12.10.2023

Boom und Chaos

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Boom und Chaos

Das ungeregelte Wachstum der kambodschanischen Hauptstadt Phnom Penh

von Christine Chaumeau

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Yen Yat ist erleichtert: Ihr Baum wird überleben. Die Mitarbeiter des Straßenbauamts haben ihr versichert, dass bei der beidseitigen Fahrbahnverbreiterung die Wurzeln ihrer zweihundert Jahre alten Akazie (chan) nicht beschädigt würden. Die 60-Jährige sitzt im Schatten seiner Krone auf einem kantok – einem traditionellen Bambushocker – und beobachtet das Treiben im Hof. Vier Familien wohnen hier.

In Srok Chek, am Stadtrand von Phnom Penh, bestimmen nach wie vor Häuser mit Garten das Bild. Yen Yat zeigt auf das „Zu verkaufen“-Schild auf dem Grundstück gegenüber. Die 1328 Quadratmeter große Parzelle wird für umgerechnet 570 000 Euro angeboten. Das sind 430 Euro pro Quadratmeter. Kein Vergleich zu den 4700 Euro, die im Stadtzentrum verlangt werden.

„Neulich kam jemand her und bot mir eine Million Dollar für mein Haus“, erzählt Yen Yat mit einem Lächeln. „Aber wo soll ich dann hin?“ Die umliegenden Reisfelder sind verschwunden. Das nahegelegene Feuchtgebiet ­Tompun-Choeung Ek, das wie eine große natürliche Kläranlage funktioniert und während der Regenzeit immense Wassermengen aufnimmt, wird Stück für Stück zugeschüttet.

Die Leute von Srok Chek, die früher von der Landwirtschaft und vom Fischfang lebten, müssen sich umorientieren. Yen Yats Familie verkauft Getränke und Lebensmittel an einer Bude. Ihre Kundschaft sind die Bauarbeiter, die in der Nähe beschäftigt sind. „Die Stadt frisst sich Schritt für Schritt bis zu uns durch“, sagt Yen Yats Nichte.

2005 umfasste Phnom Penh vier Stadtbezirke mit insgesamt 1,6 Mil­lio­nen Einwohnern. Laut der jüngsten Volkszählung sind es heute 14 Bezirke mit 2,1 Millionen Menschen, verteilt auf einer Fläche von 692 Quadratkilometer. Viele ziehen zum Studieren in die Hauptstadt oder zum Arbeiten. Das Pro-Kopf-Einkommen ist hier doppelt so hoch wie auf dem Land: 903 000 ­Riel (ungefähr 200 Euro) gegenüber 452 000 Riel.1

Wie eine Krake streckt die Stadt ihre Tentakel immer weiter in alle Richtungen aus – und wächst auch über die Deiche hinaus, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts zum Schutz vor den Wassermassen des Mekong aufgeschüttet wurden. Und überall arbeitet sich die Skyline in die Höhe. Bis 2014 war der sechs Jahre zuvor eingeweihte Büro­turm der Canadia Bank mit seinen 32 Stockwerken das höchste Gebäude der Stadt. Bereits zwei Jahre später machten etliche Neubauten dem Bankgebäude Konkurrenz.

Eine Ausnahme bildet lediglich die zentrale Gegend an den Ufern des Tonle Sap, mit ihren fast unversehrt erhaltenen historischen Baudenkmälern. Hier befinden sich das alte Postamt, der Tempel Wat Phnom, der Königspalast und der Hauptmarkt. Die Holzhäuser von Boeng Keng Kang mitsamt ihren Gärten hingegen verschwinden eins ums andere und werden durch Hotels und immer teurere Apartmentkomplexe ersetzt. In die Ladenflächen ziehen Cafés und schicke Läden.

Das Olympiastadion, Symbol der Urbanisierung Phnom Penhs, die König Norodom Sihanouk (1922–2012) nach der Unabhängigkeit 1953 vorantrieb, verschwindet inzwischen im Schatten des 35-Etagen-Zwillingsturms Sky Villa und der Olympia City, eines weiteren Büro- und Wohnkomplexes der Luxusklasse. Beide liegen direkt am Stadiongelände und verstellen den Blick auf die alte Arena. Sie entstand zwischen 1962 und 1964 und ist ein Werk des Le-Corbusier-Schülers Vann Molyvann, eines Vordenkers der neuen Khmer-Architektur. Das Stadion, das mit dem Denkmal der Unabhängigkeit eine Achse bildet, bleibt erhalten, schließlich ist es ein Monument der Vergangenheit; aber die hohen Luxuswohntürme, die für das Kambodscha der Zukunft stehen, lassen es deutlich kleiner wirken.

Der Erbauer des neuen Phnom Penh heißt Hun Sen. Wie einst König Sihanouk hat auch er dem Stadtbild seinen Stempel aufgeprägt. Er war erst stellvertretender Kommandeur eines Regiments der Roten Khmer, floh jedoch 1977 nach Vietnam. Dann kehrte er mit den vietnamesischen Truppen aus Hanoi zurück, die Pol Pot und sein Regime zu Fall brachten. 1985 wurde er mit 34 Jahren zum Premierminister ernannt und blieb bis Juli 2023 im Amt.

„Mit seinem Pragmatismus hat er alle historischen Phasen durchgestanden“, erklärt der Politologe Virak Ou, Direktor des kambodschanischen Thinktanks Future Forum. Während des Kalten Krieges war Hun Sen Chef der provietnamesischen Regierung. Als er Anfang der 1990er Jahre die von den Vereinten Nationen organisierten Wahlen verlor, hielt er sich mit brutalen Methoden an der Macht, schaltete alle politischen Konkurrenten aus und drängte König Norodom Sihamoni, der 2004 auf König Sihanouk folgte, ins Abseits.2

Nach dem Willen des 71-jährigen Autokraten soll die Stadt Phnom Penh das Abbild seiner Erfolge sein: Er hat die Diktatur der Roten Khmer besiegt, Frieden geschaffen und dafür gesorgt, dass das Land sich weiterentwickelt. Mit einem Bruttoinlandsprodukt pro Kopf von 1612 Dollar (2021) ist das Land aus der Gruppe der laut Weltbank ärmsten Länder in die Riege der Länder mit niedrigem mittleren Einkommen aufgestiegen.

2017 wurde der fast 10 Kilometer lange und 60 Meter breite Hun-Sen-Boulevard fertiggestellt. Auch der Name des im Bau befindliche Mega-Airports, Techo Takhmao, dessen Eröffnung für 2025 geplant ist und der nach Aussage der kambodschanischen Regierung der größte der Region sein wird, ist eine Hommage an den ehemaligen Premierminister, der den Ehrentitel „Techo“ (auf Deutsch stark, mächtig) seit 2007 trägt.

Einer der repräsentativen Bauten im Stadtzentrum ist der Palast des Friedens, in dem der einstige Premierminister ausländische Delegationen auf einem mit Gold eingefassten Thron empfing. Am Norodom-Boulevard wird am 6. November das neue Gebäude des Innenministeriums von der Architektin Malika Keo eingeweiht, das „hundert Jahre stehen wird“. Kostenpunkt: 60 Millionen US-Dollar.

Ähnlich imposant wie das neue Ministerium ist auch die Parteizentrale der Kambodschanischen Volkspartei (PPC), die gerade für 30 Millionen US-Dollar renoviert wird. Die ehemals kommunistische Partei gehört heute der Christlich Demokratischen Internationalen an, in der auch die CDU Mitglied ist, und lässt sich vor allem von Wirtschaftsinteressen leiten. Nach dem Selbstverständnis der PPC führt kein Weg an ihr vorbei – und ihre Zen­trale soll das auch in der Architektur demonstrieren.

In einer Rede am 31. Januar 2022 verwies Hun Sen stolz auf die unter seiner Regierung entstandenen 1600 Neubauten: „Am 7. Januar 1979 gab es bei uns nur Siebengeschosser. Heute gibt es etliche Gebäude mit 50 Etagen.“ An jenem 7. Januar wurde das Regime der Roten Khmer gestürzt.

Gegen Ende der 2000er Jahre gab das Interesse ausländischer Investoren an Kambodscha den Ambitionen des Autokraten neue Nahrung. Das Wirtschaftswachstum, das zwischen 2009 und 2019 bei durchschnittlich 7 Prozent lag, geringe Bau- und Grundstückskosten sowie lockere städtebauliche Regularien zogen zuerst den indonesischen Ciputra-Konzern an. Dieser investierte 600 Millionen US-Dollar in die Satellitenstadt Grand Phnom Penh International City.

Im Anschluss startete die Regierung zusammen mit einem südkoreanischen Konsortium das Projekt „Camko City“: 119 Hektar Baufläche, 2 Milliarden US-Dollar Baukosten, 15 Jahre Realisierungszeit. Als die Busan Savings Bank, die das Vorhaben finanzierte, pleiteging, kam der Bau ins Stocken, und 38 000 südkoreanische Sparer hatten das Nachsehen.3 Doch Investoren aus Singapur, Japan und stehen schon vor der Tür.

Die Leute aus dem Dunstkreis des ehemaligen Premierministers und hohe Kader der PPC, die durch – häufig illegalen – Holz- oder Edelsteinhandel oder die Aneignung von Grundbesitz reich geworden sind, drängen in den Immobiliensektor, um dort ihr Geld zu waschen. „Hier wird Kapitalismus als Vetternwirtschaft betrieben. Korrupte Seilschaften sitzen in allen Bereichen der Verwaltung“, konstatiert Gabriel Fauveaud von der Universität Mont­real. Im Ranking von Transparency International belegt Kambodscha Platz 150 von 180.

Zusätzlich angetrieben wird die Bodenspekulation durch die Mittelschicht. Sie sieht darin die einzige zuverlässige Möglichkeit, sich für Alter oder Krankheit finanziell abzusichern. Manche haben mit dem Kauf und Weiterverkauf von Grund und Boden ein kleines Vermögen zusammengebracht. Wertvoll ist dabei das Grundstück und nicht, was darauf steht. Am Stadtrand von Phnom Penh gab es in den 1990er Jahren, als der Friedensprozess begann, entlang der großen Verkehrsachsen lauter eingezäunte Flächen. In Erwartung weiterhin steigender Preise blieben sie unbebaut.

Der Bauunternehmer Sothy erzählt: „Wenn ich meiner Mutter vorhalte, das auch sie seit 30 Jahren an der Spekulationsschraube dreht, gibt sie zurück: ‚Wie hätte ich dir sonst dein Studium im Ausland finanzieren sollen?‘ “ Laut Gabriel Fauveaud haben sich die realen Grundstücks- und Wohnungspreise innerhalb von 20 Jahren verdreifacht. „Am Stadtrand kostete in den 1990er Jahren ein Quadratmeter 30 oder 40 Dollar; heute sind es mehrere hundert, wenn nicht tausende Dollar.“4

Von der hemmungslosen Urbanisierung profitieren heimische Konsortien, die allesamt dem früheren Premier­minister nahestehen. Seit Beginn der 2010er Jahre wurden ihnen mehr als 8000 Hektar zugeschanzt – das sind 12 Prozent der Stadtfläche von Phnom Penh. Bei der Gestaltung der Flächen haben sie freie Hand. Dieses großzügigen Entgegenkommen rechtfertigen die städtischen Behörden mit den „dadurch entstehenden Einsparungsmöglichkeiten“. Für Hun Sen ist es eine Möglichkeit, weiter den großen Organisator zu spielen. Denn welche Flächen den okhnas – so nennt man die dem Regime nahestehenden Geschäftsleute – zugeteilt werden, entscheidet er.

So wurden 30 Kilometer nördlich der historischen Altstadt, auf der Halbinsel Chroy Changvar zwischen den Flüssen Tonle Sap und Mekong, 1300 Hektar Land dem dubiosen Geschäftsmann und Senator Ly Yong Phat überlassen, einem persönlichen Berater des ehemaligen Premierministers.5 Nach und nach entstehen dort ein Golfplatz, ein Zoo, Hotels, Einkaufszentren und Wohnungen der Luxusklasse. Zwei Monumentalbauten prägen das Viertel: das Morodok Techo Stadion mit 60 000 Plätzen, ein Geschenk Chinas an Kambodscha zu den Südostasienspielen (SEA Games), die hier im Mai 2023 ausgetragen wurden; und direkt gegenüber das 2018 enthüllte Win-Win Memorial.

Das Denkmal vermischt architektonische Elemente aus der Angkor-Zeit mit sozialistischem Brutalismus. Es ist der sogenannten Win-win-Politik von Hun Sen gewidmet, die nach fast 30 Jahren Bürgerkrieg in den 1990er Jahren darauf setzte, ehemalige Rote Khmer in die Gesellschaft zu re­in­te­grie­ren, um den Frieden dauerhaft zu sichern. Auf den Reliefs ist Hun Sen stets größer dargestellt als alle anderen Figuren. Wie einst die baufreudigen Angkor-Könige strickt auch er an seiner eigenen Legende, glorifiziert seinen politischen Weitblick und seine Erfolge, indem er sie in Stein hauen lässt.

Wie zu Sihanouks Zeiten wurden also ein Denkmal und ein Stadion errichtet, um ein neues nationales Narrativ zu begründen. Die Satellitenstadt von Ly Yong Phat, die rund um die beiden Bauwerke entsteht, soll dazu eine neue Vision Kambodschas Wirklichkeit werden lassen, die vor allem auf die Mittelschicht ausgerichtet ist.

Die 30-jährige Phally ist bei einer NGO angestellt und hat Ly Yong Phat als Wohnort für sich und ihre Familie ausgesucht. Noch ist ihre Villa einige Kilometer nördlich des Stadions eine Baustelle. „Wir haben uns ein Stück Glück gekauft“, witzelt sie. „Jedenfalls versprechen das die Werbeplakate.“ Und erzählt begeistert, dass sich der Wert ihres Grundstücks innerhalb eines Jahres bereits verdoppelt hat.

Vor allem aber, sagt sie, werde sie unter ihresgleichen wohnen und nicht mehr Tür an Tür mit Arbeitern oder Tuk-Tuk-Fahrern. Phally sieht es als Zeichen ihres sozialen Aufstiegs, sich in die Mittelschicht einreihen zu können, in die Ränge derer, die seit den 2000er Jahren scharenweise in die borey ziehen, wie die Gated Communities am Stadtrand genannt werden.

Die mit Videokameras und Wachpersonal gesicherten Borey tragen hochtrabende Namen wie „Win Win“ oder „Elite“. Eine der exklusivsten Gated Communities liegt im Süden der Stadt: Peng Huoth Star Platinum. Zu ihren Attraktionen gehört der Euro Park mit dem Tower of London, dem Eiffelturm und einem venezianischen Kanal samt Gondeln in Miniatur. Wer hier wohnt, verlässt sein Viertel gar nicht oder nur selten, denn hier gibt es alles: Schulen, Geschäfte, Fitnessstudios, Res­taurants. Man hat hier seine Kontakte und bleibt unter sich.

„Die Borey sind Auswüchse, abgekoppelt vom Stadtgefüge“, meint der Architekt Virak, der nicht mit seinem richtigen Namen genannt werden will. Wenn eine geplante Wohnanlage zum Beispiel einem Entwässerungskanal ins Gehege kommt, müssen die städtischen Behörden für die Umleitung der Kanalisation sorgen – mit der Gefahr, dass die Abwässer schlechter abfließen. Laut Gabriel Fauveaud führt das „zu absurden Situationen, mit denen die Techniker der Stadtverwaltung dann zurechtkommen müssen. Die staatlichen Stellen sind nicht in der Position, dass sie mit privaten Akteuren verhandeln könnten. Der Staat ist grundsätzlich nur dafür da, die privaten Initiativen nicht zu behindern.“

Trotz des 2015 beschlossenen und auf 20 Jahre angelegten Flächennutzungsplans richtet die Stadtentwicklung sich nach den Interessen der Okh­nas – Fauveaud spricht von „Schatten-Stadtplanung“. „Einen Stadtplan von Phnom Penh auf dem neuesten Stand zu halten, ist ein Ding der Unmöglichkeit“, meint Jules, ein westlicher Architekt, der ebenfalls anonym bleiben will. Überall wird gebaut und die Behördenmitarbeiter im Rathaus kommen nicht hinterher. Wie Lego-Burgen wachsen die Stadtviertel aus dem Boden, nach privaten Projektvorgaben und mit großen Brachflächen zwischen den einzelnen Quartieren – von städtebaulicher Kohärenz keine Spur.

Narrenfreiheit für Immobilienentwickler

Die meisten Hochhäuser im Stadtzentrum sind komplett unbewohnt. Der Wohnungskauf dient allein der Kapitalanlage. Für reiche Kam­bo­dscha­ne­r:in­nen, aber auch für die chinesische Kundschaft, die sich im Gefolge der „Neue Seidenstraße“ in ­Phnom Penh umtut. „Vor der Pandemie haben Reiseveranstalter extra Reisen für diese Kaufinteressenten organisiert“, erinnert sich Fauveaud.

Khuong Sreng, Gouverneur der Hauptstadt, gab 2019 zu bedenken: „Um seinen Reiz als grüne Stadt und das Image als Perle Südostasiens zu wahren, braucht Phnom Penh Pläne und Instrumente für eine nachhaltige Stadtentwicklung und muss sich durch Prävention und Risikomanagement vor den natürlichen Gefahren schützen, denen wir ausgesetzt sind.“6 Doch auf Investitionsprogramme mit einer Projektfläche von mehr als 3000 Quadratmetern hat die Stadt keinen Einfluss, weil sie über kein eigenes Budget verfügt. Alle Entscheidungen fallen im Ministerium für Stadtplanung, im Ministerrat oder direkt im Amt des Premierministers.

Die „Schatten-Stadtplanung“ schert sich nicht um die Bedürfnisse der Be­woh­ne­r:in­nen oder die Gefahren, die mit der Klimakrise einhergehen. Das städtische Planungsamt hatte empfohlen, mindestens 500 Hektar des Seen- und Sumpfgebiets Tompun/­Choeung Ek im Süden Phnom Penhs zu erhalten, um Überschwemmungen zu verhindern und der Stadt, die mittlerweile zu einer Hitzeinsel geworden ist, wenigstens etwas Abkühlung zu verschaffen. Doch der private Bauträger trieb die Zuschüttung der Seen weiter voran.

Der Bericht „Smoke on the water“7 , den eine Gruppe von NGOs im Juli 2020 erstellt hat, warnte vor der Überschwemmungsgefahr in Stadtvierteln, in denen mehr als 1,5 Millionen Menschen leben. Die kambodschanische Hauptstadt liegt unter dem Hochwasserspiegel der Flüsse Mekong und Tonle Sap. Während der Monsunzeit wird der Abfluss über ein Kanal-, Pump- und Schleusensystem geregelt, das instandgehalten werden muss.

Die Be­woh­ne­r:in­nen Phnom Penhs produzieren jeden Tag rund 3000 Tonnen Müll, der allerdings nur unregelmäßig abgeholt wird. Auch die Kanalisation funktioniert nicht überall einwandfrei und das Abwasser mischt sich mit dem Regenwasser. Die Stadtverwaltung hat mit dem Bau eines Systems für die Abwassersammlung und -aufbereitung begonnen und bekommt dabei Unterstützung von der Japanischen Agentur für internationale Zusammenarbeit (JICA). Doch ein Problem bleibt das Management. In den abgelegenen Wohnquartieren ist auch die Wasserversorgung nach wie vor unregelmäßig. Die Kapazität des Trinkwassernetzes konnte mit der Expan­sion der Stadt nicht Schritt halten. Auch Stromausfälle kommen häufig vor, und in der warmen Jahreszeit ist die Luft in den Wohnungen extrem stickig.

„Im Immobiliensektor werden Milliarden verdient, aber wer profitiert davon?“, sorgt sich Ses Aronsakada, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Future Forum. „Singapur hat ebenfalls seine Seen zugeschüttet und musste später künstliche anlegen. Aber haben wir dafür die Mittel? Wir sollten nicht dieselben Fehler machen wie unsere weiterentwickelten Nachbarländer.“ Ist es womöglich schon zu spät?

Nach zehn Jahren ungebremster Urbanisierung müsse man auf die Bremse treten, räumt auch Thierry Tea ein, Vizepräsident der Overseas Cambo­dian Investment Corporation (OCIC), eines großen privaten Immobilien- und Stadtentwicklungsunternehmens. „Die Aufbaugeneration hat noch den Krieg erlebt. Sie musste Tempo machen, den Rückstand zu unseren Nachbarländern aufholen. Jetzt übernimmt eine neue Generation, das wird die Dinge verändern.“ (siehe Kasten)

Doch von welcher Vision für die Hauptstadt werden sich diejenigen leiten lassen, die jetzt ans Ruder kommen? Pandemie, Ukrainekrieg und hohe Zinsen haben die Euphorie gedämpft. Die chinesische Kundschaft hat sich zurückgezogen. Die Eigentumswohnungen im Stadtzentrum finden keine Abnehmer mehr. Die Spekulanten fürchten, dass sie ihr Geld verlieren könnten. Auf den Baustellen herrscht Flaute. Im April kündigte die Regierung ein Hilfspaket an für die Immobilien- und Bauwirtschaft, die mehr als 200 000 Menschen beschäftigt und 10 Prozent des Wirtschaftswachstums ausmacht.

Bauunternehmer Sothy findet es gut, dass der überhitzte Motor eine kalte Dusche bekommt: „Wir werden bauen müssen – aber nicht, um viel Geld zu verdienen, sondern für die Menschen.“ Auch Ses Aronsakada glaubt daran, dass sich etwas verändert: „Vor fünf Jahren gab es kein anderes Gesprächsthema als Grundstücksgrößen und Qua­drat­meterpreise. Meinem Eindruck nach achtet die Mittelschicht neuerdings mehr auf Lebensqualität.“

Ses träumt von einer Stadtentwicklung, die sich stärker an den Menschen orientiert, und regt unter anderem an, die Uferwege am Tonle Sap in Fuß- und Radwege umzuwandeln. Am Abend kommen die Leute gern hierher, überqueren den Fluss und bewundern übers Wasser hinweg ihre sich wandelnde Stadt. Die Frage ist nur: Wie lange wird ihre werdende Mega­city noch lebenswert bleiben?

1 „Final report of Cambodia socio economic survey 2021“, Amt für Statistik, Phnom Penh.

2 Siehe „König von Kambodscha“, LMd, Juli 2018.

3 Yoon Young-sil „S. Korea Seeking to Retrieve 650 Bil. Won Loans Locked in Camko City Project“, Business Korea, Seoul, 27. September 2019.

4 Gabriel Fauveaud, „Géographies de la spécula­tion et urbanisation du capital dans le sud global: une pers­pec­tive à partir de Phnom Penh au Kambodscha“, in: An­nales de Géographie, Nr. 746, Paris (Armand Collin) 2022.

5 Clothilde Le Coz, „The canes of wrath“, South East Asia Globe, Phnom Penh, 10. Mai 2013.

6 „Phnom Penh, extensions et mutations“, gemeinsam herausgegeben von der Gemeinde Phnom Penh und der Stadt Paris, Atelier parisien d’urbanisme (Apur), Mai 2019, apur.org.

7 „Smoke on the water: A social and human rights impact assessment of the destruction of the Tompun/Choeung Ek wetlands“, Cambodian League for the promotion and défense of human rights, Phnom Penh, Juli 2020.

Aus dem Französischen von Andreas Bredenfeld

Christine Chaumeau ist Journalistin.

Die Hun-Dynastie

1996 bestimmte Premierminister Hun Sen seinen ältesten Sohn Hun Manet, der gerade seine Ausbildung an der Militärakademie West Point in den USA begonnen hatte, zu seinem Nachfolger. Am 22. August 2023 war es dann so weit. Die Familie Hun und ihre Partei, die PPC, haben Politik und Wirtschaft fest im Griff.

Bei den Wahlen am 23. Juli holte die PPC 120 der 125 Parlamentssitze. Die politischen Rivalen sind aus dem Weg geräumt, die einzige ernstzunehmende Oppo­si­tion, die Candlelight-Partei – Nachfolgepartei der 2017 verbotenen Nationalen Rettungspartei Kambodschas (CNRP) –, wurde zur Wahl nicht zugelassen. CNRP-­Chef Kem Sokha wurde im März zu 27 Jahren Haft verurteilt, Mitbegründer Sam Rainsy lebt im französischen Exil. Etwa 30 weitere Parteimitglieder sitzen ebenfalls in Haft.

UN-Sonderberichterstatter beurteilten die Wahl als „sehr unausgewogen“, aber in Kambodscha regte sich niemand groß darüber auf. Die Presse wird zensiert, die letzte unabhängige Presseagentur Voice of Democracy (VOD) wurde im Februar 2023 geschlossen.

Virak Ou, Präsident des kambodschanischen Thinktanks Future Forum, konstatiert eine gewisse Resignation in der Bevölkerung. „Mangels politischer Alternativen schwimmen die Menschen mit dem Strom und hinterfragen nicht den Status quo.“

Astrid Norén-Nilsson von der Universität Lund stellt fest, dass die PPC sogar an Popularität gewonnen hat. „Der Sieg über Covid-19 wurde Hun Manet als Chef des Verbands der freiwilligen jungen Ärzte und seiner Frau Pich Chanmony zugeschrieben, die Medizinerin ist.“

Auch der Asean-Vorsitz 2022 kam der PPC zugute. Zudem haben zwei von Hun Manet und seinem jüngeren Bruder Hun Many geleitete Organisationen die wichtige Gruppe der Jungwähler umworben: 75 Prozent der Bevölkerung ist unter 25.

Im Machtapparat hat ein Generationswechsel stattgefunden, der das Image der Regierung deutlich verjüngt. Von ihren 28 Mitgliedern haben 8 familiäre Beziehungen zu einem Minister der Vorgängerregierung, so haben die Söhne des Innen- und des Armeeministers die Ressorts ihrer Väter übernommen; Hun Many wurde Minister für den öffentlichen Dienst. Sie alle sind Technokraten; viele von ihnen wurden an westlichen Universitäten ausgebildet.

„Machen wir uns keine Illusionen, auch der syrische Präsident Baschar al-Assad hat in London Augenheilkunde studiert“, warnt Sophal Ear, Professor an der Thunderbird School of Global Management in den USA. „Der neue Premierminister muss in der politischen Kultur funktionieren, die er von seinem Vater geerbt hat. Anders gesagt: Er muss den Interessen des Clans dienen.“

Das Clansystem hat sich in den 1990er Jahren etabliert. Die Kämpfer des Bürgerkriegs bildeten eine Kaste für sich, in der Vetternwirtschaft selbstverständlich ist. Durch Eheschließungen zwischen den Clanmitgliedern wird die Loyalität zum bestehenden Gesamtgefüge gesichert. „Aber die Generation, die jetzt ans Ruder kommt“, betont Virak Ou, „hat keine alten kameradschaftlichen Bindungen und muss eine andere Arbeitsweise entwickeln.“

Vor diesem Hintergrund ist nicht ver­wunderlich, dass die Regierung nun 1422 neue Posten für Staats- und Unterstaatssekretäre schuf und 121 Prozent mehr Personal hat als die Vorgängerregierung. „So bekommt jeder ein Stück vom Kuchen und bleibt loyal“, meint ein politischer Beobachter, der anonym bleiben will.

Doch die Frage ist, ob das ganze Gefüge ohne die tragende Säule Hun Sen Bestand haben wird. Der soll fürs Erste im Januar 2024 den Ehrenposten des Senatspräsidenten übernehmen, der den König als Staatsoberhaupt vertritt, wenn dieser abwesend oder krank ist – für Hun die Krönung seiner monarchischen Ambitionen. ⇥C. C.

Le Monde diplomatique vom 12.10.2023, von Christine Chaumeau