12.10.2023

Argentinien – Gefahr von rechtsaußen

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Argentinien – Gefahr von rechtsaußen

Am 22. Oktober wählt das Land einen neuen Präsidenten. Der libertäre Ökonom Javier Milei kann sich Hoffnungen auf den Sieg machen. Er setzt auf exzentrische Auftritte, brachiale Sprache und die Unterstützung durch rechts­extreme Influencer.

von Anne-Dominique Correa

Protest gegen Milei und das Sparprogramm der Regierung, Buenos Aires, 14. September 2023 MARIANA NEDELCU/picture alliance
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Auf dem Whiteboard klebt für jedes Ministerium ein Post-it. Davor steht ein Mann, der ein Zettelchen nach dem anderen abreißt: „Ministerium für Tourismus und Sport – weg damit!“, brüllt er. „Kulturministerium – weg! Ministerium für Umwelt und nachhaltige Entwicklung – weg! Ministerium für Frauen, Gender und Diversität – weg! Ministerium für öffentlichen Bau – weg!“ Letzteres ist hartnäckig, er braucht zwei Versuche, um es abzureißen: „Auch wenn es sich wehrt!“

„Ministerium für Technologie, Wissenschaft und Innovation – weg! Arbeitsministerium – weg! Bildungsministerium … ha! Indoktrinationsministerium – weg! Transport­mi­nis­te­rium – weg! Gesundheitsministerium – weg! Ministerium für gesellschaftliche Entwicklung – weg!“

Zufrieden betrachtet er die Tafel. „Was bleibt vom Staat übrig?“ Die Ministerien für Humankapital, Infrastruktur, Wirtschaft, Justiz, Sicherheit, Verteidigung, Außen- und Innenpolitik. „Schluss mit dem Politikbusiness! Es lebe die Freiheit, verdammte Scheiße!“

Der Mann mit den stechenden blauen Augen, den Rockerkoteletten und dem wirren Haar, das er nach eigener Aussage seit drei Jahren nicht gekämmt und der „unsichtbaren Hand des Markts“ überlassen hat, ist der Ökonom Javier Milei. Durch seine Talkshow-Auftritte, bei denen er Politiker wutschnaubend als „Scheiß­linke“ und Journalisten als „Arschlöcher“ oder „Schwachköpfe“ beschimpfte, war er seit Langem bekannt, aber man nahm ihn nicht sehr ernst.

Doch am 13. August 2023 holte er mit seiner Koalition La Libertad avanza (Die Freiheit geht voran) bei den Vorwahlen (dem in Argentinien üblichen Testlauf für die Präsidentschaftswahl) 30 Prozent der Stimmen. Damit lag er vor seinen schärfsten Kon­kur­ren­t:in­nen: Patricia Bullrich von der konservativen Koalition Juntos por el Cambio (Gemeinsam für den Wandel) erhielt 28 Prozent und der amtierende Wirtschaftsminister Sergio Massa für die peronistische Unión por la Patria (Union für das Vaterland) 27 Prozent. Dabei scheint Milei von einem allgemeinen Rechtsruck zu profitieren, denn auch Bullrich und Massa kommen aus dem rechten Lager ihrer jeweiligen Parteienfamilien.

Der selbsternannte „Anarchokapitalist“ schlägt vor, die staatlichen Ausgaben „mit der Kettensäge“ zu kürzen, die Zentralbank „in die Luft zu jagen“, die Wirtschaft zu dollarisieren, die Beziehungen zu Argentiniens wichtigstem Wirtschaftspartner China abzubrechen, weil es „kommunistisch“ sei, Abtreibungen zu kriminalisieren, das Tragen von Waffen zu legalisieren, De­mons­tran­t:in­nen ins Gefängnis zu werfen, Organhandel und kommerzielle Leihmutterschaft dagegen zu erlauben.

In Brasilien hatte Jair Bolsonaro vor nicht allzu langer Zeit die politische Bühne betreten, zwar mit etwas anderem Stil und Hintergrund, aber mit einem ähnlichen Programm aus Autoritarismus, Konservativismus und Freihandel. Die Vorschläge des selbsterklärten Revolutionärs Milei sind also nicht neu. In Argentinien wurden bereits während der Militärdiktatur von General Videla (1976–1981) auf Empfehlung der „Chicago Boys“1 die Öffnung der Wirtschaft, die finanzielle Deregulierung und die Privatisierung staatlicher Unternehmen mit militärischer Disziplin durchgesetzt.

Bekennender Anarchokapitalist

Anders als Milei behauptet, haben solche Rezepte Argentinien nicht „befreit“, sondern „die soziale und industrielle Substanz des Landes zerstört“, wie der Wirtschaftshistoriker Mario Rapoport betont. Damals schwächten die Maßnahmen die lokalen Produktionskapazitäten und verstärkten die Abhängigkeit des Landes vom Export landwirtschaftlicher Güter, um den Import von Fertigwaren zu finanzieren. Dadurch wuchs das strukturelle Defizit der Handelsbilanz und verursachte eine chronische Inflation: Vor dem Staatsstreich von 1976 lag sie bei 78 Prozent, während der Diktatur im Durchschnitt bei 191 Prozent.

Paradoxerweise folgten nach der Rückkehr zur Demokratie 1983 die Regierungen unter Raúl Alfonsín von der Unión Cívica Radical (1983–1989) und dem neoliberalen Peronisten Carlos Menem vom Partido Justicialista (1989–1999) demselben Kurs. Als die Inflation 1989 wieder dreistellig wurde, unternahm Menems Wirtschaftsminister Domingo Cavallo, während der Militärdiktatur Zentralbankchef, den ersten Schritt zu einer Dollarisierung der Wirtschaft, um der Inflation Herr zu werden. 1991 verkündete er einen Konvertibilitätsplan, der einen festen 1:1-Wechselkurs zwischen Peso und Dollar festlegte.

Zwar konnte mit der Maßnahme die Hyperinflation eingedämmt werden, aber bald tauchten neue Schwierigkeiten auf: Da der Dollar stärker war als der Peso, verteuerten sich durch den offiziellen Wechselkurs die Exporte. Sie wurden weniger wettbewerbsfähig und wuchsen nicht genug, um die Nachfrage nach Peso, die zur Stützung der Währungsparität nötig war, zu befriedigen. Argentinien verschuldete sich immer mehr, das System implodierte. Am 3. Dezember 2001 kam es zu einem Run auf die Banken, woraufhin die Regierung die Konten einfror.

Als Folge dieses als „Corralito“ bekannten Desasters2 trat Menems Nachfolger Fernando de la Rúa (1999–2001) zurück und floh zusammen mit Wirtschaftsminister Cavallo am 21. Januar 2002 im Hubschrauber außer Landes. Argentinien war zahlungsunfähig, in 13 Tagen folgten fünf Präsidenten aufeinander. Die Bevölkerung erhielt ihre Ersparnisse nur teilweise in abgewerteten Pesos zurück. Zwischen 2001 und 2002 sank das Bruttoinlandsprodukt (BIP) um 10 Prozent, die Armutsquote stieg von 46 auf 66 Prozent und die Arbeitslosenquote von 18,3 auf 21,5 Prozent.

Im April 2003 wurde schließlich der Linksperonist Néstor Kirchner (2003–2007) zum Präsidenten gewählt. Er verhandelte die Staatsschulden neu, verstaatlichte strategische Unternehmen und realisierte große Sozialprogramme. Während seiner ersten Amtszeit halbierte sich die Armut.

Ihm folgte seine Ehefrau Cristina Fer­nán­dez de Kirchner (2007–2015) im Amt. Sie ging so weit, die Ausfuhr von Soja, dem wichtigsten Exportprodukt des Landes, mit 35 Prozent Zoll zu belegen. Das Agrobusiness legte daraufhin das Land 129 Tage lahm, bis Fernández nachgab. 2015 wurde der Konservative Mauricio Macri (2015–2019) zum Präsidenten gewählt, ein Geschäftsmann, der die Rückkehr zu Sparpolitik und Freihandel versprach.

Auch er blieb ohne Erfolg. Der Regen privater Investitionen, den er versprochen hatte, blieb aus. Obendrein stellte die Abschaffung der Exportsteuer und der Kontrolle von Kapitalflüssen das Land vor das alte Problem der fehlenden Dollars. Macri bat den IWF um Hilfe, der 2018 im Gegenzug für eine erneute radikale Sparkur den höchsten je vom IWF gewährten Kredit gewährte: 57 Milliarden Dollar. Er erwies sich als wirkungslos.3

Laut einem Bericht der argentinischen Zentralbank vom Mai 2020 sind von den 100 Milliarden Dollar, die während Macris Amtszeit ins Land kamen, 86 Milliarden sofort wieder ins Ausland geflossen.

Als 2019 Alberto Fernández von der peronistischen Koalition Frente de Todos zum Präsidenten gewählt wurde (mit Cristina Fernández als Vize), steckte das Land in einer ähnlichen Situa­tion wie 2001: Das BIP war drei Jahre in Folge um durchschnittlich 1,3 Prozent gesunken, die Staatsschulden waren von 52 auf 86 Prozent des BIPs in die Höhe geschossen, der Peso hatte mehr als die Hälfte seines Werts verloren, die Arbeitslosigkeit war von 7 auf 10 Prozent und die Armut von 30 auf 35 Prozent angewachsen.

Auch Alberto Fernández bekam die Krise nicht in den Griff. Der Schuldendienst band der Regierung die Hände, hinzu kamen neue Schwierigkeiten: die Coronapandemie, die in Argentinien 130 000 Tote forderte, die durch den Ukrainekrieg verteuerte Energie und dazu noch eine Jahrhundertdürre, die die Äcker verwüstete.

Ein geklonter Hund namens Milton

Fernández, der sich als Linksliberaler bezeichnet, entschloss sich, um den Preis neuer Sparmaßnahmen und des Bruchs mit seiner Vizepräsidentin ein neues Abkommen mit dem IWF auszuhandeln. Heute liegt die Armutsquote wieder bei über 40 Prozent, die jährliche Inflation bei 116 Prozent und die Zustimmungsrate für den Präsidenten bei kaum 20 Prozent. Auf eine erneute Kandidatur bei der Präsidentenwahl am 22. Oktober verzichtet er; ebenso wie Cristina Fernández, gegen die mehrere Klagen laufen, was ihr eine Kandidatur unmöglich macht. Außerdem überlebte sie im September 2022 nur durch Glück einen Mordanschlag.

Das Fehlen von populären Kandidaten der tief gespaltenen Linken öffnet der Rechten mit ihren alten Rezepten Tür und Tor. Aber sie ist gespalten. Als „seriös“ und „erfahren“ präsentiert sich Patricia Bullrich, immer in Kostüm und mit ordentlicher Frisur. Sie stammt aus einer Familie von Großgrundbesitzern und hat sich zunehmend nach rechts orientiert, nachdem sie in den 1970er Jahren bei der linksperonistischen Jugend und mutmaßlich auch bei der marxistischen Guerilla Montoneros aktiv war. Unter Fernando de la Rúa war sie Arbeitsministerin. Als Sicherheitsministerin unter Macri sorgte sie mit massiven Polizeieinsätzen für die Einschränkung des Demonstrationsrechts.

Bullrichs Programm steht also in der Tradition des Macrismus: Sie verspricht eine Reform des Arbeitsrechts, das Ende der Preiskontrolle und drastische Haushaltskürzungen. Kritisch sieht sie jedoch Macris Strategie der kleinen Schritte, der einen Volksaufstand vermeiden wollte. Sie plädiert für eine Schocktherapie: „Alles oder nichts“, lautet ihr Wahlslogan. Passend zu ihrem Image als „eiserne Lady“ verspricht sie Ordnung auf den Straßen und ein Ende der piquetes, der immer wieder stattfindenden Straßenblockaden von sozialen Bewegungen in Bue­nos Aires.

Das Gegenstück zu Bullrichs autoritärem Neoliberalismus ist der neoliberale Autoritarismus von Milei. Er fordert eine harte Hand gegen Kriminalität und soziale Bewegungen, deren Wortführer er als Verbrecher bezeichnet – eine Linie, die sein intellektuelles Vorbild, der US-amerikanische Ökonom Murray Rothbard (1926–1995), als „Rechtspopulismus“ bezeichnet.

In dieser Tradition stellt Milei den „guten Argentiniern“ die „Politikerkaste“ gegenüber, die aus dem Staatsapparat und den traditionellen politischen Parteien besteht und von Haus aus korrupt sei. Anders als Macri, der sich rühmte, niemals auf die Beschimpfungen seiner Gegner einzugehen, bedient sich Milei größter Vulgarität, um den Volkszorn zu kanalisieren. „Ich schreie so laut, weil ich sauer bin und genug von der Politikerkaste habe, die uns jeden Tag unsere Zukunft klaut.“4

Milei, in kürzester Zeit zum Medienstar geworden, nutzte die Einschränkungen während der Pandemie, um die Regierung zu beschuldigen, eine infectadura, eine Infektionsdiktatur errichten zu wollen. Die Vorstellung einer Kaste, der das Volk egal ist, wurde durch diverse Skandale genährt.

So wurde mitten im Lockdown, im Juli 2020, in den sozialen Netzwerken  ein Foto von der Geburtstagsfeier der Präsidentengattin geteilt. Und im Februar 2021 kam ans Licht, dass Vertraute des Präsidenten bevorzugt geimpft worden waren. All das ist Wasser auf Mileis Mühlen. Seine Medienauftritte werden von Influencern mit großer Reichweite verbreitet, die einen Krieg führen gegen etwas, was sie „Kulturmarxismus“ nennen – gegen den Staat, den Umweltschutz und den Feminismus.

Milei erreicht vor allem die Jungen, die viel in den sozialen Netzen unterwegs sind und den wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Pandemie am stärksten ausgesetzt sind. „Niemals seit dem Ende der Diktatur hatte die radikale Rechte so starken Zulauf bei der Jugend“, beobachtet der Politologe Ariel Goldstein vom Nationalen Rat für wissenschaftliche und technische Forschung (Conicet) in Buenos Aires.

Nach einer aktuellen Erhebung ist die Hälfte von Mileis Anhängern unter 29 Jahren, mehrheitlich männlich und aus der städtischen Mittel- und Unterschicht.5 „Während der Pandemie ist der Staat ihr Feind geworden“, sagt der argentinische Politologe Sergio Morresi. „Für sie sind die Aussagen der Linken, der Staat kümmere sich um uns, schütze und helfe uns, völlig ohne Sinn. Sie kennen nur einen Staat, der nicht funktioniert.“

Juan ist 19. Während des Lockdowns saß er mit seiner Mutter (einer Krankenschwester) und seiner Großmutter zu Hause. Das letzte Schuljahr absolvierte er online mit einer schlechten Internetverbindung. Deshalb hatte er einige Lücken, als er an der Universität von Buenos Aires sein Architekturstudium begann. Früher war er links, jetzt unterstützt er Milei.

„Er ist der einzige Kandidat, der mit seinem Programm den Jungen eine Zukunft bietet“, erzählt er uns bei einer Versammlung von La Libertad avanza. Juan stammt aus einem Vorort von Buenos Aires und muss wie viele junge Leute neben dem Studium Geld verdienen. „In Argentinien kann man sich seine Ambitionen an den Hut stecken.“

Nach Angaben der Nationalen Statistikbehörde sind 45 Prozent der jungen Menschen zwischen 15 und 29 Jahren arm.6 68 Prozent der Ar­gen­ti­nie­r:in­nen zwischen 18 und 29 Jahren würden das Land verlassen, wenn sie das Geld dazu hätten.7

Angeregt durch seine wachsende Popularität, ging Milei politisch in die Offensive. Am 25. Mai 2020, einen Tag nach der Verlängerung des Lockdowns bis zum 6. Juni, rief er unter dem Hashtag #bastadecuarantena (Es reicht mit der Quarantäne) zu einer Demonstration auf. Knapp 200 Menschen kamen zur Plaza de Mayo, das Ereignis gilt als Geburtsstunde der „neuen argentinischen Rechten“, die schnell an Zulauf gewann.

Die sozialen Bewegungen seien wegen des Lockdowns kaum mit Aktionen im öffentlichen Raum präsent gewesen, erinnert sich Melina Vázquez, Soziologin beim Conicet und Dozentin an der Universität Buenos Aires. „Da genossen diese Antiregierungsgruppen, die eine kleine Minderheit bildeten, außergewöhnlich viel Aufmerksamkeit. Anders als die klassische Rechte, die die Interessen einer Elite vertritt, geben sich die jungen Libertären respektlos, plebejisch, unkorrekt und auf Konfrontationskurs mit dem gesellschaftlichen Konsens. Damit wird das libertäre Gerede subversiv.“

Früher war die 2006 von Máximo Kirchner, dem Sohn von Cristina Fer­nán­dez und Néstor Kirchner, gegründete La Cámpora die mitgliederstärkste Jugendorganisation. „Die Linke erreicht die jungen Leuten wirklich, lehrt sie Dinge, gibt ihnen die Instrumente zur Emanzipation an die Hand“, erkennt Fernando Cerimedo an. Er ist Eigentümer eines rechtsextremen Medienkonglomerats und seit 2019 Mileis Kommunikationsberater. Die Wortführer von La Cámpora sind inzwischen über 40, und sie haben einen neuen Konkurrenten: „Auch Milei hat angefangen, den Jugendlichen Mittel an die Hand zu geben.“

Milei, der an der N&W Professional Traders in Buenos Aires lehrt, einer Privatakademie für den Wertpapierhandel, organisiert in öffentlichen Parks Open-Air-Wirtschaftskurse. „Ich bin nicht gekommen, um Lämmer zu führen, sondern um Löwen aufzuwecken!“, verkündet er gern. Er hat fast immer ein Buch unter dem Arm und gibt ­seinen Anhängern Lektüreempfehlungen.

Viele von ihnen kennen die Liberalismusdefinition des rechten Intellektuellen Alberto Benegas Lynch auswendig. „Liberalismus ist der uneingeschränkte Respekt des Lebensprojekts der anderen, gegründet auf dem Nichtaggressionsprinzip und der Verteidigung des Rechts auf Leben, Freiheit und Privateigentum“, rezitiert der 23-jährige José Maria Lezcano ohne Stocken. Er studiert Physiotherapie an der Katholischen Universität und trägt eine Kette mit einem Löwenanhänger: Mileis Emblem.

Als Milei 2017 zum Abgeordneten gewählt wurde, kündigte er an, er wolle dafür sorgen, dass 2023 in jedem Dis­trikt des Landes liberal gewählt werde. Er reiste durchs Land und umwarb die Jugend und andere potenzielle Wählergruppen. Im Juli 2023 versprach er bei der alljährlichen Messe der Agrarindustrie unter stürmischem Applaus, alle Exportsteuern abzuschaffen und die Einnahmen des Agrarsektors zu verdreifachen. Dann zog er Turnschuhe an, um mit seiner Kandidatin für den Vizeposten, Victoria Villarruel, durch die mit Stroh ausgelegten Hallen zu eilen.

Villarruel verkörpert die konservative Oligarchie. Sie ist glühende Katholikin, Abtreibungsgegnerin und die Tochter eines Offiziers, der während der Militärdiktatur an Entführungen und Folter beteiligt war. Sie gründete das Zentrum für juristische Studien über den Terrorismus und seine Opfer (Celtyv), das die Verbrechen der Diktatur mit mehr als 30 000 Toten leugnet. Am 4. September organisierte sie eine Gedenkveranstaltung „für die Opfer des Linksterrorismus“, was bei Menschenrechtsorganisationen einen Aufschrei auslöste.

Das Kandidatengespann hat etwas von „die Schöne und das Biest“. Villarruel, sehr aufrecht, im eleganten schwarzen Mantel, geht neben dem exzentrischen Milei her, der zum Vergnügen seiner Anhänger mit den Tieren spricht und sich für Selfies in seine ikonische Pose wirft: wirres Haar, zusammengepresste Lippen, leicht geneigter Kopf, die Augen zum Himmel verdreht und die Daumen emporgereckt.

Während Villarruel die „tradi­tio­nel­le Familie“ verteidigt, ist Mileis Privatleben eher untypisch. Er erklärte öffentlich, Dreier gehabt zu haben und ein Meister des tantrischen Sex zu sein. An die Ehe glaube er nicht. Er ist ledig und lebt laut der nicht autorisierten Biografie des Journalisten ­Juan González8 mit seinen „vierbeinigen Kindern“ zusammen. So nennt er seine fünf englischen Mastiffs, Klone seines ersten, 2017 gestorbenen Hunds Conan. Vier von ihnen tragen die Namen seiner Lieblingsökonomen: Murray, Robert, Lucas und Milton (für Murray Rothbard, Robert Lucas Jr. und Milton Friedman).

Wie lässt sich ein so ungleiches Gespann erklären? Milei folgt auch hier den Empfehlungen Rothbards, der empfahl, die Libertären müssten sich mit den konservativen und reaktionären Kräften zusammentun, um ihre politische Isolierung zu sprengen und die unteren Klassen zu gewinnen. „Bolsonaro ist ein Konservativer, der sich dem Wirtschaftsliberalismus angenähert hat, indem er Paulo Guedes aus der Chicagoer Schule zum Wirtschaftsminister ernannt hat. Milei ist ein Wirtschaftsliberaler, der sich dem Konservatismus zugewendet hat“, urteilt Ariel Goldstein. Durch die Allianz mit Villarruel, die der spanischen Partei Vox nahesteht, wurden die argentinischen Libertären in die internationalen rechtsextremen Netzwerke eingeführt.

Vor den Provinzialwahlen 2023 (die zwischen April und Oktober stattfinden) näherte sich Milei auch den lokalen konservativen Parteien an, um auch außerhalb von Buenos Aires politischen Einfluss zu gewinnen. Obwohl selbsternannter „Antisystem“-Kandidat, betraute er einen ausgesprochenen Politikprofi mit dieser Aufgabe: Carlos Kikuchi, den früheren Sprecher des 2002 geflohenen Wirtschaftsministers Cavallo.

Der schloss in der Provinz Tucumán ein Bündnis mit der Partei Fuerza Republicana (Republikanische Kraft) unter Ricardo Bussi, Sohn von General Antonio Domingo Bussi, der 2008 wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit während der Diktatur zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. Milei diente Bussi sr. 1994 als Wirtschaftsberater. In La Rioja sicherte er sich die Unterstützung von Martín Menem, dem Neffen des früheren Präsidenten Carlos Menem. In Tierra del Fuego knüpfte er Kontakte zur evangelikalen Pastorin und leidenschaftlichen Antifeministin Laura Almirón von der Partei Repu­bli­ca­nos Unidos (Vereinigte Republikaner).

In den meisten Provinzen endeten diese Bündnisse allerdings in einem Fiasko und spalteten La Libertad avanza. „Diese Allianzen waren nicht tragfähig“, sagt Carlos Maslatón, ein mil­lio­nen­schwerer Anwalt, der als einer der wichtigsten liberalen Akteure des Landes gilt. Er hatte Milei vor den Provinzialwahlen beraten und die Verbindung von La Libertad avanza mit den Parteien „der Kaste“ argwöhnisch verfolgt.

Maslatón behauptet – wie viele andere, die aus La Libertad avanza ausgeschlossen wurden –, dass die Kandidaten in den Provinzen aufgrund ihrer „Kaufkraft“ ausgewählt wurden. Tatsächlich hat die argentinische Justiz nach zahlreichen Anzeigen wegen des „Verkaufs von Kandidaturen“ für Summen von 10 000 bis 100 000 Dollar am 7. Juli ein Verfahren eingeleitet. La Libertad avanza sei am Ende sogar „schlimmer als die Kaste“, schimpft Maslatón in dem Fünfsternehotel, in dem er sich mit uns verabredet hat, während er ein Brot mit Käse belegt.

Doch die Widersprüche in Mileis Neuer Rechten tun seiner Popularität keinen Abbruch. Angesichts von Mileis Erfolgs hatte Patricia Bullrich vor den Vorwahlen noch versucht, seine rebellischen Wähler mit einem immer wirtschaftsliberaleren Programm abzuwerben. Doch jetzt kommt es womöglich zu einer Annäherung zwischen alten und der neuen Rechten, weil der autoritäre Neoliberalismus im neoliberalen Autoritarismus einen Rettungsring sieht.

Aufgeschreckt von Mileis überraschendem Sieg bei den Vorwahlen und den eigenen schlechten Umfragewerten, scheint Bullrich dem „Löwen“ die Hand reichen zu wollen. Nach der Wahl gratulierte sie Milei zu seiner „großartigen Wahl“. „Er hat sich an der Debatte beteiligt und erklärt, dass er ebenso wenig wie wir will, dass der Staat zum Hort von La Cámpora wird“, erklärte sie.

Bislang lehnt Milei jedes Bündnis mit der Rivalin ab. Empfänglicher zeigt er sich hingegen für die Avancen eines anderen einflussreichen Rechten, Mauricio Macri, der sich, bevor er nach Marokko zur Bridge-Weltmeisterschaft flog, die Zeit für herzliche Glückwünsche nahm.

Früher hatte Milei den Ex-Präsidenten als „Verbrecher“ bezeichnet, nun führen die beiden „einen fruchtbaren Dialog“. Am 19. August hat ihm Milei im Fall seines Wahlsiegs sogar einen Posten als „Superbotschafter“ angeboten, um „Märkte zu erschließen“. Die Losung von La Libertad avanza – „Man kann Argentinien nicht ändern, wenn dieselben alten Leute bleiben“ – hat er wohl längst in den Wind geschlagen.

1 Chilenische Ökonomen, die an der Universität Chicago studiert hatten und von Milton Friedman und Arnold Harberger geprägt waren.

2 Siehe Carlos Gabetta, „Ökonomischer GAU in Argentinien“, LMd, Januar 2002.

3 Siehe Claudio Scaletta, „Déjà-vu in Buenos Aires“, LMd, November 2018.

4 „Qué es la casta, la palabra preferida de Javier Milei para cuestionar a todos los políticos“, a24.com, 13. August 2023.

5 Lucía Pereyra, „‚Anticasta y libertad‘: las razones detrás del apoyo de los jóvenes a Milei“, La Nación, Bue­nos Aires, 29. Januar 2023.

6 „Hay 5,9 millones de chicos pobres en la Argentina; es el 54,2% de los menores de 14 años de todo el país“, infobae.com, 31. März 2023.

7 „El 70 % de los jóvenes argentinos se iría del país según una encuesta realizada por la UBA“, infobae.com, 4. April 2023.

8 Juan González, „El Loco“, Buenos Aires (Editorial Planeta) 2023.

Aus dem Französischen von Claudia Steinitz

Anne-Dominique Correa ist Journalistin.

Le Monde diplomatique vom 12.10.2023, von Anne-Dominique Correa