Israels Demokratie vor dem Obersten Gerichtshof
Dieser Text entstand vor den verheerenden Angriffen der Hamas auf Israel am 7. Oktober. Premierminister Benjamin Netanjahu hat sein Land auf einen „langen und harten Krieg“ eingeschworen. Angesichts der massiven Eskalation der Gewalt wird der innenpolitische Konflikt um die Justizreform der Regierung Netanjahu in den Hintergrund treten. Doch eine Lösung ist damit nur aufgeschoben.
von Charles Schildge
Anfang des Jahres war man sich in Netanjahus Beraterteam sicher, dass der Widerstand gegen die umstrittene Justizreform irgendwann nachlassen würde. Das war ein Irrtum.
Noch nie in seiner Geschichte hat Israel so gigantische politisch Protestdemonstrationen erlebt. Jeden Samstagabend versammeln sich Hunderttausende auf den Straßen. Manche mit der Nationalfahne, andere mit selbst angefertigten Plakaten. Und alle skandieren: „Ihr habt euch mit der falschen Generation angelegt. Wenn es keine Gleichheit gibt, werden wir die Regierung stürzen.“ Alle einigt die Überzeugung: Diese Justizreform, mit der Netanjahu die Macht der Legislative auf Kosten der Richter und des Obersten Gerichtshofs ausweiten will, sägt an den Grundpfeilern der israelischen Demokratie.
Dass ein großer Teil der Bevölkerung jetzt aufgewacht ist, liegt vor allem daran, dass sich nun auch die säkulare Elite des Landes engagiert. Die war noch nicht auf die Barrikaden gegangen, als Netanjahu im Juli 2018 das Gesetz durch die Knesset brachte, das Israel als Nationalstaat des jüdischen Volks definiert.1 Damals hatte auch der Oberste Gerichtshof den Gesetzestext gebilligt, der nichtjüdische Israelis zu Bürgern zweiter Klasse degradiert.
Breiter Widerstand regte sich erst Ende Dezember 2022 nach der Bildung der neuen Regierung, die die radikalen Kräfte des religiösen Zionismus und die ideologischen Erben des rassistischen Rabbis Meir Kahane an die Macht brachte.2
Seitdem wurde gegen diese rechtsextreme Koalition, die mit 64 von 120 Abgeordneten eine hauchdünne Mehrheit in der Knesset hat, eine regelrechte Kampfmaschinerie auf die Beine gestellt. Treibende Kraft waren die Chefs von Hightech-Unternehmen wie der Milliardär Orni Petruschka, bekannte Juristen wie der Anwalt Gilead Sher, ehemalige hochrangige Militärs wie der Ex-Generalstabschef Dan Halutz oder der Ex-Chef des Militärgeheimdienstes Amos Malka, wie auch führende Wirtschaftswissenschaftler. Sie gründeten eine gemeinnützige Organisation mit Namen „Hofshi B’artzenu“, ein Zitat aus der israelischen Nationalhymne, das „ein freies Volk in unserem Land“ bedeutet.
Die von mehr als 200 Protestgruppen unterstützte Organisation finanziert Social-Media-Kampagnen und Plakataktionen, dazu den Rechtsbeistand für verhaftete Aktivist:innen und vieles mehr.3 Nach Angaben von Sher verfügt Hofshi B’artzenu über ein Budget von mehreren Millionen Schekel, die großenteils aus einer Beteiligungsfinanzierung von 40 000 Personen und sehr vielen Einzelspenden stammen.
Alle Spendenempfänger müssen sich zum Prinzip der Gewaltfreiheit und zu den Grundprinzipien der Unabhängigkeitserklärung von 1948 bekennen: „Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden gemäß dem Ideal der Propheten Israels“; „vollständige soziale und politische Gleichheit für alle seine Einwohner ohne Unterschied der Religion, der Rasse oder des Geschlechts“; „Freiheit der Religion, des Gewissens, der Sprache, der Bildung und der Kultur“.
Bis heute sind der Hofshi B’artzenu 130 lokale und 140 landesweite Vereine angeschlossen, die sich bei aller Verschiedenheit auf eine gemeinsame Botschaft verständigt haben: Opposition gegen die Regierung Netanjahu ist ein patriotischer Akt. Deshalb soll bei den Demonstrationen die israelische Flagge mitgeführt und am Ende die Nationalhymne gesungen werden.
Besonders aktiv ist die neu gegründete Organisation „Brothers and Sisters in Arms“, der tausende Reservisten und Reservistinnen angehören. Auf ihrer Webseite erklären sie, ihr Eid bedeute die Verpflichtung, „unsere Heimat, auch unter Einsatz unseres Lebens, zu verteidigen, nicht aber einer weiteren Diktatur im Nahen Osten zu dienen“.4
Doch wie stellen sich die Protestierenden zur Palästinenserfrage? Und zu der Forderung nach Annexion des Westjordanlands, die aus den Reihen der Regierungskoalition immer lauter zu vernehmen ist? Dazu meint Roy Neuman, einer der Organisatoren der zentralen samstäglichen Kundgebung in der Tel Aviver Kaplan-Straße: „Dieses Thema haben wir von Beginn bewusst ausgeklammert. Wenn ein Redner der Rechten dazu etwas sagen will, lehnen wir das ab.“ Schließlich sei der Kampf „für die Demokratie und gegen die Diktatur“ etwas Neues, deshalb wolle man auch die gemäßigte Rechte einbinden, die mit der aktuellen Regierung hadern.
Diese Position hält Avner Gvaryahu, Co-Vorsitzender von Breaking the Silence (Schovrim Schtika), für einen Fehler. Seine Organisation wurde 2004 ursprünglich von Soldaten gegründet, die in Hebron stationiert waren. Sie wollten der Welt und der israelischen Gesellschaft die Besatzung aus der Perspektive der Soldaten zeigen.5 „Die Tür für die Linke zu schließen und für die Rechte zu öffnen, ist keine sehr kluge Strategie.“ Sie übersehe, dass die Befürworter der Besatzung die Zentristen gar nicht mehr brauchen. Im Übrigen wolle die gemäßigte Rechte schon immer, dass Israel die Kontrolle über die Palästinensergebiete behalte.
An einer Ecke der Kaplan-Straße, abseits der Hauptkundgebung mit ihren israelischen Flaggen, versammeln sich jeden Samstagabend mehrere tausend Angehörige verschiedener Organisationen, die ein Ende der Besatzung fordern. Einige tragen die palästinensische Flagge. Seit einigen Monaten stelle man fest, dass sich die Einstellung eines großen Teils der Öffentlichkeit ihnen gegenüber geändert habe, erzählt Guy Hirschfeld, Vorsitzender von Looking the Occupation in the Eye (Mistaclim LaKibush Ba’Aynayim). „Die Leute bringen uns viel Sympathie entgegen; sie kaufen T-Shirts mit unseren Slogans und tragen sie auch bei Demonstrationen. Wir haben schon 12 000 Stück verkauft!“
Das Jerusalemer Organisationskomitee der Gruppe Bayit Meshutaf (Gemeinsames Haus) hat von Anfang an beschlossen, die samstäglichen Demos vor dem Amtssitz des Premierministers für alle zu öffnen. Einer ihrer Sprecher, Guy Schwartz, verteidigt den pluralistischen Ansatz des Komitees: „Wir laden Redner aus den unterschiedlichsten Bereichen ein. Das kann ein Siedler sein, der mit der Justizreform nicht einverstanden ist, oder der Direktor einer großen konfessionellen Schule in Jerusalem, auch arabisch-israelische Persönlichkeiten oder palästinensische Aktivisten.“
Für die Armee, die von der Siedlerbewegung wegen ihrer angeblichen Nachgiebigkeit gegenüber den Palästinensern kritisiert wird, ist die Situation ebenfalls ungewohnt und neu. Tausende Reservisten und Reservistinnen haben ihren freiwilligen Militärdienst ausgesetzt, besonders viele bei der Luftwaffe: nahezu 60 Prozent der Piloten, des Bodenpersonals und der Offiziere in den Kommandozentralen sind Reservisten, mehr als die Hälfte von ihnen hat sich der Protestbewegung angeschlossen.
Einige Kampfpiloten haben aufgehört, regelmäßig zu trainieren, und werden früher oder später nicht mehr fliegen können. Manche haben öffentlich erklärt, dass sie sich nicht an einem möglichen Luftschlag gegen die iranischen Atomanlagen beteiligen würden. Und bei der Flugakademie gibt es nicht mehr ausreichend Veteranen, um die Ausbildung des Pilotennachwuchses zu gewährleisten.
Das unüberhörbare Murren im Militär gefällt dem nationalreligiösen Lager natürlich gar nicht. Kommunikationsminister Shlomo Karhi vom Likud warnte alle, die den Dienst verweigern: „Wir kommen auch ohne euch aus! Fahrt zur Hölle!“ Die Angriffe gegen Offiziere und Reservistinnen verschärfen sich laufend. Generäle und Chefs von Sicherheitsbehörden, die sich weigern, unter einer Regierung der religiösen extremen Rechten zu dienen, sehen sich dem Vorwurf ausgesetzt, sie stünden an der Spitze „einer Miliz unter Befehl der Linken“.
Im Juni zog Orit Strook, Ministerin für Siedlungswesen und nationale Missionen, sogar den Vergleich mit der russischen Wagner-Gruppe. Zuvor hatten der Generalstabschef, der nationale Polizeichef und der Chef des Inlandsgeheimdienstes Schin Beth eine gemeinsame Erklärung veröffentlicht, in der sie die von Siedlern verübten antipalästinensischen Angriffe als „nationalistischen Terrorismus“ bezeichnen.
Die gegenseitigen Schuldzuweisungen führen dazu, dass viele Israelis die Realität der Besatzung neuerdings realistischer sehen.6 „Sie realisieren, dass im Westjordanland ein Chaos herrscht, begleitet von blutiger Gewalt“, konstatiert Tomer Persico, Forscher am Jerusalemer Shalom-Hartman-Institut. „Die Siedler greifen auch Soldaten und Grenzbeamte an, die eigentlich für ihre Sicherheit sorgen.“ In den Siedlungen im Westjordanland habe eine Verrohung stattgefunden, die das ganze Land in Gefahr bringe. Persico glaubt, dass im politischen Zentrum Israels ein echter Wandel stattfindet: Man erkennt allmählich, dass die Besatzung ein existenzielles Problem darstellt.“
Mitten im Frieden durchlebt die israelische Armee zurzeit ihre schwerste Krise. Am 25. März forderte Verteidigungsminister Jo’aw Galant, ohne Netanjahu vorher zu informieren, die Justizreform zu stoppen: „Die Kluft in unserer Gesellschaft wird immer größer; auch die Armee und die Sicherheitsbehörden sind davon betroffen. Das ist eine echte und unmittelbare Bedrohung für die Sicherheit des Staats. Daran werde ich mich nicht beteiligen!“
Als Netanjahu ankündigte, seinen Verteidigungsminister entlassen zu wollen, gingen überall in Israel die Menschen spontan auf die Straße. In Tel Aviv blockierten 100 000 Demonstrierende die Stadtautobahn. In Jerusalem durchbrachen einige Tausend die Polizeisperren und schafften es bis vor Netanjahus Familiendomizil in der Azza-Straße.
Die Protestbewegung entwickelte sich zu einem regelrechten Aufstand. Der Gewerkschaftsverband Histadrut rief den Generalstreik aus; der internationale Flughafen Ben Gurion wurde geschlossen. Netanjahu stand mit dem Rücken zur Wand. Am 27. März verkündete er in einer Fernsehansprache die Aussetzung der Justizreform. Er erklärte sich zu Verhandlungen mit der Opposition im Parlament bereit, versicherte aber zugleich: „Die Reform wird durchgeführt – so oder so.“ Verteidigungsminister Galant ist bis heute im Amt.
Doch im Prinzip hält Netanjahu an seinem Kurs fest. Am 23. Juli ließt er, ungeachtet der Proteste von Millionen Israelis, vom Parlament ein „Grundgesetz“ verabschieden, das die Befugnisse des Obersten Gerichtshofs einschränkt, indem es ihm die Möglichkeit nimmt, über die „Angemessenheit“ von Regierungsentscheidungen zu urteilen. Die parlamentarische Opposition blieb der Abstimmung geschlossen fern.
Jetzt lautet die entscheidende Frage, ob das höchste Gericht den Gesetzestext absegnen oder zurückweisen wird. In einer historischen Anhörung trugen am 12. September alle Parteien den 15 Richterinnen und Richtern ihre Argumente vor. Dabei stellte der Anwalt Ilan Bombach, der die Regierung vertrat, sogar die Legitimität der Unabhängigkeitserklärung vom 14. Mai 1948 infrage. Sein Argument: Die 37 Unterzeichner des Dokuments seien nicht vom Volk gewählt worden. Damit deutete er an, auch dem Obersten Gerichtshof gehe die Legitimation ab – im Gegensatz zur aktuellen Regierung, die aus Wahlen hervorgegangen ist.
Die Botschaft ist klar: Für die Rechte und ihre messianischen Verbündeten zählt nur das von ihnen verabschiedete Gesetz, das Israel als Nationalstaat für das jüdische Volk etabliert.
Die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs wird erst in einigen Wochen erwartet. Dann wird sich zeigen, ob Israel in einer Verfassungskrise versinkt. Bis dahin wird Netanjahu den Umbau des Staats weiter vorantreiben. Seinen Kommunikationsminister Karhi, Likud-Mitglied und religiöser Zionist, hat er bereits beauftragt, den Medien einen Maulkorb zu verpassen.
Offensichtliches Vorbild ist Orbáns Ungarn: TV-Sender und fast alle Printmedien sollen der Aufsicht einer neuen Regulierungsbehörde unterliegen, die weitgehend von der Exekutive kontrolliert wird. Und im öffentlichen Raum, dort also, wo regelmäßig demonstriert wird, sollen Überwachungskameras installiert werden, ausgestattet mit Software, die Gesichter identifizieren kann.
Die nächsten Parlamentswahlen in Israel sind für den 27. Oktober 2026 vorgesehen. Doch die Entwicklung könnte die Regierung Netanjahu zwingen, den Wahltermin vorzuziehen.
1 Siehe „Der Weg in die Ethnokratie“, LMd, September 2018.
2 Siehe „Israel – die Agenda der Radikalen“, LMd, Februar 2023.
4 „Why are we protesting?“, Brothers and sisters in arms, www.brothersandsistersinarms.org.
5 Siehe Meron Rapoport, „Sprechen über die Besatzung“, LMd, September 2011.
6 Siehe Dominique Vidal, „Israel macht weiter“, LMd, Februar 2017.
Aus dem Französischen von Jakob Farah
Charles Enderlin ist Journalist und Autor von „Israël. L’agonie d’une démocratie“, Paris (Seuil) 2023.