12.10.2023

Die Macht des Haschd

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Die Macht des Haschd

Im Irak nehmen die paramilitärischen „Volksmobilmachungskräfte“ immer mehr Einfluss auf Politik und Wirtschaft

von Adel Bakawan

Mitglieder der Haschd asch-Scha’bī in Kerbala, September 2022 MORTEZA NIKOUBAZL/picture alliance/NurPhoto
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Am 10. Juni 2014 herrschte im Irak lähmendes Entsetzen. Mossul, die Großstadt im Norden des Landes, war in die Hände des Islamischen Staats (IS) gefallen. Armee, Antiterroreinheiten, Polizei und andere nationale Sicherheitsorgane hatten sich als unfähig erwiesen, ein paar hundert Dschihadisten aufzuhalten. Bei ihrem überstürzten Rückzug ließen sie tonnenweise Militärmaterial zurück. Es war ein na­tio­nales Drama und erzeugte ein Gefühl von Panik und Demütigung.

Drei Tage nach dem Fall von Mossul erließ Ali al-Sistani, Großajatollah in Nadschaf, dem religiösen Zentrum der irakischen Schiiten, eine Fatwa, in der er das Volk zu den Waffen rief, um sich der Offensive des sunnitischen IS entgegenzustellen. Tausende junge Männer schlossen sich den Milizen an, die überall im Land neu gegründet wurden.

Ein Eintritt in die Armee kam für die meisten Freiwilligen nicht infrage, denn die hatte jede Glaubwürdigkeit verloren. Um die Kontrolle über die Bewegung zu behalten, schuf die Regierung in Bagdad die Dachorganisation „al-Haschd asch-Scha’bī“ (Volksmobilmachung). Diese hatte die Aufgabe, die Milizen zusammenzuführen, zu organisieren und zu lenken. So entstand „der Haschd“, den manche Politiker bald als „neue republikanische Garde“ bezeichneten – eine Referenz an die Eliteeinheit von Ex-Diktator Saddam Hussein.

Damals half der Haschd bei der Zerschlagung des IS – heute beschränken sich die unter seinem Banner vereinten Milizen nicht mehr darauf, den IS oder Gruppen, die sich auf ihn berufen, zu bekämpfen.1 Er beherrscht praktisch das politische Leben des Irak. Laut Haushaltsplan der irakischen Regierung vom Juli 2023 gehören ihm ak­tuell 238 075 Männer an (2021 waren es noch 122 000), 6 Prozent aller Staatsbediensteten. Sie erhalten Löhne von umgerechnet 2,5 Milliarden Euro (1,8 Prozent des Budgets). Zum Vergleich: Die Armee hat 454 000 Angehörige und das Innenministerium 700 000.

Um zu verstehen, wie das Bündnis ein solches Gewicht bekommen konnte, muss man einen Blick auf die Entwicklung des Irak nach Saddam Hussein werfen.

Für diejenigen, die nach dem Sturz des Diktators am 9. April 2003 an die Macht gekommen sind, bedeutet der Haschd inzwischen eine Überlebensgarantie, vergleichbar der Islamischen Revolutionsgarde in Iran. Seine anfängliche Aufgabe, die Dschihadisten zu bekämpfen, genügte nicht, um aus ihm eine Institution zum Schutz des Re­gimes zu machen. Es musste erst ein juristischer Rahmen geschaffen werden, um seinen Einfluss und seine Aktionen zu legitimieren.

Am 26. November 2016 verabschiedete das Parlament ein Gesetz, mit dem der Haschd zum offiziellen Staats­organ wurde, das dem Ministerpräsidenten als Oberkommandierenden untersteht. Allerdings existiert diese Führung nur auf dem Papier, denn die nunmehr institutionalisierte paramilitärische Organisation entzieht sich de facto jeder Regierungskontrolle.

Im Irak gibt es einen beträchtlichen Unterschied zwischen dem Regime – der realen Macht – und der Regierung. Das Regime wurde Mitte der 2000er Jahre von proiranischen Gruppen nach iranischem Vorbild geschaffen. Es beruht auf der Vormachtstellung des Schiismus, funktioniert nach seinen eigenen Regeln und Strategien und erkennt weder Kurden noch Sunniten als Partner an, mit denen eine nationale Einheit geschaffen werden könnte.

Die Regierung dient als Fassade und hat nur einen marginalen Einfluss. Das Regime gestattet durch die Organisation von Parlamentswahlen Regierungswechsel in engem Rahmen und die Bildung neuer Regierungen, ja duldet sogar den Wettbewerb zwischen Parteien, solange seine Macht nicht infrage gestellt wird.

Aufgrund dieser Konstellation können Konflikte zwischen dem Haschd oder einer seiner Fraktionen und der Regierung leicht eskalieren. So geschehen in der Nacht vom 5. zum 6. November 2021, als mitten in der Grünen Zone, dem Hochsicherheitsviertel der Hauptstadt, die Residenz von Premierminister Mustafa al-Kadhimi mit Drohnen angegriffen wurde. Der Premier entging dem Anschlag, aber viele Iraker sahen die Hand des Haschd hinter dem Attentat.

Al-Kadhimi war beschuldigt worden, an der Ermordung des iranischen Generals Qasim Soleimani, Kommandant der Quds-Einheit, und Abu Mahdi al-Muhandis, Anführer der Iran nahestehenden Miliz Kataib Hisbollah (Bataillone der Partei Gottes) und starker Mann des Haschd, beteiligt gewesen zu sein. Die beiden wurden am 3. Januar 2020 durch einen US-Raketenangriff am Bagdader Flughafen getötet. Al-Kadhimi wurde zudem vorgeworfen, er wolle sich international Gewicht verschaffen, um die radikalsten proiranischen Gruppen des Regimes isolieren und den politischen Einfluss der Milizen einschränken zu können.

Der Haschd ist keine homogene Einheit. Er teilt sich in drei größere Fraktionen, deren Interessen sich zuweilen entgegenstehen. Die erste orien­tiert sich ideologisch an Iran, sie dominiert derzeit das Bündnis. Die zweite beruft sich auf die marja’iyya von Na­dschaf, also auf eine religiöse Autorität, die durch Großajatollah al-Sistani verkörpert wird. Der dritte Zweig schließlich folgt in seiner politischen Orientierung dem irakischen Nationalismus und steht hinter dem politischen und religiösen Führer Muqtada al-Sadr.

Nach der Niederlage des IS haben die letzten beiden Strömungen unterschiedliche Wege eingeschlagen. Die Anhänger al-Sistanis wurden in die irakische Armee eingegliedert, während al-Sadrs „Friedenskompanien“ (Saraya al-Salam, früher Mahdi-Armee) Mitglieder des Haschd blieben und von dessen finanziellen Mitteln profitierten. Im Lauf der Zeit haben sich al-Sadrs paramilitärische Einheiten auch von der proiranischen Strömung abgegrenzt und dieser die faktische Kontrolle des Haschd überlassen.

Neben diesen drei großen Gliederungen gibt es kleinere bewaffnete Gruppen, Sunniten oder Angehörige von Minderheiten (Christen, Jesiden, Schabak). Diese verbünden sich je nach Interesse mit einer der Hauptgruppen, meist mit der mächtigen proiranischen Fraktion.

Der Einfluss des Haschd wuchs auch dadurch, dass die Milizen zivile Ableger gründeten, die das politische Leben des Landes nun mitbestimmen. Sie entsandten Vertreter ins Parlament, erhielten Regierungsposten und staatliche Mittel, so dass ihr Einfluss immer weiter wuchs. Seit 2018 kamen die Listen, die mit den Milizen verbunden sind, bei den Parlamentswahlen stets auf den ersten und zweiten Platz.

Iranische Revolutionsgarden als Vorbild

Bei den Wahlen vom Mai 2018 erhielt al-Sadrs Liste 54 der 329 Sitze. Auf den zweiten Platz kam mit 48 Sitzen die Liste von Hadi al-Amiri, der Teheran nahesteht und von der Badr-Miliz (benannt nach einem militärischen Sieg des Propheten Mohammed), der Asa’ib Ahl al-Haqq (Liga der Rechtschaffenen) sowie den Kataib Hisbollah unterstützt wird. Die Liste des vom Westen und von den Golfstaaten unterstützten Ministerpräsidenten Haider al-Abadi kam mit 42 Sitzen nur auf den dritten Platz.

2021 stand erneut al-Sadrs Liste mit 73 Sitzen an der Spitze. Al-Amiris Fatah-Allianz kam zwar nur auf 17 Sitze, doch addiert man die Mandate hinzu, die die Liste des früheren Premiers Nuri al-Maliki, der ebenfalls Iran nahesteht, gewinnen konnte, kommt man auf 51 Sitze. Das zeigt, das die von den Haschd-Milizen unterstützten Kräfte auch das parlamentarische Leben des Irak bestimmen.2

Der Haschd verfügt mittlerweile über ein beträchtliches staatliches Budget. Aber er strebt nach dem Vorbild der iranischen Revolutionsgarden auch danach, ökonomisch unabhängig zu werden. Im November 2022 genehmigte ihm die Regierung die Gründung eines Unternehmens, das auf staatliche Aufträge in diversen Branchen spezialisiert ist und nach dem Kataib-Hisbollah-Gründer al-Muhandis („der Inge­nieur“) benannt ist.

Der Irak steckt mitten im Wiederaufbau, und der Staat ist der größte Auftraggeber für Infrastrukturprojekte. Der Haschd kann über sein Unternehmen, das zunächst mit einem Kapital von umgerechnet 65 Millionen Euro ausgestattet wurde, Verträge unterzeichnen und große finanzielle Ressourcen mobilisieren. Damit wappnet er sich gegen möglichen Druck seitens einer künftigen Regierung, die ihm feindlich gesinnt wäre.

Die Milizen des Haschd profitieren außerdem von illegalen Zöllen auf Waren, die in den Irak importiert werden. An allen fünf offiziellen Grenzübergängen zu Iran sind sie präsent und kassieren ihren Obulus, ebenso am Grenzposten zur Türkei und am einzigen Tiefwasserhafen des Landes Umm Qasr. Im Gegenzug helfen sie den Transporteuren, die langsame Bürokratie zu umgehen. Im März 2021 gab der irakische Finanzminister zu, dass seine Behörden nur 10 bis 12 Prozent der eigentlich fälligen Importsteuern einnehmen.

Der illegale Im- und Export von Erdöl und anderen Produkten ist eine weitere wichtige Einnahmequelle für die Milizen im Irak. Am 15. Juli 2022 meldete die Nationale Sicherheitsbehörde, sie habe in den vorangegangenen Monaten mehr als 1 Million Liter geschmuggelter Erdölprodukte beschlagnahmt. Zwei Monate zuvor hatte die Iraqi National Petroleum Products Company den Umfang des Erdölschmuggels allerdings auf 7 Millionen Liter täglich geschätzt, das entspricht etwa der Hälfte der gesamten Tagesproduktion des Landes. Zwischen 2017 und 2019 sollen dem Staat durch diesen Schmuggel 2 Milliarden Dollar an Einnahmen entgangen sein.

Im Lauf der Jahre hat sich der Haschd immer tiefer verwurzelt und seinen Einfluss verstärkt. Die im Westen verbreitete Wahrnehmung, es handle sich lediglich um eine Koa­li­tion von Milizen, trifft immer weniger zu. Die Organisation verfügt über eine gesellschaftliche Basis, einen bewaffneten Arm, politische Vertreter und viel Geld. Je mehr Zeit vergeht, desto schwerer wird es sein, ihren politischen Einfluss wieder zurückzudrängen, geschweige denn ihn ganz zu beenden.

1 Siehe Laurent Perpigna Iban, „Angriff bei Nacht“, LMd, Dezember 2021.

2 Siehe auch Laurent Perpigna Iban, „Irak – Schiiten gegen Sunniten“, LMd, Dezember 2022.

Aus dem Französischen von Claudia Steinitz

Adel Bakawan ist der Direktor des Centre français de recherche sur l’Irak (CFRI).

Was will al-Sadr?

Der einflussreiche Geistliche und Politiker Muqtada al-Sadr überrascht immer wieder mit seinen Aktionen. Er steht an der Spitze einer der mächtigsten Milizen des Iraks, der Saraya al-Salam („Friedenskompanien“) und einer nationalistischen politischen Strömung, die als stärkste Kraft aus den Parlamentswahlen von 2018 und 2021 hervorging.

Der Sohn des 1999 in Nadschaf vom Hussein-Regime ermordeten Großajatollahs Mohammad Sadek al-Sadr widersetzt sich gleichermaßen dem Einfluss Irans wie der USA und schreckt auch vor einem Bündnis mit den irakischen Kommunisten nicht zurück.

Im August 2022, auf dem Gipfel seiner Macht, befahl er zur allgemeinen Überraschung seinen 73 Abgeordneten zurückzutreten und verkündete seinen Rückzug aus der Politik. Diese Entscheidung führte zu Auseinandersetzungen zwischen seinen Anhängern und der regulären Armee in Bagdad mit mehreren Dutzend Toten und hunderten Verletzten.

Am 14. April 2023 ließ er erklären, er werde „mindestens für ein Jahr“ den Großteil der Aktivitäten seiner Bewegung einstellen. Ein echter Rückzug oder politisches Manöver? Mit jeder neuen Ankündigung al-Sadrs wird deutlicher, dass ohne seine Organisation Vakuum und Chaos drohen. Das zwingt die Regierung und seine Konkurrenten im schiitischen Lager, ihm Zugeständnisse zu machen, die seinen Einfluss auf das politische Leben des Irak verstärken.

Zuletzt haben seine Anhänger am 20. Juli aus Empörung über die Koranverbrennungen in Stockholm die schwedische Botschaft in Bagdad angezündet. Die irakische Regierung hat den Angriff zwar verurteilt, aber sogleich die Ausweisung der schwedischen Botschafterin angeordnet, damit al-Sadr nicht als einziger Verteidiger des Islam dasteht.

⇥Akram Belkaïd

Le Monde diplomatique vom 12.10.2023, von Adel Bakawan