12.10.2023

Wie ein Stück Fleisch

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Wie ein Stück Fleisch

von Selim Derkaoui

Französische Meisterschaft im Fliegengewicht 1956 akg-images
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Mein Vater war Amateurboxer in der Normandie. Nie hätte er sich träumen lassen, dass er eines Tages wie ein echter Profi – mit entblößtem Oberkörper – im Ring stehen würde, und das vor den Augen zweier Kinogrößen: von Jean-Paul Belmondo, der ein Boxfan war, und von Alain Delon, dem Darsteller eines aufstrebenden Boxtalents in Viscontis „Rocco und seiner Brüder“, einer von Vaters Lieblingsfilmen.

An jenem Tag trat er in einer Pariser Halle gegen einen israelischen Champion an, der schon viele internationale Kämpfe gewonnen und bei einer Olympiade das Viertelfinale erreicht hatte. „Das war eine richtig große Nummer!“, erzählte mein Vater mit glänzenden Augen. Er selbst war im Alter von 27 Jahren Amateurboxmeister der Normandie geworden, auch das eine beachtliche Leistung.

Der Kampf wurde von Canal+ übertragen, berichtete mein Vater. „Als ich in den Ring stieg, betete der Hallensprecher gerade die endlose Erfolgsliste meines Gegners herunter. Als ich dran kam, hieß es nur: ‚Monsieur Derkaoui, Meister der Normandie‘ – und das war’s. Der Ringrichter starrte mich an und zischte meinem Trainer zu: ‚Das ist ein Profikampf, Ihr Boxer hat mit nacktem Oberkörper anzutreten!‘ “ Mein Vater gehorchte, hatte aber das Gefühl, vor aller Welt splitternackt dazustehen: „Wie ein Stück Fleisch, das man in die Arena geworfen hat. Die ganze Schickeria war da, und ich sollte ihnen ein unterhaltsames Spektakel bieten.“

In einer Sportzeitung war unter einem Foto meines Gegners zu lesen: „Der schöne, rassige Champion Jakov Schmuel aus Israel macht Derkaoui fertig.“ Mein Vater ging schon in der ersten Runde zu Boden, sein Schädel brummte: „An die dritte Runde kann ich mich gar nicht mehr erinnern. In der Umkleide bin ich dann wieder aufgewacht. Ich mache die Augen auf, sehe den Sanitäter, frage: ‚Hab ich verloren, oder?‘ Er sagt: ‚Verloren nach Punkten!‘ Nicht einmal er hatte kapiert, dass ich einen Filmriss hatte, und mein Trainer schon gar nicht.“

Seit dem Kampf gegen Jakov Schmuel, der härter schlug als er selbst, hatte mein Vater die klassische zerbeulte Boxer­visage. Und wurde tatsächlich zu einem Stück Fleisch, zu einem der Proletarier, die in Showkämpfen verheizt werden und bei einem Sieg ein paar Scheine bekommen, die meist schnell in der Tasche des Trainers ver­schwinden.

Der amerikanische Schriftsteller Jack London war in seiner Jugend ein Raufbold, bevor er Amateurboxer wurde. Er schrieb mehrere Boxergeschichten, die beste mit dem Titel „A Piece of Steak“.1 Der nüchtern-düstere Text erzählt die Geschichte von Tom King, einem alten Berufsboxer, dessen Glanzzeit vorbei ist. Am Ende seiner Karriere ist er so arm, dass er kein Steak für sich und seine Familie kaufen kann. Aber dann steigt er noch mal in den Ring, gegen ein aufstrebendes Talent namens Sandel. Dabei geht es um eine beträchtliche Summe: „Wenn ich gewinne, kriege ich dreißig Scheine, kann alles Nötige bezahlen und habe noch was übrig. Wenn ich verliere, habe ich nichts mehr, nicht einmal einen Penny für die Fahrt nach Hause.“

Tom King verliert und beweist damit auf tragische Weise, dass das Publikum recht hatte, auf den jungen Lokalmatador zu setzen anstatt auf das alte Stück Fleisch.

Wie kommt es, dass im Zusammenhang mit dem Boxen ständig von Fleisch die Rede ist? „In der frühen Zeit des Boxsports waren viele der Kämpfer von Beruf Fleischer“, schreibt der Kulturhistoriker Loïc Artiaga, „denn bei diesem Beruf brauchte ziemlich kräftige Muskeln, um die Tierkadaver zu verarbeiten.“ Zudem galt rotes Fleisch als beste Energiequelle, „und Fleischer hatten natürlich leichten Zugang zu den besten Stücken“.2

Jungprofis verdienen pro Runde nur 150 Euro

Der Titelheld des Kultfilms „Rocky“ arbeitet im Schlachthof von Philadelphia und trainiert, indem er auf die Tierhälften eindrischt, die in den Kühlkammern von der Decke hängen. So hatte es vor ihm schon Joe Frazier gemacht, der von 1970 bis 1973 Profiweltmeister im Schwergewicht war.

Früher wurden auch Amateurboxern Prämien gezahlt, sei es für errungene Titel, sei es für gewonnene Kämpfe. Heute ist das nicht mehr so. „Bis vor etwa fünf oder sechs Jahren bekamen Amateurboxer 15 bis 20 Euro pro Runde, bei drei Runden. Spitzenamateure konnten auf nationaler Eben Prämien von 100 bis 400 Euro pro Kampf kassieren“, erläutert Nasser Lalaoui, ein ehemaliger Amateurboxer, der seit 1992 Trainer und Leiter eines Boxklubs in Aulnay-sous-Bois ist. Aber heute sei das vorbei, wegen der Rezession. Auch die Trainer bekamen früher Prämien von etwa 30 Euro plus Fahrtkostenerstattung. „Aber mit alldem ist es jetzt vorbei“, sagt Lalaoui. Auch für Profis sind die Börsen nicht mehr so hoch: „Für einen Anfänger sind es 100 bis 150 Euro pro Runde, später 200 bis 300 Euro. Die besten können bis zu 1000 Euro verdienen. Für einen Titel gibt es zwischen 15 000 und mehreren Millionen Euro, wenn die Superstars um internationale Titel kämpfen.“

Das Business des Profiboxens begünstigt abgekartete Kämpfe, Wettbetrug und ungleiche Duelle. „Die Manager der Boxprofis sind da, um Geld zu machen. Normalerweise kassieren sie 10 Prozent, aber es gibt auch Gangster, die lediglich die Körper der Boxer verschachern.“

Im Profiboxsport sind die Kämpfe brutaler als bei den Amateuren. Sie dauern länger – zwölf statt drei Runden –, und der Kampf kann auch dann fortgesetzt werden, wenn ein Boxer mehrmals zu Boden gegangen sind. Es gibt weniger, aber härtere Schläge, und nur minimale Schutzausrüstung, die sich auf einen Tiefschutz und einen Mundschutz beschränkt. Es muss eine Show geboten werden, um jeden Preis.

Beim Amateurboxen geht es dagegen mehr um Zahl und Qualität der Treffer: Die Schläge kommen schneller, sind aber weniger heftig, und Kopfschutz ist obligatorisch. Profiboxen ist in erster Linie Unterhaltung, beim Amateurboxen geht es dagegen in erster Linie um ein sportliches Spektakel, das dem Publikum emotionale Befriedung allein schon durch das Aufeinandertreffen von Körpern renommierter Athleten verschafft.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wollten die sensationslüsternen Zuschauer vor allem K.-o.-Schläge sehen. Die Begeisterung für das Boxen als Sportart, die über das bloße Schauspiel von Gewalt hinausgeht, musste sich erst entwickeln. Das Publikum bildete erst allmählich die Fähigkeit heraus, die Kämpfer und die Qualität eines Kampfes wirklich einzuschätzen. Auf diese Weise entstand ein System zur Bewertung der Qualität eines Kampfs oder einer Boxgala. Diese Bewertung wird von diversen Faktoren bestimmt: von der Reputation des Boxers, von der Präsenz des Managers eines berühmten Champions, von dem Ruf des Organisator; und von all dem hängt wiederum die Anziehungskraft für ein Galapublikum ab.

Junge Boxer sahen im Boxen eine Möglichkeit des sozialen Aufstiegs. Der erste Franzose, der es 1920 zum Weltmeister und sogar zum Millionär brachte, war Georges Carpentier, Sohn eines Grubenarbeiters und ein im Ersten Weltkrieg hoch dekorierter Kampfpilot. Die „edle Kunst“ produzierte die ersten Sportstars.

„Heute ist der Profisport gut bezahlt, aber das gilt nur für eine kleine Elite“, erläutert Nasser Lalaoui. Frankreichs letzter großer Boxstar war der sehr medienwirksame Christophe Tiozzo, dessen Kämpfe zur besten Sendezeit übertragen wurden. Seit er 1996 aufgehört hat, erzielte keiner mehr größere Medienaufmerksamkeit. Das Boxen hat nicht mehr den Nimbus früherer Zeiten. Warum das so ist, dafür hat auch Lalaoui keine richtige Erklärung. Bei aller Nostalgie sieht er die Dinge ganz nüchtern: In Frankreich gibt es derzeit 450 Berufsboxer (gegenüber 1361 männlichen Fußballprofis).

Einige von ihnen hoffen immer noch auf einen internationalen Durchbruch, zum Beispiel der 22-jährige Mustapha Zaouche. Trainiert wird der große und schlanke Boxer von Nasser Lalaoui und Halim Chalabi in Aulnay-sous-Bois. Zwischen zwei Schlägen auf seinen Boxsack frotzelt er mit seinem Coach, aber er ist ganz auf seine Ziele konzentriert. Nach dem Training zählt er stolz seine Auszeichnungen auf: Halbfinalist bei der französischen Juniorenmeisterschaft, Viertelfinalist bei den Senioren.

Profi wurde Zaouche im Juni 2020. Seitdem trainiert er doppelt so viel wie als Amateur, Tag für Tag morgens und abends. „Ich esse und lebe für das Boxen! Momentan arbeite ich nebenher noch als Trainer in einem Pariser Verein. Eines Tages möchte ich ganz vom Boxen leben, obwohl mir schon klar ist, dass das keinesfalls selbstverständlich ist.“

Lange Zeit wurde jungen Leuten aus der Arbeiterklasse eingeredet, sie könnten mit der Boxerei reich werden. In Wirklichkeit ist die Suche nach Sponsoren voller Fallstricke, die Bezahlung pro Kampf meist bescheiden. Den meisten Boxern bleibt nur ein ständiges Jonglieren zwischen Brotarbeit und Training.

1 Jack London, „A Piece of Steak“, Saturday Evening Post, 1909.

2 Loïc Artiaga, „Rocky Balboa ou la revanche de l’Amérique blanche“, Ballast, 6. März 2023.

Aus dem Französischen von Birgit Bayerlein

Von Selim Derkaoui ist Journalist und Autor des Buchs „Rendre les coups. Boxe et lutte des classes“,Paris (Le Passager clandestin) 2023, dem dieser Text entnommen ist.

Le Monde diplomatique vom 12.10.2023, von Selim Derkaoui