09.11.2023

Saudi-Arabien spielt auf Zeit

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Saudi-Arabien spielt auf Zeit

von Hasni Abidi und Angélique Mounier-Kuhn

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Am 7. Oktober, nur wenige Stunden nach dem Angriff der Hamas auf Israel, forderte das Außenministerium Saudi-Arabiens in einer offiziellen Erklärung „das sofortige Ende der beiderseitigen Eskalation“. Zugleich sicherte die saudische Regierung den Palästinensern ihre uneingeschränkte Unterstützung zu: „Das Königreich erinnert an seine wiederholten Warnungen vor einer explosiven Zuspitzung der Lage als Folge der andauernden Besatzung, der Verweigerung der legitimen Rechte des palästinensischen Volks und der systematischen Provokationen, die ihre geheiligten Werte missachten.“

Die Regierung in Riad wählte allerdings weniger kategorische Formulierungen als das Emirat Katar, das die im Gazastreifen herrschende islamistische Hamas seit Langem finanziell unterstützt. Die Führung in Doha beeilte sich, Israel der „alleinigen Verantwortung für die aktuelle Eskalation“ zu bezichtigen und auf die „ständigen Verletzungen der Rechte des palästinensischen Volks“ zu verweisen.

Allerdings unterscheidet sich die Reaktion Saudi-Arabiens auch von der Position der Vereinigten Arabischen Emirate (VAE). Die haben die Hamas wegen ihrer „Angriffe gegen israelische Städte und Dörfer in der Nähe des Gazastreifens“ angeprangert und sich „bestürzt über die Entführung von Zivilpersonen“ geäußert.

Der neuerliche Krieg durchkreuzt mit einen Schlag die in den letzten Wochen von Saudi-Arabien und den USA verfolgten Absichten, in der Geschichte des Nahen Ostens ein friedliches Kapitel aufzuschlagen. Zwar hatte es in den ersten Monaten der Amtszeit Joe Bidens in den Beziehungen zwischen Washington und Riad geknirscht; danach folgte eine weitere Abkühlung, nachdem das Königreich seine Erdölproduktion trotz der steigenden Energiepreise gedrosselt hatte. Doch seit April 2023 entwickelte sich zwischen beiden Ländern erneut ein intensiver diplomatischer Austausch.

Ähnlich rege waren die Bemühungen der USA gegenüber Israel. Das zentrale Thema war auch hier die „Normalisierung“ der Beziehungen zwischen Riad und Tel Aviv. Die Beseitigung dieses Tabus sollte nach Ansicht beider Parteien eine Ära der Zusammenarbeit im gesamten Nahen Osten einleiten, um der Region die ständige Wiederkehr der Unruhen zu ersparen, die sie seit 1948 immer wieder erschüttert hatten.

Einige Kommentatoren konstatierten schnell, die Hamas verfolge mit ihrem Angriff das Ziel, diese Annäherung zu torpedieren. Aber die Theorie ist zu simpel, um voll zu überzeugen. Dennoch belastet der Konflikt die in den letzten Monaten eingeleitete Annäherung zwischen den drei Staaten.

Die US-Regierung hatte im letzten Sommer alles dafür getan, die Verhandlungen zu beschleunigen, und auch nach Kriegsbeginn sofort den Wunsch bekräftigt, den Prozess fortzuführen. Doch angesichts der israelischen Vergeltungsschläge im Gaza­streifen und der zahlreichen propalästinensischen Demonstrationen nicht nur in der arabischen Welt konnten die Saudis unmöglich den Eindruck erwecken, als wollten sie die Verhandlungen weiterführen.

Am 14. Oktober ließen zwei saudische Quellen über die britischen Presseagentur Reuters durchsickern, die Gespräche seien ab sofort unterbrochen. Offiziell bestätigt wurde das von der Monarchie allerdings nicht. US-Außenminister Antony Blinken reiste eilends in den Nahen Osten, um sicherzustellen, dass sich die Staaten in der Region angesichts der drohenden Eskalation zurückhalten, wobei er gleich zweimal innerhalb eines Wochenendes in Riad Station machte.

Wie die meisten anderen Staaten der arabischen Welt hat das wahhabitische Königreich die Existenz Israels niemals anerkannt – anders als Ägypten (seit 1979), Jordanien (seit 1994), Mauretanien (von 1999 bis 2010) und neuerdings Bahrain, die VAE, Marokko und der Sudan, die 2020 mit Israel die sogenannten Abraham-Abkommen unterzeichnet haben.1

Die intensivierte diplomatische Aktivität der letzten Monate wie auch gezielte Äußerungen von Beteiligten erzeugten den Eindruck, dass ein historischer Durchbruch zwar nicht um die Ecke, aber doch in erreichbarer Nähe war. Mit jedem Tag rücke ein Abkommen näher, erklärte der saudische De-facto-Herrscher Mohammed bin Salman (MBS) am 20. September im US-amerikanischen Fernsehsender Fox News. In seinem ersten Interview in englischer Sprache seit seiner Ernennung zum Kronprinzen vor sechs Jahren nannte er das angestrebte Abkommen „das bedeutendste seit dem Ende des Kalten Kriegs“.

Eine ähnliche Einschätzung gab zwei Tage später auch der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu. Er erklärte vor der UN-Generalversammlung in New York, sein Land und das Königreich stünden „an der Schwelle eines spektakulären Fortschritts“. Ein Friedensschluss zwischen Israel und Saudi-Arabien werde „einen neuen Nahen Osten schaffen“, sagte Netanjahu voraus. Damit würden sich die „von Konflikten und ­Chaos heimgesuchten Gebiete“ in „Gefilde des Wohlstands und des Friedens“ verwandeln. Und auch John Kirby, Kommunikationsdirektor des Nationalen Sicherheitsrats der USA, bestätigte gegenüber Journalisten am 29. September, die drei Partner hätten in den Verhandlungen bereits „eine grundlegende Struktur“ skizziert.

In den US-Medien erschienen ausführliche Berichte über die möglichen Umrisse dieses Abkommens und speziell über die Vorbedingungen, die ­Riad für eine Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit Israel gegenüber Washington formulierte. Das zeigt, dass die US-Regierung am Abschluss einer Vereinbarung besonders stark interessiert ist, auch wenn alle drei Länder davon profitieren würden.

Angesichts der im nächsten Jahr anstehenden Präsidentschaftswahlen möchte die Biden-Administration unbedingt einen bedeutenden außenpolitischen Erfolg verbuchen. Zwar kann man nicht davon ausgehen, dass es Saudi-Arabien schafft, die gesamte muslimische Welt zur Normalisierung mit Israel zu bewegen, doch die Anerkennung des jüdischen Staats durch Riad würde aus Sicht Washingtons einen Durchbruch im Nahen Osten darstellen, der viel bedeutsamer wäre als die zur Amtszeit von Donald Trump unterzeichneten „Abraham-Abkommen“.

Die Schirmherrschaft Washingtons würde es den USA zudem ermöglichen, ihren Einfluss in einer Region wieder auszuweiten, die immer stärker von China umworben wird. Wie groß der chinesische Einfluss schon ist, demonstrierte Peking zuletzt bei der Vermittlung des spektakulären Versöhnungsabkommens zwischen Iran und Saudi-Arabien.2

Die Ungeduld der US-Regierung und das Drängen ihrer Diplomaten auf eine israelisch-saudische Annäherung noch vor den Präsidentschaftswahlen führten dazu, dass der vormals so umstrittene MBS de facto rehabilitiert wurde. Er ist als Gesprächspartner unentbehrlich geworden. Aber das wiederum ermutigt die Führung, ihre Forderungen immer höher zu schrauben.

Nachdem der Kronprinz offenbar die Lehren aus seinen Verfehlungen auf der internationalen Bühne gezogen hat – man denke an den Jemen-Krieg und die Ermordung des Journalisten Jamal Khashoggi –, hat er seine rabiatesten Berater entsorgt und durch die alten Leitwölfe des saudischen Establishments ersetzt. Zu denen gehört auch sein Sicherheitsberater Musaad bin Mohammed al-Aiban, der die treibende Kraft bei der Wiederherstellung offizieller Beziehungen zu Iran gewesen ist.

Der künftige König Saudi-­Arabiens will nunmehr mit allen verfügbaren Mitteln erreichen, dass sein Land in die Liga der Staaten aufsteigt, die das Weltgeschehen auf ökonomischer wie politischer Ebene entscheidend beeinflussen. Deshalb strebt er, nach der Annäherung mit Iran, auch einen Ausweg aus der Jemen-Krise an und versucht im sudanesischen Bürgerkrieg zu vermitteln. Zudem kann er auf nationaler wie auf internationaler Ebene eine Allzweckwaffe einsetzen: den saudischen Public Investment Fund (PIF), der über eine finanzielle Schlagkraft von 700 Milliarden US-Dollar verfügt.

Die vier Bedingungen des Kronprinzen

Da sich MBS mit Nebenrollen nicht begnügt, kam es für ihn nie infrage, auf den Zug der Abraham-Abkommen aufzuspringen. Für die Normalisierung seiner Beziehungen zu Tel Aviv braucht er einen eigenen Vertrag, der auf seine weitreichenden Ambitionen zugeschnitten ist. Vor Ausbruch des neuen Gaza-Kriegs hatte Riad eine Liste vorgelegt, die vier Bedingungen enthielt, von denen einige für den Kongress in Washington offensichtlich kaum akzeptabel sind.

Die erste Bedingung verlangt die Unterstützung der USA für die Entwicklung eines zivilen Atomenergieprogramms, das auf der Anreicherung saudischen Urans beruhen soll. Der zweitgrößte Ölproduzent der Welt betrachtet dieses Programm als unabdingbar für das Gelingen seiner Energiewende.

Zweitens möchte Riad mit Washington einen Sicherheitspakt abschließen, der Garantien bietet, die denen gleichwertig sind, die den Nato-Mitgliedstaaten gewährt werden.

Drittens fordert das Königreich den erleichterten und quasi unbegrenzten Zugang zu den modernsten Waffensystemen, also zu den neuesten Produkten der US-Rüstungsindustrie, die bereits wegen des Ukrainekriegs unter Lieferdruck steht.

Die vierte Bedingung betrifft Zugeständnisse Israels, die „das Leben der Palästinenser verbessern“ sollen, wie es MBS in seinem Interview mit Fox News formulierte. Damit erweckte er den Eindruck, er wolle das Thema Palästina auf einen ökonomischen Sanierungsplan reduzieren – als gehe es nur darum, Millionen von Petrodollar ins Westjordanland zu pumpen und für die Bevölkerung von der israelischen Seite verbesserte Freizügigkeit und die Bewilligung von mehr Arbeitsgenehmigungen zu erwirken.

Umso auffälliger ist, dass die Arabische Friedensinitiative, die der saudische König Abdallah 2002 – mitten in der zweiten Intifada – auf dem Gipfeltreffen der Arabischen Liga in Beirut vorgestellt hatte, mit keinem Wort erwähnt wird. Unter dem Motto „Land für Frieden“ hatten die Saudis damals die Aufnahme „normaler Beziehungen“ mit Israel angeboten, dafür aber eine Gegenleistung verlangt: den vollständigen Rückzug Israels aus den seit 1967 besetzten Gebieten sowie die Gründung eines unabhängigen palästinensischen Staats.

Gleichwohl gilt der Text von 2002 offenbar immer noch als die offizielle Position des Königreichs. In einer Erklärung vom 14. Oktober forderte das saudische Außenministerium, die Bemühungen um einen Frieden voranzutreiben, und zwar „gemäß der Arabischen Friedensinitiative“.

Der saudische Kronprinz könnte also den Konflikt dazu nutzen, seine Rolle auf der internationalen Bühne aufzuwerten. Offensichtlich fühlt sich MBS in seinem Machtstreben nicht mehr durch seine Menschenrechtsbilanz behindert, die nach wie vor schrecklich ist. Noch 2022 wurden in Saudi-Arabien laut Amnesty International 196 Gefängnisinsassen hingerichtet, siebenmal mehr als 2020. Und von Januar bis September 2023 wurden mindestens weitere 100 Todesurteile vollstreckt.

Solche Fakten scheinen die Partner des Königreichs nicht mehr abzustoßen. In nur wenigen Monaten ist MBS das Kunststück gelungen, die Streitigkeiten seines Landes mit Iran beizulegen und zu einem umschmeichelten Kumpel der USA zu werden, von denen er noch vor kurzem von oben herab behandelt wurde. Die Annäherung zwischen dem Königreich und Israel führte Ende September sogar zu einer absoluten Premiere: Den Besuch von zwei israelischen Ministern in Riad.

Der 38-jährige zukünftige König spielt auf der Weltbühne zwar noch keine zentrale Rolle. Aber er ist endgültig nicht mehr nur eine Randfigur der internationalen Diplomatie, mit deren Komplexität er sich von Tag zu Tag besser zurechtfindet. Ob der von Washington gewünschte „Megadeal“ eines Tages zustande kommt, wird erst die Zukunft zeigen. Die Saudis pflegen zu sagen: „Die Zeit spielt für uns.“

1 Siehe „Neuer Beziehungsstatus“, LMd, Dezember 2020.

2 Siehe Akram Belkaïd und Marine Bulard, „Friedensstifter China?“, LMd, April 2023.

Aus dem Französischen von Heike Maillard

Hasni Abidi ist Politikwissenschaftler, Direktor des Centre d’études et de recherche sur le monde arabe et méditerranéen (Cermam) in Genf und Autor unter anderem von „Moyen Orient. Le temps des incertitudes“, Paris (Érick Bonnier) 2018. Angélique Mounier-Kuhn ist Journalistin.

Le Monde diplomatique vom 09.11.2023, von Hasni Abidi und Angélique Mounier-Kuhn