Unter Kontrolle
Wie Paris für Olympia 2024 aufrüstet
von Thomas Jusquiame
Als am 14. Juli 2023 die alljährliche Militärparade auf den Champs-Élysées stattfand, wurde hinter den Kulissen ein weiteres Spektakel veranstaltet: die Sicherheitsvorkehrungen der Polizeipräfektur. Es war wie ein Probelauf für die Olympischen Spiele, die diesen Sommer in Paris und Umgebung stattfinden werden.
In 11 der 20 Pariser Arrondissements galt ein teilweises Parkverbot. Je näher man Richtung Bastille kam, desto mehr Einschränkungen und Kontrollen gab es: Fast fünf Quadratkilometer waren für den Autoverkehr gesperrt und 13 RER- und Metro-Stationen geschlossen.
Im Stadtzentrum war „jede Kundgebung mit Protestcharakter“ im Umkreis von rund 1,5 Kilometern genauso untersagt wie „das absichtliche Verbergen des kompletten Gesichts oder eines Teils davon“. An 19 Kontrollpunkten wurden Besucher:innen der Festivitäten durchsucht und abgetastet; Glasflaschen und alkoholhaltige Getränke mussten abgegeben werden. Zudem wurde das gesamte Areal von hunderten Kameras und Drohnen überwacht.
Die Behörden betreiben immer mehr Aufwand, um bei politischen, sportlichen oder kulturellen Großveranstaltungen die öffentliche Ordnung vor kriminellen Umtrieben und Terroranschlägen zu schützen. Um die Menschenmassen zu kontrollieren, wird der öffentliche Raum vorübergehend oder manchmal sogar dauerhaft umgestaltet. Mit all diesen Einschränkungen der individuellen Bewegungsfreiheit kopieren die städtischen Behörden immer öfter eins zu eins die Sicherheitsvorkehrungen, die bislang nur an Flughäfen herrschten.
Die Geschichte dieser Art von Disziplinierung der Massen beginnt im protoindustriellen 18. Jahrhundert mit der Rationalisierung von Arbeitsabläufen. Daran orientierten sich ein Jahrhundert später auch die Eisenbahnpioniere, die eine regelrechte Panik vor dem wachsenden Ansturm auf das neue Verkehrsmittel ergriffen hatte.1
So wurde der Bahnhof zur Bastion. Schranken und Zäune lenkten die Wege der Reisenden, die vom Eisenbahnpersonal je nach Fahrschein für eine der anfangs noch vier Wagenklassen – vom Stehplatz bis zum gepolsterten Coupé mit Leselampe – in unterschiedliche geschlossene Wartesäle verwiesen wurden.2
Die damit einhergehenden Unannehmlichkeiten sowie eine Reihe von Eisenbahnkatastrophen wie im Jahr 1842, als auf der Strecke Paris–Versailles mindestens 50 Menschen verbrannten, weil sie in ihren Waggons eingeschlossen waren, führten allmählich zu einem Umdenken bei den Betreibern. Schließlich mussten die Sicherheit und Kontrolle der Passagiere mit der wirtschaftlichen Rentabilität der Eisenbahn in Einklang gebracht werden.
Die strenge Lenkung der Massen wurde von Maßnahmen abgelöst, die auf Selbstregulierung und punktuelle Kontrollen setzten, damit „der Passagierstrom kontinuierlich fließt“, erklärt der Soziologe Florent Castagnino, der an der Technischen Hochschule IMT Atlantique lehrt. Dieses Prinzip gilt bis heute, um viel frequentierte Infrastrukturen und städtische Großveranstaltungen zu sichern. Nur dass die Maßnahmen inzwischen viel umfangreicher und ausgeklügelter sind, wie sich am Stade de France besichtigen lässt, dem großen Fußballstadion im Pariser Vorort Saint-Denis, oder bei
der Organisation des G7-Gipfels 2019 in Biarritz. Laut dem Kriminologen Alain Bauer3 geht es in beiden Fällen nicht mehr darum, einen abgeschlossenen Raum zu schützen, sondern um den dynamischen Schutz der Personen, die sich darin bewegen.
Das Stade de France, das bei den Terroranschlägen vom 13. November 2015 eines von mehreren Zielen war4 , ist mit seinen 80 000 Sitzplätzen und zahllosen Anlässen für problematische Fan-Begegnungen der Inbegriff einer mit hohen Risiken behafteten Infrastruktur. Der Architekt wurde von einem ehemaligen Hauptbrandmeister der Freiwilligen Feuerwehr beraten und setzte auf situationsbezogene Prävention: Im Ergebnis umgibt eine Pufferzone das Stadion wie einen Festungsbau (Glacis), so dass potenzielle Angreifer keine Deckung finden.
Die gesamte Anlage ist so gestaltet, dass die Ordnungskräfte die Lage stets im Blick haben, ferngesteuert versenkbare Tore erleichtern ihnen die Arbeit. Tote Winkel und jegliches Stadtmobiliar wurden entfernt oder auf ein absolutes Minimum reduziert, damit die Menschen gezwungen sind, immer in Bewegung zu bleiben. Dank extrem heller Laternen und der überall sichtbar installierten Überwachungskameras gibt es keine toten Winkel.
Sind Ausschreitungen zwischen verfeindeten Fangruppen zu erwarten, können die Zuschauer:innen bereits bei der Anfahrt zu drei verschiedenen RER-Stationen geleitet werden, die zu getrennten Fußgängerwegen führen. Von ihrer Ankunft am Bahnhof bis zur Einnahme ihrer Plätze im Stadion werden die Zuschauer:innen engmaschig überwacht. Früher lagen solche „Stadien im Belagerungsmodus“, wie der Architekt Paul Landauer sie einmal genannt hat5 , am Stadtrand; doch mittlerweile rücken sie immer weiter in die Innenstädte vor.
Beim G7-Gipfel in Biarritz 2019 wurde mit vier konzentrischen Sicherheitszonen und verstärkten Kontrollen praktisch ein Lockdown über einen Teil der Stadt verhängt. Für die Absicherung des Gipfeltreffens war das Innenministerium zuständig. Präsident Macron hatte Biarritz nicht zufällig ausgewählt. In dem Urlaubsort an der Atlantikküste gibt es weder staatstragende Institutionen noch große Banken, die ein Ziel für Protestierende hätten abgeben können. Mit den Staats- und Regierungschefs, deren Delegationen und den Journalist:innen weilten insgesamt etwa 8000 Personen drei Tage lang in der 25 000-Einwohner-Stadt.
Jede der vier Zonen hatte eine eigene strategische Funktion. Wer in den am meisten gefährdeten Abschnitt gelangen wollte – die sogenannte Gipfelzone auf einer Fläche von nicht einmal einem Quadratkilometer –, musste ein Ausweisdokument und eine Akkreditierung vorweisen, die nur Anwohner und Zugangsberechtigte (Ladenbesitzer, Angestellte, Angehörige von Gesundheitsberufen und so weiter) bekamen. Auf einer Länge von drei Kilometern den Strand entlang wurden der Autoverkehr, der Badebetrieb und sonstiger Wassersport eingestellt. Und alle öffentlichen Parkplätze waren gesperrt.
In der zweiten, 1,5 Quadratkilometer großen „Schutzzone“ durften nur Anwohner und Zugangsberechtigte mit Plakette verkehren. Laut Jean-Christophe Moraud, damals stellvertretender Generalsekretär der G7-Präsidentschaft, bekamen 22 000 Fahrzeuge und 50 000 Personen den magischen Schlüssel, der ihnen die Zufahrt in eine der Schutzzonen öffnete.6
Ein Stadion wie ein Festungsbau
Die Beschlagnahmung des öffentlichen Raums ging jedoch noch weit über die Stadtgrenzen hinaus. Neben der vorübergehenden Schließung von Bahnhof und Flughafen wurden außerdem Kontrollpunkte an der Grenze zu Spanien errichtet. In der dritten Sicherheitszone, die der Gendarmerie unterstellt war, wurden die Fahrzeughalter auf allen Verkehrsachsen im Dreieck Biarritz–Bayonne–Anglet kontrolliert.
Die vierte und letzte Sicherheitszone umfasste schließlich das gesamte französische Staatsgebiet. Hier arbeitete der Geheimdienst Hand in Hand mit den Geheimdiensten der Nachbarländer, um als gefährlich eingestufte Personen abzufangen – damals wurden 450 Einreiseverbote erlassen. Für den Fall, dass Anti-G7-Demonstrant:innen von ihrem Gegengipfel im 30 Kilometer entfernten Städtchen Hendaye nach Biarritz ziehen sollten, stellten die Behörden 17 Staatsanwälte ab und ließen vorsorglich 300 Gewahrsamszellen räumen.7
Das offizielle Budget von 36,4 Millionen Euro für ein solches Sicherheitsaufgebot erscheint allerdings gering, verglichen mit den 190 Millionen, die beim G7-Gipfel 2018 in Kanada ausgegeben wurden – 2001 wurde in Kanada in Vorbereitung auf den Amerika-Gipfel sogar ein ganzes Gefängnis geräumt.8 Einen Kostenfaktor ließ die französische Regierung in ihrer Abrechnung 2019 allerdings unter den Tisch fallen: den enormen Aufwand für die Mobilisierung der Sicherheitskräfte.9
Doch „das größte Sicherheitsereignis der Welt in Friedenszeiten“ steht uns noch bevor, wie der Sicherheitschef des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) Aldric Ludescher die diesjährigen Sommerspiele bereits tituliert hat, die vom 26. Juli bis 11. August in Frankreich stattfinden werden.10 Das wird ein Quantensprung in der Überwachung und Lenkung von Menschenmassen: 15 Millionen Besucher:innen werden erwartet, davon ein bis zwei Millionen aus dem Ausland; 35 Wettkampfstätten, davon 25 in Paris und Umgebung, 500 000 Teilnehmer bei der Eröffnungszeremonie und 8 Millionen auf den Fanmeilen.
Allein die Verteilung und Kontrolle der Akkreditierungen für 17 000 Athlet:innen, 25 000 Journalist:innen, 300 000 Logistikfachkräfte (darunter 50 000 Freiwillige) und 100 bis 150 Staats- und Regierungschefs ist eine akrobatische Leistung.11 Während manche Firma bei solchen Aussichten die Kassen klingeln hört, rauft man sich in den Behörden schon die Haare.
Deren Aufgabe ist in erster Linie, Konflikte im öffentlichen Raum zu verhindern. Es gibt bereits einen Plan, um Obdachlose und Migrant:innen aus dem Stadtbild verschwinden zu lassen: Sogenannte unerwünschte Personen sollen in andere Landesregionen „geschleust“ werden. Gleichzeitig wird per Verordnung der Präfekturen die Verteilung von Lebensmitteln im Pariser Norden verboten. Auf Ersuchen des Innenministers hat die Polizeipräfektur für Paris und das Département Seine-Saint-Denis einen Plan namens „Null Kriminalität“ erstellt, der eine verstärkte Präsenz von Ordnungskräften und vermehrte Kontrollen vorsieht.
Auf die Freiheit und Anonymität, deretwegen seit jeher viele Menschen überhaupt in die Stadt ziehen, wird man während der Sommerspiele verzichten müssen: Ende November 2023 verkündete der Pariser Polizeipräfekt Laurent Nuñez, dass bei den Eröffnungsfeierlichkeiten in einem Gebiet, das 5 Prozent der städtischen Gesamtfläche umfasst, die Antiterrorgesetze12 angewandt werden: Während der Dauer der Zeremonie soll hier der Autoverkehr für Anwohner, Kliniken, Reparaturdienste und Behindertentransporte gesperrt werden. Rad fahren ist ebenfalls nicht erlaubt, und als Fußgänger:in muss man damit rechnen, kontrolliert zu werden.
In einem zweiten Bereich von 20 Quadratkilometern (20 Prozent der Pariser Gesamtfläche) wird der motorisierte Verkehr komplett eingestellt – einschließlich für mobile Hauspflegedienste und Busse. In einem dritten Bereich soll bei triftigem Grund (Weg zur Arbeit oder nach Hause, Arztbesuche und so weiter) die Benutzung des Autos erlaubt sein.
Es fragt sich nur, ob all diese ambitionierten und ziemlich extremen Maßnahmen funktionieren werden. Die Polizei lobt sich zwar gern selbst dafür, wie gut alles am 14. Juli und bei dem G7-Gipfel in Biarritz geklappt hat. Die Fußballstadien hat sie dagegen oft nicht so gut im Griff. Das zeigte sich etwa am 28. Mai 2022 beim Champions-League-Finale zwischen dem FC Liverpool und Real Madrid im Stade de France, wo es beim Eintritt zu tumultartigen Szenen kam. Am Ende gab es 200 Verletzte. Die Vorfälle lösten einen diplomatischen Eklat zwischen London und Paris aus und der Pariser Polizeipräfekt musst daraufhin sogar seinen Hut nehmen.
Wenn es gut läuft, dienen die Großveranstaltungen mit internationalem Publikum jedoch vor allem als Imagekampagnen für französisches Know-how, das man gern auch ins Ausland exportieren würde, meint Myrtille Picaud, Expertin für die Vermarktung digitaler Sicherheit. Bei Massenveranstaltungen wie den Olympischen Sommerspielen lässt sich zudem wunderbar „ausprobieren, was technisch und juristisch machbar ist, was man rechtzeitig hinbekommt und was nicht“. So soll bei dieser Gelegenheit erstmals offiziell KI-gestützte Videoüberwachung zum Einsatz kommen, die bereits seit Jahren illegal genutzt wird.13
Die nationale Forschungsagentur (Agence nationale de la recherche, ANR) und das Generalsekretariat für Verteidigung und nationale Sicherheit (Secrétariat général de la défense et de la sécurité nationale, SGDSN) haben bereits 2019 gemeinsam ein Projekt ausgeschrieben für die Entwicklung der besten technologischen Lösungen, „um auf die Sicherheitsprobleme zu reagieren, die solche Großveranstaltungen aufwerfen“. Die öffentlichen Gelder sollten „der Sicherheitsbranche eine Chance“ bieten, sich zu strukturieren, Innovationen zu entwickeln und diese international zu präsentieren, wie es in einer ANR-Pressemitteilung vom 22. März 2019 heißt.
Ein weiteres Programm, das im April 2022 vom Strategischen Branchenausschuss (Comité stratégique de filière, CSF) in Zusammenarbeit mit dem Innenministerium auf den Weg gebracht wurde, illustriert die Transformation des öffentlichen Raums in ein Labor für „die Erprobung von 200 Lösungen dank der Mobilisierung von 89 Unternehmen“.14 Während sich Paris im Vorfeld der Olympischen Spiele sicherheitstechnisch immer mehr in einen Flughafen verwandelt, haben die Sicherheitsfirmen ihre Goldmedaillen schon im Sack.
7 „Biarritz: Les anti-G7 sont prêts, la justice aussi“, France24, 20. August 2019.
8 „Sommet des Amériques. Le libre-échange au programme“, Le Monde, 18. April 2001.
9 Cédric Pietralunga, „G7 à Biarritz. Un budget aux contours flous“, Le Monde, 24. August 2019.
13 Siehe „Schlaue Kameras“, LMd, Februar 2023.
Aus dem Französischen von Ursel Schäfer
Thomas Jusquiame ist Journalist.