Jeder Rentner ist sich selbst der Nächste
Die neo-konservativen Pläne der Bush-Regierung von George Ross
Im November 2004 verkündete George W. Bush, mit seiner Wiederwahl habe er sich ein „politisches Kapital verdient“, das er auch zu investieren gedenke. Mit einem neuen Mandat ausgestattet und mit einer Mehrheit in beiden Häusern des Kongresses im Rücken, kündigte Bush denn auch sofort eine Reihe innenpolitischer Reformen an. Die wichtigste ist sein Plan, das System der öffentlichen Sozialversicherung (social security) umzubauen, jenes allgemeine staatliche Rentensystem also, das ein überaus bedeutsames sozialpolitisches Instrument im Sinne von kollektiver Solidarität und Risikoverteilung darstellt.
Der Präsident kündigte weiter an, mit Hilfe dieser Reformen wolle er die Grundlage für eine von ihm so genannte Eigentümergesellschaft schaffen. Unter den Bush-Gegnern in aller Welt ist es schick, den US-Präsidenten als einen sprachlich überforderten und intellektuell minderbemittelten imperialistischen Haudrauf zu sehen. Doch die Konzeption einer „Eigentümergesellschaft“ ist das Herzstück einer raffinierten neokonservativen Vision, deren Ziel eine radikale Umgestaltung der innenpolitischen Landschaft ist, die sich deutlich von einem ordinären Neoliberalismus abhebt – und die daher auch auf internationaler Ebene enorme Bedeutung gewinnen kann.
Von den drei Säulen des US-Rentensystems ist die allgemeinen Sozialversicherung die wichtigste. Dieses staatliche Rentensystem ist zugleich die bedeutendste sozialpolitische Errungenschaft der Roosevelt-Ära von 1933 bis 1945 und orientiert sich am Modell der Bismarck’schen Rentenversicherung. Sie garantiert Menschen eine Altersversorgung, die durch eine bestimmte Lebensarbeitszeit einen entsprechenden Anspruch erworben haben.1
Die allgemeine Sozialversicherung stellt ein direkt aus den Beiträgen finanziertes System dar. Was jährlich an Beiträgen aus den Arbeitseinkommen eingenommen wird – derzeit von Arbeitgeber- wie von Arbeitnehmerseite je 6,2 Prozent der Lohnsumme, wobei Arbeitnehmer bis zu einem zu versteuernden Jahreseinkommen von 90 000 Dollar versicherungspflichtig sind –, fließt unmittelbar an die Rentner. Die Altersbezüge liegen niedrig, bei etwa 25 bis 30 Prozent der zuletzt erreichten Gehaltshöhe, allerdings mit zusätzlichen Leistungen für Witwen und Invaliden. Dennoch hat diese Altersversorgung seit den 1930er-Jahren die Altersarmut, die zuvor ein großes soziales Problem gewesen war, merklich reduziert.
Diese Sozialversicherung ist nicht nur das wichtigste Element des sozialstaatlichen Systems der USA, sondern auch das größte Programm, das auf den Prinzipien gesamtgesellschaftlicher Solidarität und eines staatlich organisierten Risikoausgleichs beruht. Heute allerdings steht dieses System, wie die öffentliche Altersversorgung in Europa auch, vor großen Finanzierungsproblemen. Da die Menschen länger leben, wird das Verhältnis von arbeitenden Beitragszahlern zu Rentenempfängern ungünstiger.
Derzeit gehen die Generationen des Babybooms der 1960er- und 1970er-Jahre, deren Beiträge die Altersbezüge der Rentner jahrzehntelang finanziert hatten, selbst in den Ruhestand, während der Anteil der erwerbstätigen Bevölkerung schrumpft. Die jüngste offizielle Schätzung geht davon aus, dass die Zahlungen aus dem Sozialversicherungsfonds bereits 2018 das Beitragsaufkommen übersteigen werden. Bis 2042 könnte das ganze System bankrott sein.
Präsident Bush hat sich aus diesen Annahmen ein „Krisenszenario“ gebastelt, mit dem er eine neokonservative Reform des Sozialversicherungssystems vorantreiben will. Im Zentrum dieses Plans steht die Idee, dass jüngere Arbeitnehmer 4 Prozent ihrer Lohnsteuer – und zunächst jährlich maximal 1 000 Dollar – in ein privates „persönliches Rentenkonto“ einzahlen.
Der Markt ersetzt den Generationenvertrag
Dieses Konzept will er mit folgenden Argumenten verkaufen: Erstens würden solche nach Marktprinzipien organisierten Konten höhere Erträge abwerfen als die Treuhandfonds der staatlichen Sozialversicherung, die nur in ertragsschwache Staatspapiere investieren dürfen. Ältere Arbeiter, deren Bezüge auf dem existierenden Niveau garantiert sein sollen, wären an diesem neuen System nicht beteiligt. Auch jüngere Arbeitnehmer könnten sich für das existierende System und gegen ein persönliches Konto entscheiden, werden dies aber wahrscheinlich nicht tun, weil sie Zweifel an der Überlebensfähigkeit der staatlichen Sozialversicherung haben und davon ausgehen, dass ihre Altersbezüge im Lauf der Zeit gekürzt werden.
Zweitens würde der Vorteil des neuen Systems für den Inhaber des Rentenkontos darin bestehen, dass ihm die Einlagen „persönlich gehören“ und dass er entscheiden kann, wie diese Gelder angelegt werden sollen. Und drittens hat der Bush-Plan eine wichtige Dimension, die ihn für viele – insbesondere auch für manche Demokraten – annehmbar machen könnte. Er sieht die schrittweise Einführung einer „progressiven“ Reduzierung der Altersbezüge für die Mittelklassen vor, wobei mit den eingesparten Geldern für ärmere Beitragszahler, denen die Behörden Bedürftigkeit bescheinigen, eine Mindestrente finanziert werden soll.2
Die Gegner des Bush-Plans argumentieren zunächst prinzipiell: Kollektive Solidarität und ein gesamtgesellschaftlicher Risikoausgleich seien bewährte Ansätze, an denen man besser nichts ändern sollte. Außerdem gehen viele Kritiker davon aus, dass es die „Krise“ des Sozialversicherungssystems gar nicht gibt und dass eine „Anpassung“ des bestehenden Systems die Probleme zumindest mittelfristig beherrschbar macht. So könnte man etwa das Rentenalter anheben und die Möglichkeiten der Frühverrentung einschränken, was weitere Mittel frei machen würde.
Auch könnten die Lohnsteuersätze steigen und könnte die Obergrenze für die obligatorische Altersversicherung deutlich über die geltenden 90 000 Dollar Jahreseinkommen angehoben werden, um auch Besserverdienende heranzuziehen. Des Weiteren berufen sich die Gegner des „persönlichen Kontos“ auf die Erkenntnisse von Ökonomen, wonach neue Investoren an den Aktien- und Rentenmärkten aufgrund falscher oder unzureichender Informationen falsche Entscheidungen treffen und damit Geld verlieren könnten.
Der wichtigste praktische Einwand gegen den Bush-Plan betrifft jedoch die Kosten des Systemwechsels. Denn zunächst werden die Beiträge statt in die allgemeine Sozialversicherung, die noch die laufenden Renten zahlt, auf die persönlichen Konten umgeleitet. Dies würde eine Finanzierungslücke von mehr als einer Billion Dollar aufreißen. Wo das Geld herkommen soll, ist noch völlig unklar. Die Regierung denkt offenbar an eine höhere Staatsverschuldung – just in einer Zeit, da Bush mit seinen Steuerkürzungen bereits ein fatal hohes Staatsdefizit herbeigeführt hat.
Diese Einwände und Gegenvorschläge basieren auf der Annahme, dass es der Bush-Regierung darum gehe, das dauerhafte Überleben des Sozialversicherungssystems zu sichern. Doch das Hauptziel dieser Reform ist ein ganz anderes: Sie will die Verpflichtung auf die Prinzipien der Solidarität unter den Staatsbürgern und des sozialen Risikomanagements durch die öffentliche Hand untergraben und letztlich abschaffen. Bush selbst hat es in seiner schlichten Art so ausgedrückt: „Wer etwas besitzt, hat ein vitales Interesse an der Zukunft unseres Landes. Je mehr Besitz es in Amerika gibt, umso mehr Vitalität haben wir, und umso mehr Menschen haben ein vitales Interesse an der Zukunft unseres Landes.“3
Ein Gegenteil von neoliberal
Entscheidend ist dabei, privates Eigentum so stark wie möglich in der Gesellschaft zu verankern, das heißt über den Besitz des eigenen Hauses hinaus (69 Prozent der US-Bürger haben ein eigenes Haus, das ihren größten Vermögenswert darstellt) auf andere Werte wie Aktien und Rentenpapiere auszuweiten. Die vorgeschlagenen persönlichen Altersvorsorgekonten sollen dieses Projekt vorantreiben. Und die „progressive“ Umverteilung der Leistungen, die im Lauf der Zeit erfolgen soll, hat zwar angeblich zum Ziel, die langfristigen Finanzierungsprobleme der Sozialversicherung zu beheben, aber sie soll auch die mittleren Einkommensklassen stärker als bisher in die private Alterssicherung hineindrängen. Damit würden sich aber zugleich die Vorbehalte dieser Mittelklasse gegenüber den Subventionen für die Armen derart verstärken, dass die Unterstützung für die Logik der solidarischen Versicherung auf breiter Front schwinden dürfte.
Hinter diesem ganzen Konzept steht eine auf John Locke (1632–1704) zurückgehende Überzeugung, die bei vielen Amerikanern eng mit dem historischen „New Frontier“-Erlebnis zusammenhängt. Demnach gehen die Besitzer von Eigentum, ob Einzelpersonen oder Familien, mit ihrem Besitz sorgsamer um als die Regierung. Deswegen fördern Regierungsprogramme die Fähigkeiten der Menschen nicht, sondern machen die Empfänger nur abhängiger.
Wahre „Freiheit“, um Bushs Lieblingswort zu benutzen, beruht auf den Ressourcen und der Fähigkeit, grundlegende Entscheidungen im Hinblick auf die individuelle wie die Zukunft der Familie selbst zu treffen. Diese Begriffe verhalten sich spiegelverkehrt zu den Vorstellungen des „linksliberalen Lagers“ der USA und der europäischen Sozialdemokraten, die angesichts sozialer Ungerechtigkeit, versagender Marktmechanismen und der Notwendigkeit, das „Gemeinwohl“ zu sichern, auf staatliche Intervention, Schutzprogramme und öffentlicher Leistungen setzen.
Bei alldem darf man eines nicht außer Acht lassen: Die „Eigentümergesellschaft“ ist eine neokonservative und nicht etwa eine neoliberale Formel im Sinne der Thatcher-Politik.4 Besonders deutlich wird dies an der Rolle der Regierung, die nach Auffassung der Neokonservativen an vielen Stellen auf die Gesellschaft einwirken muss, um den Bürgern auf die Sprünge zu helfen – sie also zu motivieren, Besitz zu akkumulieren und ihnen beizubringen, wie man diesen intelligent investiert. Daraus ergibt sich ein weiterer Unterschied hinsichtlich der Haushaltspolitik. Solche neokonservativen Programme können gigantische neue Staatsausgaben nötig machen. Die Neokonservativen betreiben also nicht nur auf internationaler Ebene eine aktive Interventionspolitik, sondern auch innenpolitisch – zumindest insoweit, als sie „freie“ neokonservative Individuen schaffen wollen, denen moralische Kategorien einer umfassenden gesellschaftlichen Solidarität zuwider sind.
Die USA haben ihren „New Deal“ und ihren „Fair Deal“ erfunden, sie hielten es mit der „Great“ und der „Good Society“, mit dem „Compassionate Conservatism“ und ähnlichen Parolen.5 Deshalb könnte man die „Eigentümergesellschaft“ als eine der rhetorischen Formeln abtun, die von den Regierungen in Washington ständig produziert werden, um die Banalität oder die Leere ihrer Programme möglichst bombastisch zu überdecken. Doch man würde die Durchschlagskraft der US-Neokonservativen unterschätzen, wenn man dieses Schlagwort oder zumindest die ihm zugrunde liegenden Vorstellungen nicht ernst nehmen würde. Ebenso wichtig ist die Erkenntnis, dass die Bush-Meute die aktuellen Trends in der politischen Landschaft und in der Gesellschaft wittert, die unter den geeigneten Umständen eine neue Strategie zur Durchsetzung der Eigentümergesellschaft möglich machen könnten.
Zunächst einmal ist daran zu erinnern, dass die Wähler in den USA George W. Bush und den Kongressfraktionen der Republikaner einen rauschenden Wahlsieg beschert haben. Allein dies zeigt schon, dass der innenpolitische Widerstand gegen ein neokonservatives Programm nur sehr schwach ausgeprägt ist. Hinzu kommt, dass es in den USA für eine Eigentümergesellschaft ein solides Fundament gibt, insofern das Engagement für umfassende Sozialprogramme immer höchst begrenzt war. In der jüngeren Geschichte hat es so etwas wie eine gesamtgesellschaftliche Solidarität im Grunde nur für die Gruppe der Älteren gegeben.
Dagegen waren die Programme zugunsten der Einkommensschwachen – trotz weit verbreiteter Armut – erstens knapp gehalten und zweitens als Strafe konzipiert, das heißt weniger auf Integration als auf Stigmatisierung angelegt. Die Krankenversicherung ist eher privat als öffentlich organisiert, wobei dennoch 15 Prozent der Bevölkerung ohne jeden Versicherungsschutz bleiben. Dazu ist sie teurer als irgendwo sonst auf der Welt und erwiesenermaßen äußerst ineffizient.6
Selbst die „working poor“ sollen Eigentum erwerben
Die Reformen der jüngsten Zeit haben diese Tendenzen noch gefördert und zugespitzt. Als die von Clinton geplante Gesundheitsreform den Bach runterging, blieb den meisten Amerikanern nur die individuelle Entscheidung für eines von vielen privaten Versicherungsprogrammen. Deren Palette reicht von äußerst luxuriösen bis zu minimalistischen Lösungen. Der Rest blieb mangels finanzieller Ressourcen völlig unversichert.
Die Reform des sozialen Systems von 1995 verschärfte die Straffunktion des Armutsbekämpfungsprogramms und verstärkte die Anreize in Richtung einer „Eigentümergesellschaft“ sogar für die working poor, die Beschäftigten mit geringem Lohneinkommen.7 Das Gesetz über verschreibungspflichtige Arzneimittel, das Bush in seiner ersten Amtsperiode auf den Weg brachte, führte teure Programme ein, die den älteren Bürgern einen Teil ihrer medizinischen Ausgaben ersetzen und zugleich starke Anreize enthalten, um sie in private Krankenversicherungen zu drängen.
Zudem wurden eine Reihe ergänzender Steuergesetze verabschiedet, die ebenfalls in Richtung „Eigentümergesellschaft“ weisen. Sie brachten etwa größere Steuerersparnisse für Leute, die Hypotheken aufnehmen oder wohltätige Spenden geben, billige Kredite, die einen Teil der Studiengebühren abdecken sollen, sowie verschiedene Arten von „Vouchers“ und andere Instrumente, die eine „individuelle Wahl“ der schulischen Ausbildung begünstigen sollen.8
Für solche Reformen in Richtung einer „Eigentümergesellschaft“ findet die Bush-Mannschaft einen fruchtbaren sozialen Untergrund vor. Gut bezahlte industrielle Arbeitsplätze werden in rasantem Tempo abgebaut; das Ergebnis sind immer mehr working poor, die kaum gewerkschaftlich organisiert sind und nur selten zur Wahl gehen. Die Gruppen, die politisch und gesellschaftlich zählen, machen die solide „Mittelklasse“ aus. Diese umfasst die obersten 20 Prozent der Einkommensempfänger wie auch etwas weniger bemittelte Schichten, die aber reale oder eingebildete Gründe für die Erwartung haben, dass sie oder ihre Kinder einmal in die Mittelklasse aufsteigen.
In den heutigen USA ist diese politisch entscheidende Mittelklasse gezwungen, auf den Erwerb der Art von „Vermögenswerten“ zu setzen, die von den Verfechtern der „Eigentümergesellschaft“ propagiert werden, also von privaten Immobilien, die mit der Zeit an Wert gewinnen, persönlichen Ersparnissen (in der Regel in Gestalt privater Pensionspläne) und Steuerkrediten für die Versorgung und Ausbildung der Kinder. Hinzu kommt, dass die Einkommen in den USA seit 1980 immer ungleicher geworden sind als in anderen reichen Gesellschaften (wo die Ungleichheit ebenfalls erheblich zugenommen hat), während sich zugleich die soziale Mobilität erheblich verlangsamt hat.9
Diese Entwicklungen haben zu einer neuen Unsicherheit beigetragen und bei der Mittelklasse einen wilden Ehrgeiz geschürt, die eigenen materiellen Erfolge an den Nachwuchs weiterzugeben. Das gilt vor allem für die Leute, die bereits genügend „Werte“ angesammelt haben, um aussichtsreiche Investitionen in den relativen Erfolg ihrer Kinder vorzunehmen. Diese Familien mit den nötigen Mitteln denken lange und gründlich darüber nach, wo sie ein Haus kaufen, damit sie die Chancen ihrer Kinder verbessern, in sicherer Umgebung aufzuwachsen und gute Kindergärten, Schulen und nachbarschaftliche „Netzwerke“ vorzufinden. Die besten US-Universitäten eröffnen die besten Karrierechancen, doch die Aufnahmekriterien sind streng, weshalb die Eltern über Jahre hinweg gezielte Förderungsprogramme organisieren. Doch da die Spitzenuniversitäten private Unternehmen sind und pro Studienjahr mindestens 40 000 Dollar kosten, haben sich US-Bürger der Mittelklasse damit abgefunden, dass sie im Alter von 45 oder 50 Jahren einen Teil ihrer Immobilien verkaufen oder Kredite aufnehmen müssen, um den Kindern „das College zu zahlen“.
Die Hoffnung auf sozialen Aufstieg ist in den heutigen USA zu einer Art „Würfelspiel“ geworden, wobei der finanzielle Einsatz sehr hoch, der Erfolg aber in keiner Weise garantiert ist. Und schließlich ist auch das Ende des ganzen Spiels – in Form eines langen und auskömmlichen Ruhestandes – nur selten gesichert. Doch das ganze System verstärkt entschieden die Parole „Jeder ist sich selbst der Nächste“, mit der auch die Werbung für die „Eigentümergesellschaft“ arbeitet.
Science-Fiction? Die Neue Rechte meint es ernst
Das Konzept mag schrecklich sein und nach politischer Science-Fiction klingen – doch für die heutigen USA ist die „Eigentümergesellschaft“ keineswegs eine nur entfernte Möglichkeit. Bei allen Erfolgen, die sie schon errungen hat, ist die US-amerikanische Neue Rechte immer noch hungrig, ehrgeizig und intellektuell ernst zu nehmen. Die geschlagene Linke einschließlich der Demokratischen Partei ist schwächer und intellektuell ärmer, als es ihr selbst – und den meisten ausländischen Beobachtern – bewusst ist.
Viele Amerikaner wissen, dass ihnen die harte neoliberale Politik, die das Wall Street Journal und andere Organe der Wirtschaft propagieren, ein sehr hartes Leben bringen wird. Diese Sackgasse der konservativen Strategie vermeidet die „Eigentümergesellschaft“, indem sie einen aktiven Staat und öffentliche Ausgaben zulässt, die Rahmenbedingungen schaffen sollen, innerhalb deren die Bürger sich für die ein oder andere Art von Investitionen ihrer privaten Mittel entscheiden. Die zentralen Begriffe dieses Konzepts plädieren denn auch eher auf einer moralischen – und nicht so sehr auf einer ökonomischen oder religiösen – Ebene für eine neue „rechte Gesellschaftsordnung“. Sie liefern also die ethische Rechtfertigung für eine Gesellschaft, die Armut stigmatisiert, einen von der Mittelklasse getragenen Konsens herstellt und es den Reichen gestattet, noch reicher zu werden.
Dass das heutige Amerika marschiert – und zwar im Wortsinne –, bekommen allemal diejenigen mit, die das Geräusch ihrer Marschstiefel im Ohr haben. Wenn man Amerika verstehen will, muss man aber erkennen, dass es auch im metaphorischen und kulturellen Sinne marschiert, und zwar in dem Takt, der durch die Dynamik der Globalisierung vorgegeben wird. Freilich hat man bisher über die neokonservative Musik, die diesen Marsch begleitet, noch nicht hinreichend nachgedacht. Wer die neokonservative Schule amerikanischen Typs als naives Hayek’sches Credo abtut, wonach die Märkte alle Probleme lösen, verhält sich auf gefährliche Weise kurzsichtig. Entsprechend ihrer besonderen Sicht der Welt muss man sie als eine aktivistische, staatlich gesteuerte und oft sehr teure Interventionspolitik ansehen, mit dem Ziel, eine Massenbasis zu schaffen und zu erhalten, die alles ablehnt, was nach „kollektiv“ riecht, egal ob es sich um Konzepte der Vergangenheit (wie die Sozialversicherung) oder um Rezepte für die Zukunft handelt.
Und wenn „die Leute“ dieses Konzept noch nicht zurückweisen, dann geht es jetzt eben darum, „die Leute zu verändern“, bis sie mitmachen. Die geplante Reform der Sozialversicherung wird womöglich kurzfristig, während der Amtszeit von George W. Bush, noch nicht zustande kommen, weil sie nach wie vor ein viel zu heißes Eisen ist. Doch das neokonservative Gedankengut hat bei der Eroberung Amerikas schon große Erfolge erzielt, und es wäre ausgesprochen töricht, darauf zu setzen, dass diese Vision irgendwann wieder in der Versenkung verschwindet.
Wahrscheinlich werden die USA sehr hartnäckig versuchen, das Konzept der „Eigentumsgesellschaft“ als Modell für die Organisation des sozialen und des politischen Systems auch zu exportieren. Wichtige Interessengruppen außerhalb der USA und insbesondere in Europa könnten veranlasst werden, sich mit diesem Modell anzufreunden. Es steht also sehr viel auf dem Spiel – das Jahrhunderte währende Bemühen, den Kapitalismus zu humanisieren und zu demokratisieren. Die Gefahr steht uns deutlich vor Augen, doch vorgewarnt sein bedeutet leider nicht automatisch, dass wir dagegen auch gewappnet sind.