12.10.2023

Mauern, Panzer, Steine

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Mauern, Panzer, Steine

Eine palästinensische Familiengeschichte

von Nathan Thrall

Abu Dis im Juli 2005, zwei Jahre nach dem Bau der Mauer ANDRIJA ILIC/picture alliance/maxppp
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Als sich Huda Dahbour im Jerusalemer Vorort Sawahre niederließ, war die Stadt noch relativ offen. Sie schickte ihre Kinder in Jerusalem zur Schule, und weil sie unter 12 waren, konnten sie sich auch ohne jeden Ausweis frei bewegen – bis die israelischen Behörden ihre Vorschriften immer mehr verschärften und von einem Tag auf den anderen die Grenze zwischen Stadt und Umland dicht machten.

Einmal wurde der Schulbus nicht durchgelassen, und die Kinder mussten zu Fuß nach Hause gehen. Huda und die Hälfte der Eltern aus ihrem Viertel suchten den ganzen Nachmittag ihre Kinder. Sie kamen erst bei Sonnenuntergang nach einem stundenlangen Marsch in Sawahre an. Nach diesem Vorfall hat Huda ihre Kinder sofort von den Jerusalemer Schulen abgemeldet.

Es war eine verhängnisvolle Entscheidung. Ihr ältester Sohn Hadi war bis dahin ein ruhiger Junge gewesen, der kaum jemals in Streit geriet. Das änderte sich an seiner neuen Schule in Abu Dis. Die palästinensische Al-Quds-Universität hat hier einen ihrer Standorte. Auf dem Campus kam es damals immer wieder zu Zusammenstößen mit dem israelischen Militär.

2003, während der zweiten Intifada (2000–2005) baute die Regierung Scharon eine Mauer mitten durch Abu Dis, das fortan von Jerusalem abgeschnitten war. Viele Ladenbesitzer mussten mangels Kundschaft ihre Geschäfte aufgeben; die Grundstückspreise fielen um mehr als die Hälfte, die Mieteinnahmen um 30 Prozent; wer es sich leisten konnte, zog aus Abu Dis weg.

Vor Hadis Schule waren israelische Soldaten postiert. Ihre ständige Präsenz war offenbar darauf angelegt, die Kinder und Jugendlichen zu provozieren, um dann möglichst viele von ihnen festnehmen zu können. Wenn sie aus dem Unterricht kamen, wurden sie von den Soldaten angehalten, mussten sich an einer Mauer aufstellen und wurden durchsucht, manchmal auch geschlagen.

Huda arbeitete als Ärztin in den Flüchtlingslagern der UNRWA und war dadurch im gesamten Westjordanland unterwegs. Sie sah Dinge, die ihr Angst machten. Sie hatte erlebt, wie ein Soldat einen Jungen erschoss, der einen Stein nach einem Panzer geworfen hatte. Die Soldaten hatten ihr verwehrt, dem am Boden liegenden Jungen zu helfen. Wenn sie nachts zu Hause in Sawahre die Nachrichten über Straßensperren und Tote in den besetzten Gebieten hörte, konnte sie nicht schlafen. Sie wusste, dass auch Hadi unter den Steinewerfern war.

Der Stress machte ihr auch körperlich zu schaffen. Es begann mit Kopfschmerzen, die ständig schlimmer wurden. Eines Tages hatte sie bei ihrer Arbeit das Gefühl, als ob ihr Kopf mit kalter Flüssigkeit gefüllt sei. Sie sah doppelt und hatte Mühe zu gehen. Als sie nach Hause kam, legte sie sich hin und wachte erst nach 24 Stunden wieder auf. Ihr war klar, dass sie in ein Koma gefallen war, was auf eine Hirnblutung hindeutete.

Sie brauchte eine Operation. Aber die palästinensischen Krankenhäuser im Westjordanland und in Ostjerusalem hatten nicht die nötige Ausstattung, und eine Behandlung in Israel konnte sie sich nicht leisten. Am Ende half die Palästinensische Autonomiebehörde. Als ihr Präsident Jassir Arafat schriftlich zusagte, die Behörde werde 90 Prozent der Kosten (50 000 Schekel; damals etwa 12 500 US-Dollar) übernehmen, wurde Huda im Hadassah-Klinikum von Jerusalem operiert.

Die Operation verlief erfolgreich, aber der Stress, der die Blutung vermutlich ausgelöst hatte, nahm zu. An einem Sonntag im Mai 2004 wurden der 15-jährige Hadi und seine Freunde von der israelischen Grenzpolizei Magav unter Feuer genommen. Im Westjordanland, also auch in Abu Dis, operiert die Magav unter dem Kommando der israelischen Armee, während sie im annektierten Ostjerusalem der Polizei untersteht.

Gegenüber der israelischen Menschenrechtsorganisation B’Tselem und der französischen Nachrichtenagentur AFP erklärten Augenzeugen, die Jungen hätten sich an keinen feindseligen Handlungen beteiligt. Hadi erzählte seiner Mutter, seine Clique sei mit sich selbst beschäftigt gewesen und habe Cola getrunken, als die Soldaten das Feuer auf sie eröffneten. Hadis Freund, der direkt neben ihm saß, wurde getroffen. Er war sofort tot.

Nach diesem Erlebnis trat Hadi den israelischen Soldaten mit neuer Entschlossenheit entgegen. Huda wusste das. Sie erkannte ihn und seine Freunde, trotz der schwarz-weißen Kufiya, die er sich vors Gesicht gebunden hatte. Aber sie hielt Abstand. Die Soldaten sollten nicht mitbekommen, dass sie seine Mutter war; sonst würden sie eines Nachts kommen und ihn verhaften.

Doch am Ende konnte sie ihren Sohn nicht schützen. Knapp ein Jahr nachdem Hadis Freund erschossen worden war, hielten israelische Jeeps und Militärfahrzeuge vor ihrem Haus. Die Soldaten kreisten das Gebäude von allen Seiten ein und hämmerten gegen die Tür. Hadi war damals 16 Jahre alt. Huda wollte das Unabwendbare hinauszögern, wenigstens für ein paar Sekunden. Sie machte erst auf, als die Soldaten begannen, die Tür mit Fußtritten zu traktieren. Als sie die Waffen auf sie richteten, fragte sie ganz ruhig, was sie wollten. Tränen liefen ihr übers Gesicht.

„Wir wollen Hadi“, sagte einer der Soldaten. Huda fragte, was man ihm vorwarf. „Ihr Sohn weiß schon, was“, sagte man ihr. „Ich bin seine Mutter, ich will es wissen.“ Keine Antwort.

Sie führte sie zu Hadis Zimmer, ihr 13-jähriger Sohn Ahmad kam mit. Ahmad sagte zu seiner Mutter, sie solle nicht weinen, das würde es für Hadi nur noch schwerer machen. Huda versuchte ihre Angst zu unterdrücken. Sie wusste, dass jeder Versuch, die Soldaten daran zu hindern, Hadi mitzunehmen, das Leben ihres Sohnes in Gefahr bringen würde. Sie malte sich aus, wie sie ihn vor ihren Augen töten und später sagen würden, es sei Selbstverteidigung gewesen.

Huda wollte Hadi umarmen, aber sie konnte nicht, sie wäre zusammengebrochen. Sie bat darum, dass er einen Wintermantel mitnehmen dürfe, es war noch kalt. Sie fragte, wo sie ihren Sohn finden könne; die Soldaten sagten, sie solle ihn am nächsten Morgen in der benachbarten Siedlung Ma’ale Adumim besuchen. Sie fesselten seine Handgelenke mit Kabelbindern, ehe sie ihn durch die Tür nach draußen und in einen ihrer Jeeps stießen. Es fühlte sich für sie an, als hätten sie mit ihm auch ihr Herz mitgenommen.

Zwei Wochen lang fuhr Huda auf der Suche nach Hadi von einer Haftanstalt zur andern: von Ma’ale Adumim zum Ofer-Gefängnis bei Ramallah, zum berüchtigten Russian Compound in Jerusalem und zum Haftzentrum Gush Etzion südlich von Bethlehem. Dank ihres UNWRA-Arbeitsausweises konnte sie Checkpoints passieren und hatte Zugang zu Siedlungen, der einem Großteil der palästinensischen Bevölkerung verwehrt ist. Aber sie konnte Hadi nirgends finden und auch nicht in Erfahrung bringen, wo man ihn festhielt.

Sie konnte nicht essen, nicht schlafen, nicht lachen, nicht einmal lächeln. Sie konnte sich nicht überwinden, Hadis Lieblingsgerichte zu kochen. Sie wollte ihr Haus nicht verlassen, wollte nirgendwo sein, wo sie gezwungen sein würde, eine normale Unterhaltung zu führen und so zu tun, als sei sie nicht in tiefster Trauer und als sei Hadi nicht verschwunden.

Huda beauftragte einen palästinensischen Anwalt, der 3000 Dollar verlangte, aber Ismail, ihr Ehemann, weigerte sich zu zahlen. Er meinte, Hadi und Huda seien selbst schuld. Warum hatte Hadi Steine geworfen, statt in der Schule zu sein? Warum hatte Huda ihn nicht davon abgehalten? Das war mehr, als Huda ertragen konnte.

Hudas Entscheidung

Huda und Ismail lernten sich in Tunis kennen. Sie hatte gerade ihr Medizinstudium an der Universität von Damaskus abgeschlossen. Ihr Vater hatte ihr geraten, sich dem Palästinensischen Roten Halbmond in Tunesien anzuschließen, wo ihr Onkel, ein hoher PLO-Funktionär, sie unter seine Fittiche nehmen könnte. Damals residierte die PLO-Zentrale in Tunis, nachdem sie im Libanonkrieg 1982 aus Beirut vertrieben worden war.

Ismail wurde in Hudas Krankenhaus wegen einer Mandelentzündung behandelt, die er aus Moskau mitgebracht hatte, wo er seine Doktorarbeit im Fachbereich Internationale Beziehungen schrieb. In Tunis hatte er an einem Treffen von Aktivisten der „General Union of Palestine Students“ (Gups) teilgenommen, zu dem er als Vorsitzender der Moskauer Gups-Sektion eingeladen war – ein Posten, der einen schnellen Aufstieg in die PLO-Führung versprach.

Ismail war fünf Jahre älter als Huda. Mit seinem struppigen, sandfarbenen Haar und seinem dicken Schnurrbart sah er aus wie der Held aus einem Actionfilm. Für Huda musste ein potenzieller Lebensgefährte drei Bedingungen erfüllen: Er musste gebildet sein; er musste der Fatah-Fraktion der PLO angehören, also eine moderate Position wie ihr eigener Vater vertreten; und er durfte sich durch eine erfolgreiche, intelligente Frau nicht bedroht fühlen, wie sie es von den meisten ihrer männlichen Bekannten kannte. Das bedeutete konkret: Er musste ihren Plan unterstützen, ihre Ausbildung zur Fachärztin fortzusetzen.

Ismail erfüllte alle drei Bedingungen. Fünf Tage nach ihrer ersten Begegnung verlobten sie sich. Dann flog Ismail zurück nach Moskau, wohin ihm Huda ein Jahr später folgte. Sie wohnten in einem Studentenwohnheim. Huda gefiel es in Moskau; sie liebte die russische Kultur und war beeindruckt, wie belesen und gebildet die Menschen waren.

Sie lernte Russisch und begann mit der Facharztausbildung für Kinderheilkunde. Doch bald wurde sie schwanger. Und erfuhr an sich eine Veränderung, die sie nicht erwartet hatte: Sie konnte den Anblick und das Schreien von Kindern, die Schmerzen hatten, nicht mehr ertragen. Huda war gerade dabei, das Fach zu wechseln, als Ismail von Arafat auf einen Diplomatenposten in Bukarest berufen wurde. Sie beriet sich mit einem ihrer Lehrer, ob sie allein in Moskau bleiben sollte, um ihre Ausbildung zu beenden. Aber der riet ihr ab: Mann und Frau seien wie Nadel und Faden: wo die Nadel hingeht, hat der Faden zu folgen.

In Bukarest musste Huda wieder von vorn anfangen, musste Rumänisch lernen und sich erneut an der medizinischen Fakultät bewerben. Sie betrachtete es aber auch als Chance und wechselte in die Endokrinologie. Ihr gefiel das logische und kritische Denken, das die Fachrichtung verlangt. Außerdem ging sie davon aus, dass sie nach der Geburt ihres Kindes auf ihrer Station keine Nachtdienste machen müsste, was ein weiterer Vorteil war.

Sie nannten ihre Tochter Hiba, was „Geschenk“ bedeutet. Doch die neue Situation zu dritt belastete ihre Ehe. Hiba war ein schwieriges Baby, weinte viel, und von Ismail erhielt Huda wenig Unterstützung oder Mitgefühl. Sie musste das Baby ganz allein versorgen, daneben studieren, Essen an mittellose palästinensische Studierende in Rumänien verteilen und Dinnerparties für Diplomaten, palästinensische Gäste und rumänische Politiker ausrichten.

Wenige Monate nach Hibas Geburt wurde Huda wieder schwanger. Nach einem Jahr voller Babygeschrei war sie mit den Nerven am Ende. In der Hoffnung, dass ihr zweites Kind anders sein würde, gab sie ihm den Namen Hadi, was „ruhig“ bedeutet. Zur Entbindung reiste sie zu Verwandten nach Syrien.

Als sie nach Bukarest zurückkam, hielt Ismail ihr vor, den Stress habe sie sich selbst zuzuschreiben, schließlich sei es ihre Entscheidung gewesen, die Ausbildung mit zwei Kleinkindern abzuschließen. Wenn sie unbedingt Fachärztin werden wolle, habe er nichts dagegen, aber er werde ihr weder im Haushalt noch bei der Kinderbetreuung helfen. Sie könne studieren, wenn sie all ihre Pflichten erledigt habe.

Irgendwie schaffte sie das alles: Rumänisch lernen, ihre Ausbildung abschließen, ihre Kinder großziehen, Gastgeberin spielen – und sogar noch ein drittes Kind zur Welt zu bringen, Ahmad. Das war 1991. Huda war zwar total erschöpft und unglücklich in ihrer Ehe, machte nach außen hin aber einen zufriedenen Eindruck – eine erfolgreiche Ärztin mit einem gut situierten Mann und drei kleinen Kindern.

Nach den Osloer Abkommen (1993 und 1995) zwischen Israel und der PLO, mit denen in Gaza und Teilen des Westjordanlands eine palästinensische Administration etabliert wurde, konnten tausende PLO-Funktionäre aus dem Exil zurückkehren. Dieses Recht hatte Huda nicht, weil sie nicht für die PLO gearbeitet hatte. Sie konnte nur in Begleitung ihres Mannes zurückkehren; doch Ismail wollte in Bukarest bleiben. Er genoss sein Diplomatenleben im „Paris des Ostens“.

Huda aber wollte unbedingt zurück. So wie sie die Israelis kannte, sagte sie sich: Wenn wir jetzt nicht gehen, werden sie uns später nicht mehr reinlassen. Trotz ihrer Eheprobleme und Ismails Weigerung, im Haushalt zu helfen, träumte sie davon, noch ein Kind auf die Welt zu bringen – auf palästinensischem Boden, von dem ihre Familie vor einem halben Jahrhundert vertrieben worden war.

Sie kamen im September 1995 an, ein Jahr bevor Israel den Zuzug für PLO-Personal stoppte. Im Jahr darauf wurde ihr viertes Kind geboren, das sie Lujain (Silber) nannte, nach der ersten Zeile ihres Lieblingslieds der legendären Fairuz. 1996 war der sogenannte Friedensprozess in vollem Schwange. Am 24. September 1995 hatten der israelische Ministerpräsident Rabin und PLO-Chef Arafat das Oslo-II-Abkommen unterzeichnet, das in den besetzten Gebieten ein Archipel von Inseln mit begrenzter palästinensischer Souveränität vorsah.

Huda hielt nicht viel von Oslo II. Rabin machte eindeutig klar, dass es nie einen Palästinenserstaat geben werde und keine Hauptstadt Jerusalem. Stattdessen sollten weitere jüdische Siedlungen in Jerusalem annektiert und neue Siedlungen im Westjordanland gebaut werden. Kurzum: Israel würde nie zu den Grenzen von 1967 zurückkehren, die bereits 78 Prozent des historischen Palästina umfassten; die übrigen 22 Prozent entfielen auf den Gazastreifen und das Westjordanland. Für die Palästinenser sollte auf diesem Gebiet – soweit es die Israelis nicht besiedelt oder annektiert oder einer permanente Militärkontrolle unterworfen hatten – ein Gebilde entstehen, das laut Rabin „less than a state“ (weniger als ein Staat) sein würde.

Für einige Israelis waren selbst diese territorialen Brosamen zu viel. Am 4. November 1995, einen Monat nachdem Huda und Ismail mit ihren Kindern im Westjordanland angekommen waren, wurde Rabin von einem jüdisch-orthodoxen Fanatiker ermordet. Jassir Arafat weinte, als ihn die Nachricht in Gaza erreichte.

Die Palästinenser:innen, die sich nach den Oslo-Regeln in den besetzten Gebieten niederließen, wurden als „Rückkehrer“ bezeichnet. Huda fand den Begriff absurd. In Syrien war sie eine Geflüchtete gewesen, in Rumänien eine Immigrantin, und nun sollte sie eine Rückkehrerin sein? Sie befand sich zwar auf palästinensischem Boden, doch sie war an einem Ort gelandet, den weder sie noch ihr Vater, ihr Onkel oder ihre Großmutter kannten.

Ismail durfte nicht in das Haus seiner Familie in Dschabal Mukaber zurückkehren, weil es im annektierten Ostjerusalem lag. So ließ sich die Familie in Sawahre nieder, unmittelbar hinter der Stadtgrenze. Dschabal Mukaber und Sawahre waren früher ein einziges Dorf gewesen. Laut Oslo II brauchten Leute aus dem östlichen Sawahre aber nun einen Passierschein, wenn sie ihre Verwandten in Dschabal Mukaber besuchen oder ihre Toten auf dem dortigen Friedhof begraben wollten. 2003 wurde die Sperrmauer mitten durch Sawahre gebaut.

Huda fühlte sich in Sawahre wie eine Fremde. Die Dörfler, mit deren Dialekt sie nicht vertraut war, kamen ihr ungehobelt vor, und gleichzeitig war es ihr peinlich, dass sie die Umgangssprache ihrer Landsleute nicht verstand. Ihre Nachbarn machten auf sie zudem einen verstockten Eindruck. Es waren Leute aus den Bergen, die so gar nichts gemein hatten mit den kosmopolitischen Städtern aus den Erzählungen ihrer Großmutter, die 1948 aus der Küstenstadt Haifa vertrieben worden waren. Aber selbst in Haifa, das sie endlich besuchen konnte, erinnerte nichts mehr an die Schilderungen ihrer Großmutter.

Huda spürte eine wachsende Distanz zu ihrer Umgebung. Die PLO-Kader, die mit Arafat zurückgekehrt waren, übernahmen die Führungsposten in der sulta, der neuen Autonomiebehörde – wohingegen die Pa­läs­ti­nen­se­r:in­nen vor Ort, die die Erste Intifada (1987–1993) angeführt hatten, leer ausgingen.

Hinzu kam, dass sich nach den Oslo-Abkommen die Lebensbedingungen für die Alteingesessenen noch weiter verschlechtert hatten. Ihre Bewegungsfreiheit wurde eingeschränkt, und sie verloren ihre Jobs, weil Israel die palästinensischen durch ausländische Arbeitskräfte ersetzte, die zumeist in Asien angeworben wurden. Ein Jahr nach Hudas Rückkehr hatte ein Drittel dieser Palästinenser keine Arbeit mehr. Im Gegensatz dazu bekam fast jeder Rückkehrer einen Posten in Arafats expandierendem Patronage-Netzwerk.

Die einfachen Leute begannen die Rückkehrer regelrecht zu hassen. Sie machten diese für Oslo verantwortlich, für die Korruption und auch die unsägliche Rolle der palästinensischen Sicherheitskräfte, denen in der Strategie der israelischen Okkupanten eine Schlüsselrolle zukam. Und dabei sackte der engere Kreis um Arafat zig Millionen Dollar an öffentlichen Geldern ein, die großenteils über Tel Aviver Bankkonten flossen. Einige PLO-Spezis bereicherten sich sogar am Bau der Siedlungen in den besetzten Gebieten.

Arafat versuchte das Thema herunterzuspielen. Einmal erzählte er im Kabinett, gerade habe ihn seine Frau angerufen und von einem Einbruch in ihrem Haus berichtet, aber er habe ihr klargemacht, das sei ausgeschlossen, weil doch alle Diebe gerade bei ihm sitzen.1 Dabei kann ihm eigentlich nicht zum Scherzen zumute gewesen sein. Arafat wusste, dass ihm die weit verbreitete Unzufriedenheit mit Oslo und dem damit verbundenen autoritären Regime gefährlich werden konnte. Als 20 prominente Figuren in einem offenen Brief der sulta „Korruption, Betrug und Despotismus“ vorwarfen, wurde mehr als die Hälfte von ihnen verhaftet, verhört oder unter Hausarrest gestellt. Einige wurden zusammengeschlagen, anderen schoss man ins Bein.

Rückkehr an einen unbekannten Ort

Besonders verstört war Huda über die Zusammenarbeit der Palästinensischen Autonomiebehörde mit dem israelischen Sicherheitsapparat. Ismail arbeitete im Innenministerium, das für die Überwachung und Festnahme von Leuten zuständig war, die weiterhin Widerstand gegen die israelische Besatzung leisteten. Und das zu diesem Zweck ein umfassendes Netz von Informanten unterhielt. Huda war entsetzt, wie viele Pa­läs­ti­nen­se­r:in­nen sich gegenseitig denunzierten. Selbst in ihrer eigenen UNRWA-Klinik gab es Spitzel, die Informationen an den israelischen Geheimdienst weitergaben, der dann bei ihnen auftauchte und das Personal verhörte.

Huda weigerte sich, ihr Verhalten zu ändern oder Selbstzensur zu üben. Ihren Beruf sah sie nach wie vor als politische Mission. Ihre Arbeit bei der UNRWA war für sie nie nur eine humanitäre, sondern auch eine patriotische Aufgabe. Wenn sie Flüchtlinge behandelte, tat sie etwas für ihr Volk.

Hadis Verhaftung führte zum Scheitern von Hudas und Ismails Ehe. Wenn Ismail sich weigerte, einen Anwalt zu bezahlen, dann verhielt er sich nicht mehr wie ein Vater. Diesen Mann wollte Huda nicht mehr in ihrem Leben haben. Sie verlangte von ihm die Scheidung, indem sie eine Stelle aus dem Koran zitierte, in der Gottesknecht al-Chidr, eine Art islamischer Heiliger2 , sich von Moses lossagt. Wenn du die Scheidung verweigerst, erklärte Huda, werde ich allen Leuten erzählen, dass du kein Patriot bist und unserem Sohn nicht helfen willst. Daraufhin willigte Ismail in die Scheidung ein.

Zwei Wochen später erfuhr sie von dem Anwalt, dass Hadi in der Haftanstalt von Gush ­Etzion saß und demnächst eine Anhörung vor dem Militärgericht im Ofer-Gefängnis stattfinden sollte. Er habe Glück, dass der Fall so schnell verhandelt würde, meinte der Anwalt. Andere Eltern würden drei, vier oder fünf Monate auf den Gerichtstermin warten und könnten ihre Kinder bis dahin nicht sehen.

Wegen der strengen Sicherheitskontrollen musste Huda am Prozesstag früh in Ofer sein. Nach mehreren Stunden Warten begann in einem beengten Raum die Verhandlung. Außer Hadi, dem Militärrichter, dem Staatsanwalt, Hadis Anwalt und einem Übersetzer waren nur noch ein paar Soldaten und Wachleute zugegen. Die Chance, dass Hadi freikommen würde, war gleich null. Die Verurteilungsquote des Militärgerichts betrug 99,7 Prozent; bei Kindern, die wegen Steinewerfen angeklagt waren, lag die Quote sogar noch höher: Von den 835 Kindern, die in den sechs Jahren nach Hadis Verhaftung vor Gericht standen, wurden 834 schuldig gesprochen. Fast alle wanderten für einige Zeit ins Gefängnis. Hunderte von ihnen waren zwischen 12 und 15 Jahre alt.

Huda hatte unmittelbar vor Verhandlungsbeginn erfahren, dass Hadi gestanden habe, Steine geworfen und Parolen gegen die Okkupation an Hauswände geschrieben zu haben. Man erlaubte ihr nicht, mit Hadi zu sprechen oder ihn zu berühren. Und drohte ihr, dass der Richter sie sonst rauswerfen würde.

Als Hadi in den Gerichtssaal kam, war er am Fußgelenk mit einem anderen Gefangenen zusammengekettet. Huda schaffte es, still zu bleiben, aber als sie ein großes Brandmal auf seinem Gesicht sah, blieb ihr fast die Luft weg. Mit Tränen in den Augen stand sie auf und verlangte – mittels des Übersetzers – die Verhandlung zu unterbrechen. Sie sei Ärztin, erklärte sie, und erkenne, dass ihre Sohn gefoltert worden sei.

Der Militärrichter blaffte sie an, sie solle den Mund halten und sich wieder setzen. Huda weigerte sich und verlangte, Hadi solle sein Hemd hochziehen und seine Hosen runterlassen, damit das Gericht sehen könne, dass man ihm sein Geständnis unter Folter abgerungen hatte.

Der Richter ließ es zu. Hadis Körper war mit blauen Flecken übersät, die offensichtlich von Schlagstöcken herrührten. Huda rief in den Saal, man solle die Soldaten, die ihn gefoltert haben, vor Gericht stellen.

Als der Richter die Verhandlung unterbrach, stürzte Huda, die brüllenden Wachleute ignorierend, auf ihren Sohn zu, umarmte ihn fest und holte so nach, was sie sich in der Nacht seiner Festnahme versagt hatte. Sie wollte ihn wärmen, bevor er wieder in der kalten Gefängniszelle eingeschlossen wurde. Der Richter bellte: Sie dürfe ihren Sohn erst wieder anfassen, wenn er aus dem Gefängnis entlassen werde.

Hadis Anwalt hatte der Familie zugeredet, sie solle jedes Angebot des Richters akzeptieren. Er selbst beantragte eine 19-monatige Gefängnisstrafe, die durch die Zahlung von 3000 Schekel, also gut 1000 Dollar, auf 16 Monate verkürzt werden könne. Es war eine mildere Strafe als diejenige, zu der einige von Hadis Freunden und Klassenkameraden verurteilt worden waren. 20 Jungs zwischen 12 und 16 Jahren waren mit Hadi verhaftet worden. Einige von ihnen hatten den ­blauen Ausweis, mit dem sie sich in Jerusalem und in ganz Israel bewegen konnten; deren Gefängnisstrafen fielen etwa doppelt so hoch aus wie die der anderen.

Das Gericht nahm den Antrag von Hadis Anwalt an, stellte allerdings eine Bedingung: Huda müsse jegliche Klage gegen die Soldaten, die ihn gefoltert haben, fallen lassen. Der Anwalt meinte, es gebe sowieso keine Chance, dass gegen die Soldaten ermittelt werde. Niemand würde gegen sie aussagen.

Hadi nahm das ausgehandelte Urteil an. Er wurde in ein weit entferntes Zeltgefängnis in der Negev-Wüste verlegt, wo Huda ihn besuchte, so oft sie konnte. Was immer sie Hadi mitbrachte, brachte sie auch für die anderen Gefangenen mit, ebenfalls Jungen im Teenageralter, die meisten von ihnen sehr arm.

Huda konnte dank ihres UNRWA-Gehalts für Hadis Freunde Dinge kaufen, die sich deren Eltern nicht leisten konnten. Sie brachte ihnen Bücher mit, damit die Jungen nicht den Mut verlören. Diese vertrauten ihr an, in welche Mädchen sie verliebt waren, und gaben ihr Reiskörner mit, auf die sie ihre Initialen gepinselt hatten. Zu einem Feiertag schenkte Huda ihnen für ihr Zelt einen Wandteppich mit einem blauen Sternenhimmel.

Huda war jedes Mal fast 24 Stunden unterwegs, um ihrem Sohn 40 Minuten gegenüberzusitzen, getrennt durch eine dicke Glaswand. Manche Gefangene durften keine Besuche von ihren Frauen, ihren Eltern und Kindern über 15 Jahren empfangen, bei anderen waren überhaupt keine Besuche erlaubt.

Man unterhielt sich durch ein kleines Loch in der Glaswand, aber die Stimmen drangen kaum durch. Physischer Kontakt war nur mit jüngeren Kindern gestattet. Huda beobachtete wiederholt, wie Mütter ihre Jungen und Mädchen, die sich dagegen sträubten, in die Arme der fremd gewordenen Väter schoben. Die Kinder heulten und die Väter weinten auch.

Die anderthalb Jahre, die Hadi im Gefängnis verbrachte, waren für Huda die härteste Zeit ihres Lebens. Und sie entdeckte ein verborgenes Universum des Leidens, mit dem fast jede palästinensische Familie in Berührung kommt. Ein gutes Jahr nach Hadis Entlassung ermittelte ein UN-Report, dass seit Beginn der Okkupation an die 700 000 Palästinenser verhaftet worden waren, das entspricht etwa 40 Prozent aller Jungen und Männer in den besetzten Gebieten.

Die Leidtragenden waren nicht nur die direkt betroffenen Familien, von denen jede einzelne um verlorene Jahre und verlorene Kindheiten trauerte. Das Leid trug die gesamte Gesellschaft, jede Mutter, jeder Vater, jede Großmutter und jeder Großvater, denn sie alle wussten oder mussten irgendwann erfahren, dass sie ihre Kinder nicht schützen konnten.

1 Über die endemische Korruption in der PLO und der Palästinensischen Autonomiebehörde siehe: David Samuels, „In a Ruined Country. How Yasir Arafat destroyed Palestine“, The Atlantic, September 2005.

2 Al-Chidr wird als Heiliger insbesondere von den muslimischen Sufis verehrt, seine Figur steht in enger Beziehung zu dem biblischen Propheten Elias.

Aus dem Englischen von Niels Kadritzke

Nathan Thrall ist Autor in Jerusalem. Seine Essays und Reportagen erschienen u.a. im New York Times Magazine und in der London Review of Books. Dieser Text ist ein Auszug aus: „A Day in the Life of Abed Salama: Anatomy of a Jerusalem Tragedy“, New York (Metropolitan Books) 2023. Wir danken dem Verlag für die Abdruckrechte.

© 2023 Nathan Thrall; für die deutsche Übersetzung LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 12.10.2023, von Nathan Thrall