Spaniens Linke und das Katalonien-Syndrom
von Guillermo del Valle
Das politische Tauziehen nach den Wahlen vom 23. Juli, bei denen kein Lager eine klare Mehrheit erhielt, illustriert wieder einmal Spaniens Spaltung in zwei Blöcke. Auf der einen Seite stehen die Konservativen des Partido Popular (PP) und die 2013 gegründete rechtsextreme Vox.1 Beide Parteien stehen für einen zentralistisch organisierten Staat und das Konzept der nationalen Einheit: Spanien als eine einzige, unteilbare Nation.
Auf der anderen Seite steht ein Parteienbündnis, das die Linke im weiteren Sinne umfasst und Vertreter eines anderen Verständnisses von Nationalismus anzieht, dem der Peripherien. Bestimmte autonome Gemeinschaften wie Katalonien, Navarra, das Baskenland, Galicien oder die Kanarischen Inseln betrachten Spanien als ein Land, das sich aus mehreren Nationen zusammensetzt, die sich sprachlich und kulturell klar voneinander unterscheiden.
Die Führungen der Sozialistischen Arbeiterpartei Spaniens (PSOE) und der linken Koalition Sumar2 , die schon an der bisherigen Minderheitsregierung beteiligt waren, haben sich in der Hoffnung auf eine gemeinsame Regierungsbildung regionalen Parteien zugewandt, die ein plurinationales Spanien, wenn nicht sogar die Sezession ihrer Gebiete fordern. Am 19. August erklärte Íñigo Errejón, einer der Gründer der Linkspartei Podemos, auf X (vormals Twitter): „Es wäre ein Fehler, die soziale und die plurinationale Agenda für unvereinbar zu halten. Die Geschichte, der gemeinsame Gegner, die Notwendigkeit, unsere Kräfte zu bündeln, und die Demokratie: Alles drängt uns dazu, Hand in Hand zu gehen. Und das ist es, worauf wir hinarbeiten.“ Aber lassen sich die Visionen der Linken und der Nationalisten wirklich immer miteinander vereinbaren?
Viele hegen daran nicht den geringsten Zweifel. In der spanischen Linken hat der Begriff „nationale Einheit“ einen schlechten Ruf – vor allem weil er auf das Erbe der Franco-Diktatur (1936–1975) verweist, die das Bild eines katholischen, konservativen und jahrtausendealten Spanientums propagierte: „Wir wollen einen Staat, in dem die reine Tradition und Substanz einer idealen Vergangenheit in neuer, kraftvoller, heroischer Form wiederersteht“, verkündete Putschgeneral Franco im Juni 1936. Wer die Idee der nationalen Einheit ablehnt, gibt sich daher automatisch als Gegner des Franquismus und dessen konservativen Erben zu erkennen. Mit dem Eintreten für Plurinationalität und für die Verteidigung der lokalen Besonderheiten unterstreicht man seine Zugehörigkeit zum linken Lager.
Aber lässt sich aus der franquistischen Vorstellung von der spanischen Nation automatisch ableiten, dass jede Verteidigung der territorialen Einheit einer reaktionären Gesinnung entspringt? Ist eine Argumentation, die jede Idee von „Spanien“ den Franquisten überlässt, nicht ähnlich abstrus wie die Assoziation von „Republik“ in Chile mit dem Diktator Pinochet, bloß weil der General sich mit dem Titel „Präsident der Republik“ schmückte?
Oder wenn man davon ausgeht, dass einen die lokale Gemeinschaft vor einer repressiven Regierung beschützen kann, heißt das ja nicht automatisch, dass jedes Projekt zur Stärkung der regionalen Identität schon sozialen Fortschritt bedeutet. In Bolivien beispielsweise plante die Oberschicht des reichen östlichen Tieflands 2007 die Sezession, weil sie nicht akzeptieren wollte, dass das Land von Evo Morales regiert wurde, einem Linken, den sie noch dazu als „el Indio“ bezeichneten.3
Die derzeitigen Brückenschläge zwischen der Linken und Gruppierungen, die nationale Identitäten repräsentieren, sind nach Ansicht ihrer Befürworter durch das Wahlergebnis durchaus gerechtfertigt. Denn ohne ein Bündnis mit Kräften jenseits der traditionellen Linken gibt es für sie keine Chance auf eine Regierungsbildung, da die PSOE nur über 121 und Sumar über 31 Parlamentssitze verfügen, weit unter den 176, die für eine Mehrheit erforderlich sind.
Auf den ersten Blick mag die Arithmetik zwingend erscheinen. Doch die Linke hätte dafür einen hohen Preis zu zahlen: Sie müsste im Namen der Identität so manche Ziele der Linken zu Grabe tragen – solche wie Gleichheit und soziale Gerechtigkeit.
Die potenziellen Partner von PSOE und Sumar machen die Bedingungen für ihre Unterstützung deutlich. Der Präsident der Generalitat von Katalonien, Pere Aragonès, erklärte beispielsweise schon im Wahlkampf, dass er eine neue Regierung unter Pedro Sánchez nur dann unterstützen würde, wenn der Sozialist bereit wäre, mit dem „katalanischen Steuerdefizit“ Schluss zu machen. Gemeint ist die Differenz zwischen den in Katalonien erhobenen Steuern und dem, was die Region aus Madrid erhält.
Was würde es für die Linke bedeuten, wenn sie das akzeptiert? Die Steuern, die ja nicht zuletzt eine Form der Umverteilung darstellen, werden schließlich nicht von den Regionen, sondern von Individuen gezahlt. Sollte die Linke aus wahltaktischen Gründen nun in den Chor derer einstimmen, die laut darüber klagen, dass eine Region mit einer hohen Konzentration wohlhabender Steuerzahler und Unternehmen wie Katalonien mehr zum Gesamthaushalt beiträgt als andere?
Die Baskische Nationalpartei (PNV) ihrerseits hält die Sozialleistungen für unzureichend. Sie fordert jedoch nicht etwa eine Reform des Sozialsystems als Ganzes, sondern eine Regionalisierung der Sozialverwaltung. Würde die baskische Regierung die Sozialversicherung selbst managen, so der PNV-Vorsitzende Andoni Ortuzar, „werden die Basken von besseren Versicherungsleistungen, besseren Renten profitieren und besser leben können“.4 Was gehen einen da die übrigen Spanier an.
Der britische Historiker Eric Hobsbawm erklärte 1996 zum Thema Identitätspolitik: „Das politische Projekt der Linken ist universalistisch: Sie kämpft für alle Menschen (…) Es geht nicht um Freiheit für Aktionäre oder für Schwarze, sondern um Freiheit für alle. Es geht nicht um Gleichheit für die Mitglieder des Garrick Clubs oder für Behinderte, sondern um Gleichheit für alle. Es geht nicht um Brüderlichkeit nur für Eton-Schüler oder für Homosexuelle, sondern um Brüderlichkeit für alle. Jede Identitätspolitik zielt jedoch nicht auf die Emanzipation aller, sondern nur der Mitglieder einer bestimmten Gruppe ab.“5
In Spanien scheint sich damit die Trennlinie zwischen den oben beschriebenen politischen Lagern – auf der einen Seite der konservative zentralistische Nationalismus und auf der anderen die plurinationale Linke – mittlerweile in der beiden gemeinsamen Kompatibilität mit der neoliberalen Logik aufzulösen. Denn der Neoliberalismus braucht zwar ausreichend starke Staaten, um seine Agenda ins Werk zu setzen,6 doch er entfaltet sich in deren normativem, territorialem und fiskalischem Niedergang, selbst wenn dieser mit einer territorialen Fragmentierung einhergeht. Dafür steht beispielhaft der erwähnte Fall Bolivien, aber auch der Prozess der „Regionalisierung“ in Europa. Die Bewohner der Regionen werden in Konkurrenz zueinander gebracht, um Lohnsenkungen, Rückschritte bei den sozialen Sicherungssystemen und eine unternehmerfreundliche Steuerpolitik zu akzeptieren.
Diese Logik verteidigt übrigens auch der in Istanbul lebende Anarchokapitalist Hans-Hermann Hoppe, etwa in einem Interview mit der türkischen Association for Liberal Thinking: „Die größte Hoffnung auf Freiheit liegt in den kleinen Ländern: Monaco, Andorra, Liechtenstein, ja sogar die Schweiz, Hongkong, Singapur, Bermuda und so weiter. Alle Befürworter der Freiheit sollten die Entstehung von Zehntausenden dieser kleinen, unabhängigen Einheiten fördern. Wie wäre es mit zwei freien und unabhängigen Städten Istanbul und Izmir, die freundschaftliche Beziehungen zur türkischen Zentralregierung unterhalten, aber keine Steuern zahlen müssen und keine Transferleistungen erhalten? Und die nicht mehr die Gesetzgebung der Zentralregierung anerkennen, weil sie ihr eigenes Istanbuler oder Izmirer Gesetzbuch haben?“7
Unter dem Titel „Das Katalonien-Syndrom“ wies der französische Ökonom Thomas Piketty in seinem Blog schon 2017 darauf hin, dass die fiskalische Dezentralisierung, die seit 2010 unter dem Einfluss des „peripheren Nationalismus“ stattfindet, „Spanien schon jetzt zu einem der – in Bezug auf Steuer- und Haushaltspolitik – am stärksten dezentralisierten Länder der Welt macht, auch wenn man es mit wesentlich größeren föderalistischen Staaten vergleicht“.8
Ein System, in dem die Regionen so wichtige Staatseinnahmen wie Einkommen- und Vermögensteuern sowie Erbschafts- und Schenkungssteuern kontrollieren, untergrabe „die Idee der Solidarität innerhalb des Landes“, so Piketty. Dies führe dazu, „dass die Regionen gegeneinander ausgespielt werden, was besonders problematisch ist, wenn es sich um ein Instrument wie die Einkommensteuer handelt, die die Ungleichheiten zwischen den Ärmsten und den Reichsten über regionale oder berufliche Identitäten hinweg verringern soll“. Der katalanische Nationalismus entspringe zumindest teilweise einer Logik, die zu einem steuerlichen Unterbietungswettbewerb führe – nach dem Motto: Jeder kämpft für sich allein.
Auch die spanische Rechte ist sich dessen durchaus bewusst. Trotz ihrer Beteuerungen, die Einheit Spaniens zu verteidigen, nutzt sie die Möglichkeiten, die die territoriale Zersplitterung des Landes bietet, um die Interessen ihrer Wählerschaft zu verteidigen. So kündigte die Präsidentin der Autonomen Gemeinschaft Madrid, PP-Frontfrau Isabel Díaz Ayuso, im Juni 2021 an, sie werde dem Regionalparlament ein Gesetz zur Verteidigung der Steuerautonomie vorschlagen.
Vergessen war die angeblich unteilbare Einheit Spaniens. Es gehe um den Schutz der Unabhängigkeit der Gemeinschaft von Madrid bei der Verwaltung der Steuern. Konkret würden damit die wohlhabendsten Steuerzahler der Hauptstadtregion ausgenommen werden von dem Vorhaben der Zentralregierung, die Erbschafts- und Vermögensteuern zu erhöhen – um die soziale Krise abzufedern, die sich durch die steigenden Energiekosten verschärft hat.
Erst im Mai hatte Regierungschef Sánchez mit ansehen müssen, wie die Baskische Nationalpartei ein Wohnraumgesetz, das das Recht auf eine würdige Unterkunft stärken sollte, mit der Begründung ablehnte, dass es „zweifellos die ausschließlichen Kompetenzen“ der baskischen Autonomieregion verletze.9 Dessen ungeachtet setzt Sánchez auf die Idee eines Spanien vieler Ebenen („multi-nivel“), um seine potenziellen baskischen und katalanischen Partner bei Laune zu halten.10 Es wäre ein weiterer Schritt in Richtung des bundesstaatlichen Modells, das nicht wenige befürworten, allen voran der baskische Lehendakari, der Regierungschef der Autonomen Gemeinschaft, Íñigo Urkullu.
Im Gegensatz zu dem, was Podemos-Mitgründer Errejón suggeriert, geht Plurinationalismus also keineswegs automatisch Hand in Hand mit sozialem Fortschritt – insbesondere dann nicht, wenn er eine zentrifugale Bewegung begünstigt, die den Staat schwächt und den Wettbewerb zwischen den Regionen verstärkt. Für die Linke dürfte es daher eine riskante Strategie sein, mit dem Recht auf Verschiedenheit zugleich auch unterschiedliche Rechte für die Bürger eines Landes zu rechtfertigen.
1 Siehe Maëlle Mariette, „Spaniens Rechte und das Erbe Francos“, LMd, Juli 2023.
2 Ein Bündnis von Podemos, Izquierda Unida und verschiedenen regionalen Linksparteien.
3 Siehe Maurice Lemoine, „Die Würde der Armen und die Wut der Reichen“, LMd, September 2008.
5 Eric Hobsbawm, „Identity politics and the left“, New Left Review, I/217, London, Mai/Juni 1996.
6 Vgl. François Denord, Rachel Knaebel und Pierre Rimbert, „Schäubles Gehäuse“, LMd, August 2015.
7 Siehe Hans-Hermann Hoppe im Interview mit Emrah Akkurt, 25. Februar 2004, mises.org.
8 Siehe den Blog von Thomas Piketty auf lemonde.fr, „Le syndrome catalan“ vom 14. November 2017.
Aus dem Französischen von Nicola Liebert
Guillermo del Valle ist Rechtsanwalt, politischer Analyst und Geschäftsführer der Webseite El Jacobino (eljacobino.es).