10.06.2005

Selbstbedienung in der Südsee

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Selbstbedienung in der Südsee

Korrupte Herrscher, Putschisten und gierige Großmächte bestimmen die pazifische Politik von Jean-Marc Regnault

In die einstigen Kolonialgebiete der pazifischen Inselwelt, die zu einem großen Teil noch nicht unabhängig sind, fließt proportional mehr Entwicklungshilfe als in jede andere Weltregion. Dennoch hat sich ihre Situation nicht stabilisiert, auch dann nicht, wenn sie einen erweiterten Autonomiestatus erhielten oder in die Unabhängigkeit entlassen wurden.1 Allerdings gibt es zwischen den Territorien gewaltige Unterschiede. So verfügt etwa Französisch-Polynesien über ein höheres Pro-Kopf-Bruttosozialprodukt als das wohlhabende Neuseeland – jedoch nur dank der Zahlungen aus dem Mutterland. Andere wie Kiribati, die Salomonen, Samoa, Tuvalu und Vanuatu gehören hingegen zu den am geringsten entwickelten Ländern der Welt.

Solche statistischen Angaben relativieren sich zwar ein wenig, wenn auch Faktoren wie der Grad der Selbstversorgung und der gegenseitigen Hilfe in den Stammesgemeinschaften berücksichtigt werden. Doch andererseits geht aus einem UN-Bericht von 2003 hervor, dass die Salomonen, Vanuatu, die Marshallinseln und die Föderierten Staaten von Mikronesien innerhalb der letzten zehn Jahre ein Sinken des Lebensstandards hinnehmen mussten.2 Und die Asiatische Entwicklungsbank hielt in ihrem Bericht von 2004 fest, dass die meisten Bewohner Ozeaniens vor allem zwei Probleme haben: „… eine Einkommensquelle zu finden und Zugang zu sozialen Leistungen zu erhalten.“3

Deutlicher noch als anderswo hat sich in Ozeanien gezeigt, dass staatliche Entwicklungshilfe nicht die offiziell gewünschte Wirkung erzielt, sondern die Abhängigkeit vom Ausland verstärkt.4 Zum Teil fließen die Gelder in die Taschen einer korrupten lokalen Oberschicht. Dabei ist die schamlose Bereicherungsstrategie der Königsfamilie auf Tonga ein besonders drastisches Beispiel, aber ganz ähnlich funktioniert auch die wantok, die Günstlingswirtschaft auf Vanuatu.

Als eines der wichtigsten Geberländer besteht Australien inzwischen darauf, die Verwendung der Gelder selbst zu überwachen. Das bedeutet nicht unbedingt eine drastische Reduzierung, aber doch einen schrittweisen Abbau der Finanzhilfen. Zugleich hat Frankreich, das im Pazifikraum gern eigene Wege geht, die Verdopplung der Mittel für den 1987 geschaffenen „Fonds für wirtschaftliche Zusammenarbeit“ bekannt gegeben.5 Dass Paris die Verwendung dieser Gelder kontrollieren will, ist kaum anzunehmen.

Für weitere Probleme sorgt die politische Instabilität. Dazu gehören gewaltsame Auseinandersetzungen innerhalb von und zwischen den Volksgruppen, Aufstände und Bürgerkriege. Angesichts dessen stellt sich manchmal sogar die Frage, ob die Region überhaupt demokratiefähig ist.6

In Tonga zum Beispiel stützt sich die Monarchie auf einen Erbadel, der 21 der 30 Parlamentssitze für sich beansprucht – und es schon als maximalen Reformschritt betrachtet, dass es 2005 erstmals zwei nichtadlige Minister geben soll. Auf Samoa wurde zwar 1990 das allgemeine Wahlrecht eingeführt, doch als Kandidaten dürfen nur die matai, die Häuptlinge, antreten. Auch in anderen Gebieten, zu denen auch die französischen Territorien gehören, nimmt man es mit der Demokratie nicht so genau.

Und die Günstlingswirtschaft spielt überall eine entscheidende Rolle.7 Vor allem aus Tonga, Fidschi, Nauru, den Salomonen und Papua-Neuguinea kommen immer wieder Berichte über Pressezensur. Und die Regierungen in Paris duldeten im Überseeterritorium Wallis und Futuna stets die Einschränkungen der Informationsfreiheit durch die lokalen Herrscher.

Auf Fidschi hat ein Universitätsprofessor die wiederholten Staatsstreiche von 1987 mit dem Hinweis zu rechtfertigen versucht, die Demokratie sei mit der lokalen Tradition nicht vereinbar. Aufgrund ihrer puren Zahl würden die Indo-Fidschis, die aus Indien eingewanderte Arbeiterschicht, inzwischen die Bevölkerungsmehrheit stellen und die alteingesessenen Eigentümer der Produktionsmittel unter Druck setzen. Insofern diene die „Achtung der Menschenrechte“ als ein Instrument, den Melanesiern ihre Rechte zu nehmen.8

Die Mentalitäten, Lebens- und Denkweisen der Inselgesellschaften zu verstehen ist nicht einfach. Die christlichen Religionen spielen eine wichtige Rolle. Aber weit verbreitet ist auch die Ansicht, als Ozeanier dürften sich allein die Angehörigen der Völker bezeichnen, die diese Inseln als Erste besiedelten. In dieser Sicht gelten die „Weißen“ in Australien, Neuseeland, Neukaledonien und Französisch-Polynesien als „Fremde“, die sich nur als „geduldet“ betrachten dürfen. Besonders unwillkommen sind die Franzosen – vor allem nach den Atombombentests in Französisch-Polynesien und der bis 1988 üblichen Benachteiligung der Melanesier in Neukaledonien.

Australien kann sich bis heute nicht mit der Vorstellung anfreunden, dass die Inseln im Pazifik nicht in seinen regionalen Einflussbereich gehören und dass diese Kleinstaaten sich von der Vereinigung Südostasiatischer Staaten (Asean) Unterstützung für ihre Autonomiebestrebungen erhoffen. Dies steht den australischen Interessen in Papua-Neuguinea und auf den Salomonen eindeutig entgegen. Doch Australien wie auch Neuseeland nehmen andere Probleme in der Großregion wichtiger: die Krisen zwischen Indien und Pakistan sowie zwischen China und Taiwan, die Piraterie im Chinesischen Meer, die politische Instabilität auf den Philippinen und in Indonesien. Frankreich hat versucht, diese Situation auszunutzen, indem es sogar die Monarchie auf Tonga unterstützte oder undemokratische Entwicklungen wie den Staatsstreich von 1987 auf Fidschi hinnahm. Andererseits hat sich Paris stets mit Australien und Neuseeland abgestimmt, die in den französischen Besitzungen im Pazifik bis vor kurzem Inseln der Stabilität in der allgemeinen Krise sahen.9

Auch den USA kann nicht gleichgültig sein, was auf den Pazifikinseln nördlich des Äquators geschieht. Sie unterhalten Militärstützpunkte auf Guam und dem Atoll Kwajalein, das zu den Marshallinseln gehört und als Testgelände für Raketenstarts eine wichtige Rolle in ihrem „Star War“-Verteidigungskonzept spielt. Dennoch wurden US-Botschaften in der Region geschlossen, wurde Personal abgezogen und die Entwicklungshilfe deutlich reduziert.

Australien definiert seine Interessen neu

Diese Entwicklung hätte sich wohl fortgesetzt, wären nicht die Anschläge vom 11. September 2001 gewesen. Seither richten die Großmächte und die Vereinten Nationen wieder größere Aufmerksamkeit auf das pazifische Krisengebiet und wollen dort unbedingt mehr Einfluss nehmen. Vor allem die Haltung Australiens hat sich deutlicher gewandelt, und dies nicht nur aufgrund der Terroranschläge auf Bali vom 12. Oktober 2002, wo 88 der 202 Opfer Australier waren. Vielmehr orientiert sich Canberra zunehmend an Interessen seines Bündnispartners USA.

Noch Ende August 2001 hatte der konservative Ministerpräsident John Howard die Grenzen des australischen Engagement im Pazifik wie folgt dargestellt: „Australien ist weder willens noch in der Lage, die Entwicklung in der Region zu beeinflussen. […] Unabhängigkeit zu erlangen bedeutet schließlich auch, sein Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen.“ Inzwischen aber hat Canberra eine Menge unternommen, um „den Zerfall der kleinen ozeanischen Länder zu verhindern, der sie zur Zielscheibe für Aktionen krimineller oder terroristischer Organisationen und Einzeltäter machen könnte und damit unmittelbare Folgen für die Sicherheit in der Region haben würde.“10 Seit Howards triumphaler Wiederwahl am 9. Oktober 2004 hat sich ein noch engeres Verhältnis zum konservativen Kollegen George W. Bush hergestellt: Die USA und Australien nehmen die Verantwortung für die Geschicke in diesem Teil der Welt heute gemeinsam wahr.

Was der Kurswechsel Australiens bedeutet, zeigen die Ereignisse auf den Salomonen. Auf der Insel Guadalcanal im Osten des Archipels probten Milizen unter der Führung von Harold Keke den Aufstand. Sechs anglikanische Missionare kamen ums Leben, ein Dutzend Gefangene, darunter ein Minister, wurden exekutiert, und 1 500 Dorfbewohner flohen aus ihren niedergebrannten Ortschaften in die Hauptstadt. Australien beschloss, ein Militärkontingent auf die Insel zu entsenden. Hier drohe, erklärte Außenminister Alexander Downer, „ein Staatswesen im Chaos zu versinken, mit weitreichenden Folgen für Sicherheit und Stabilität in der Region“. Ende Juli 2003 traf die Interventionstruppe aus 1 500 Australiern, 140 Neuseeländern und Soldaten verschiedener Inselstaaten auf den Salomonen ein, und am 13. August gelang die Festnahme von Harold Keke.

Seither fühlt sich Australien für den Wiederaufbau des Landes verantwortlich. Dafür sind zehn Jahre veranschlagt. Bislang hat sich die Lage nicht beruhigt: Am Neujahrstag 2004 kam ein australischer Polizist bei einem Anschlag aus dem Hinterhalt ums Leben; für Australien ein Grund, noch mehr Truppen zu schicken.

Obwohl Australien ein Drittel der Kosten des Pacific Islands Forum (PIF) bestritt, schien Canberra in dieser Organisation keine maßgebliche Rolle zu spielen. Im Forum werden politische Fragen diskutiert; es ist eine Parallelorganisation zur einstigen Südpazifik-Kommission, die inzwischen Pazifische Gemeinschaft (PC) heißt und für ökonomische, soziale und kulturelle Belange zuständig ist. Seit der Gründung des Forums 1971 ist der Generalsekretär immer ein Ozeanier und sein Stellvertreter immer ein Australier oder Neuseeländer gewesen. Am 15. August 2003 machte Canberra den Diplomaten Greg Urwin zum Mitglied des Generalsekretariats – doch diese Ernennung vollzog sich nicht nach dem Pacific way, also offen und einvernehmlich, sondern durch geheime Wahl.

Australien verfolgt den Plan, eine permanente Einsatztruppe von etwa hundert Mann in Fidschi zu stationieren. Sie soll im Namen des Forums in ganz Ozeanien intervenieren können. Auf den Fidschis selbst hat ein Australier das Amt des Polizeipräsidenten übernommen. Seit kurzem sind dort auch sechs Australier als Berater der Armee und weitere sechs als Berater im Bereich der Justiz tätig. Eine neuere Entschließung des australischen Senats fordert, die Mitgliedsländer des Forums sollten sich wirtschaftlich enger zusammenschließen, nicht zuletzt durch eine gemeinsame Währung. Diese kann natürlich nur der australische Dollar sein.

In jüngster Zeit haben sich die Beziehungen zwischen Canberra und Paris auch durch die Ereignisse im Irak verschlechtert. Das hatte unter anderem zur Folge, dass Ministerpräsident Howard die vorgesehene Beteiligung französischer Truppen an der Kommandoaktion auf den Salomonen absagte. Am Wiederaufbau des Inselstaates soll Frankreich aber womöglich doch mitwirken.

Frankreich schickt Geld statt einer Verfassung

Soll man daraus schließen, dass Australien in einer Region, in der Militärs und Investoren ein Risiko sehen, tatsächlich wieder eine Art Kolonialregime einführen will? Damit will Canberra offenbar versuchen, Paris ins Abseits zu drängen. Die Zeit für gefährliche Experimente, wie sie noch die Regierung unter Lionel Jospin betrieb, ist offenbar vorbei. Die Verfassungsreform für Polynesien, die der Provinz ein Statut ähnlich dem von Neukaledonien hätte verschaffen sollen, steht nicht mehr auf dem Programm.

Im Februar 2004 wurde vielmehr ein neues Autonomiestatut beschlossen, das Polynesien stärker an Frankreich anbindet. Im Rahmen dieser begrenzten Autonomie sind reichlich neue Gelder geflossen. Man wollte damit die Vorteile einer engen Beziehung zum Mutterland deutlich machen. Das zielte vor allem auf die Bewohner von Neukaledonien, die nach dem Abkommen von Nouméa ab 2013 in einer Reihe von Volksbefragungen über ihr Verhältnis zu Frankreich abstimmen dürfen. Doch die Wahlen vom 23. Mai 2004 haben all diese Pläne durchkreuzt und Französisch-Polynesien erst einmal politische Instabilität gebracht. Ob die partiellen Neuwahlen am 13. Februar 2005 daran etwas ändern können, ist noch unklar – sie endeten mit einem Patt. Jedenfalls hat Frankreich mit seinem Vorgehen in Polynesien alle Versuche zuschanden gemacht, mit den anderen Mächten in der Region zu einer Übereinkunft zu kommen.

Hat die pazifische Inselwelt überhaupt ein Chance, zu Frieden und Wohlstand zu finden, ohne dass ihre traditionelle Lebensweise gänzlich den globalen Interessen zum Opfer fällt? Im Pazifik gibt es durchaus „alternative Kräfte“, die für dieses Ziel kämpfen. Den Medien sind die Oppositionellen kaum eine Meldung wert, doch die regionalen Großmächte nehmen sie so ernst, dass sie versuchen, ihnen das Leben schwer zu machen.

Fußnoten: 1 Jean-Marc Regnault, „Une zone d’instabilité: le Pacifique insulaire intertropical“, in „Cahier d’Histoire immédiate“ 25 (2004), S. 87–100. 2 „Tahiti Pacifique Magazine“ (Tahiti), August 2003. 3 „Les Nouvelles de Tahiti“ (Papeete), 23. April 2004. 4 In den 1980er-Jahren „bestritt die Mehrheit der pazifischen Nationen ihren Haushalt zu mindestens einem Drittel mit Hilfsgeldern aus dem Ausland; die Hälfte von ihnen sogar zu zwei Dritteln“. Zitiert nach: Ian C. Campbell, Jean Latouche, „Les insulaires du Pacifique“, Paris (PUF) 2001, S. 291. 5 Diese Vereinbarung wurde im Juli 2003 getroffen, als Staatspräsident Chirac in die ozeanischen Gebiete reiste. 6 Frédéric Angleviel (Hrsg.), „Violences océaniennes“, Paris (L’Harmattan) 2004, S. 234. 7 Jean-Marc Regnault, „Le pouvoir confisqué en Polynésie française. L’affrontement Temaru/Flosse“, Paris (Les Indes savantes) 2005, S. 184. 8 Asesela Ravuvu, „The Facade of Democracy. Fidjian Struggles for Political Control, 1830–1987“, Suva 1991, S. 101. 9 Die verschiedenen Institutionen, die in dieser Region tätig sind, erhalten auch erhebliche Finanzmittel von Frankreich. 10 „La Dépêche de Tahiti“ (Papeete), 14. 8. 2003. Aus dem Französischen von Edgar Peinelt Jean-Marc Regnault ist Dozent am Institut für interdisziplinäre Forschung zur Entwicklung der Inseln im Pazifikraum (Iridip) an der Universität von Französisch-Polynesien. 2003 gab er heraus: „François Mitterrand et les territoires français du Pacifique (1981–1988). Mutations, drames et recompositions“. Soeben erschien: „Le pouvoir confisqué en Polynésie Française. L’affrontement Temaru– Flosse“, Paris (Les Indes savantes) 2005.

Le Monde diplomatique vom 10.06.2005, von Jean-Marc Regnault