Dalle, „Les relations entre la France et le monde arabe“, in: Confluences Méditerranée, Bd. 96, Nr. 1, 2016.

Aus dem Französischen von Nicola Liebert

Le Monde diplomatique vom 09.11.2023, von Benoît Breville