Doppelt blinde Tests in Afrika
Wenn Pharmafirmen Medikamente testen, müssen sie sich an Standards halten – in Entwicklungsländern nehmen sie es damit nicht so genau von Jean-Philippe Chippaux
Wegen schwer wiegender ethischer Bedenken hat Nigeria im März die klinischen Tests mit dem antiretroviralen Aidsmedikament Tenofovir® eingestellt. Auftraggeber der von Family Health International durchgeführten Versuchsreihen war das amerikanische Pharmaunternehmen Gilead Sciences, finanziert wurden sie von der US-Regierung und der Bill-und-Melinda-Gates-Stiftung. Ebenfalls abgebrochen wurden die Tests in Kamerun (Februar 2005) und Kambodscha (August 2004)1 , fortgeführt werden sie in Thailand, Botswana, Malawi, Ghana und den USA.
Im August 2001 hatte eine Versuchsreihe mit einem anderen Medikament wegen unerwünschter Nebenwirkungen ein Nachspiel vor einem New Yorker Gericht gehabt. Rund dreißig nigerianische Familien hatten gegen den US-Pharmariesen Pfizer geklagt, weil er während der Meningitisepidemie 1996 das nicht zugelassene Medikament Trovan® an 200 Kindern getestet hatte. Elf Kinder starben im Laufe der Behandlung, bei anderen blieben schwere Gehirnschäden und motorische Einschränkungen zurück.
Überall in den Ländern des Südens testen Pharmaunternehmen ihre Neuentwicklungen, ohne auf die sonst üblichen ethischen Maßstäbe oder auf das Wohl der Patienten Rücksicht zu nehmen. Die Versuche werden ohne Einwilligung der Versuchspersonen durchgeführt, es gibt nur unzureichende Risikoaufklärung und therapeutische Kontrollen, der unmittelbare Nutzen für die Patienten und die Bevölkerung ist gering. Dabei sind klinische Tests durch ein streng formalisiertes Verfahren geregelt, mit dem jedes neue Medikament vor der Vermarktung auf seine Wirksamkeit und Verträglichkeit geprüft werden muss. Weltweit werden Jahr für Jahr knapp 100 000 klinische Tests durchgeführt, jeder zehnte davon in den Entwicklungsländern und jeder tausendste in Afrika. Die Zahl der Tests, die mit öffentlichen und privaten US-Geldern außerhalb der Vereinigten Staaten finanziert werden, stieg von 271 im Jahr 1990 auf 4 458 im Jahr 1999.2
Die „evidenzgestützte Medizin“3 , die mit statistischen Aufzeichnungen und empirischen Versuchsreihen arbeitet, hat sich im Westen gegen Ende des 19. Jahrhunderts durchgesetzt. Der Aufschwung der Medizinethik nach dem Zweiten Weltkrieg – als erstes einschlägiges Dokument wurde im Anschluss an den Ärzteprozess 1946/47 vor dem Internationalen Militärtribunal der Nürnberger Kodex verabschiedet – machte sich im Pharmabereich jedoch nur langsam bemerkbar. Wiederholte Skandale und Unglücksfälle führten dann aber zur Ausarbeitung verbindlicher Regeln. Mehrere internationale Erklärungen ergänzten und vervollständigten den Nürnberger Kodex: Die Deklaration des Weltärztebunds von Helsinki 1964 präzisiert die ethischen Grundsätze medizinischer Forschung; die Erklärung von Manila 1981 bezieht sich insbesondere auf klinische Tests in Entwicklungsländern. Das Dokument fordert kompetente Versuchsleiter, die informierte Einwilligung der Testpersonen, vertrauliche Behandlung von Personendaten und Schutz der Probanden. Allerdings handelt es sich dabei lediglich um Empfehlungen; Sanktionen für den Fall der Nichtbeachtung sind nicht vorgesehen.
In Frankreich gehören klinische Tests und standardisierte Testverfahren heute zu der üblichen Zulassungsprozedur, nachdem es zwischen 1950 und 1980 eine Serie von Arzneimittelskandalen gegeben hatte. Genannt seien die Stalinon-Affäre von 1955 (dem Antiseptikum fielen 102 Patienten zum Opfer), die Contergan-Affäre (zwischen 1957 und 1962 kamen in Frankreich 12 000 Kinder mit Missbildungen zur Welt) und der Morhange-Skandal (das Babypuder führte bei 145 Neugeborenen zu Vergiftungserscheinungen und bei 36 Kindern zum Tod). Erst mit dem Huriet-Serusclat-Gesetz vom 20. Dezember 1988 wurden die ethischen Erfordernisse rechtlich festgeschrieben.
Die medizinischen und pharmazeutischen Vorschriften in Afrika stammen, sofern überhaupt welche existieren, aus der Kolonialzeit und sind veraltet oder unangemessen. Die Gefahr medizinethischer Verfehlungen ist dabei umso größer, als die westlichen Pharmakonzerne ihre Versuchsreihen mehr und mehr auf den Schwarzen Kontinent verlagern, weil sie dort fünfmal billiger kommen als im Westen. Überdies sind die epidemiologischen Verhältnisse in Afrika vielfach günstiger für Versuchsreihen, da insbesondere Infektionskrankheiten wesentlich häufiger auftreten und die Symptome – anders als im Westen – nicht schon durch verschiedene Behandlungen abgeschwächt oder verfälscht sind. Erleichtert werden klinische Tests schließlich auch durch die Not der Patienten, die angesichts der unzureichenden Gesundheitsversorgung die Behandlung bereitwillig über sich ergehen lassen.
Diese Situation lädt förmlich dazu ein, die ethischen Grundsätze zumindest nicht strikt einzuhalten. Bei den erwähnten Trovan-Tests erfuhren weder die nigerianischen Behörden noch die nationale Ethikkommission, was die betroffenen Familien gesagt bekamen und wie ihre Einwilligung zustande kam. Ebenso wenig entsprachen die Tenofovir-Tests, die zwischen Juli 2004 und Januar 2005 an 400 Prostituierten durchgeführt wurden, in irgendeiner Weise ethischen Grundsätzen. Das antiretrovirale Medikament hemmt die Übertragung des SIV-Virus, das bei Affen zu ähnlichen Symptomen führt wie das HIV-Virus bei Menschen. Der Hersteller wollte die Wirksamkeit des Medikaments beim Menschen testen und hatte sich dafür ausgerechnet eine HIV-Risikogruppe ausgesucht.
Die freiwilligen Probandinnen erhielten vorab nur ein englisches Informationsblatt, dabei sprechen die meisten von ihnen nur Französisch und sind des Schreibens und Lesens unkundig. Nach Angaben der Organisationen „Act up Paris“ und „Réseau Camerounais Éthique, Droit et Sida“ (Reds) glaubten die Frauen sogar, dass sie an einer Impfung teilnehmen. Einige von ihnen bekamen zur Gegenprobe ein Placebo verabreicht, aber weder die medizinische Nachsorge noch die Aidsprävention wurden verstärkt. Die nationale Ethikkommission Kameruns zeigte sich angesichts dieses Vorgehens merkwürdigerweise nicht beunruhigt. Dabei besteht „zwischen der Prävention von Krankheiten und dem Testen präventiver Medikamente ein offensichtlicher Interessenkonflikt“, wie Fabrice Pilorgé von Act up Paris unterstreicht, zumal solche Versuche „nur dann aussagekräftige Ergebnisse erzielen, wenn die Frauen dem Erreger ausgesetzt sind und sich auch infizieren“.
Bereits 1964 hatte der Weltärztebund in seiner Helsinki-Erklärung die Einrichtung von Ethikkommissionen empfohlen. Sie haben die Aufgabe, vor Testbeginn zu prüfen, ob die Untersuchung in dem konkreten sozialen und wirtschaftlichen Umfeld überhaupt durchführbar und Erfolg versprechend ist. Auch in den afrikanischen Ländern entstanden in den letzten zehn Jahren solche Ethikkommissionen, die jedoch häufig mit zu wenig Kompetenzen und finanziellen Mitteln ausgestattet sind.4
Klinische Tests sind gerade auch in Afrika unumgänglich, zumal sich hier spezifische Krankheitsbilder ausprägen. Die Frage ist nur, ob diese Tests die Anforderungen der medizinischen Kontrollorgane und der so genannten Arzneimittelaufsicht erfüllen. Von den 1 450 neuen Medikamenten, die zwischen 1972 und 1997 auf den Markt kamen, dienen nur 13 der Behandlung tropischer Krankheiten.5 Die Pharmaindustrie entscheidet eben selbst, welche Medikamente sie entwickeln und testen will. Und während sie vor allem die Amortisierung ihrer Investitionen im Blick hat, sind die Regionalbehörden kaum in der Lage, eine klare und stimmige Medikamentenpolitik zu entwickeln und die Aktivitäten der Pharmafirmen wirksam zu kontrollieren.
Der Interessenkonflikt zwischen Wissenschaft und Wirtschaft tritt in den chronisch armen Entwicklungsländern überaus krass zutage, weil in der Pharmaindustrie bekanntlich gigantische Summen auf dem Spiel stehen. Ende der 1990er-Jahre lag der Weltumsatz der Pharmakonzerne (380 Milliarden Euro) weit über dem kumulierten Bruttoinlandsprodukt aller subsaharischen Länder (300 Milliarden Euro). Der klinische Test von Trovan war nach wissenschaftlichen Kriterien vielleicht gerechtfertigt, weil man damit die Wirksamkeit des Meningitismedikaments unter einheitlichen Bedingungen an einer ausreichenden Zahl von Patienten (200 Kindern) überprüfen konnte. Doch die Frage, ob sich die afrikanische Bevölkerung das Medikament überhaupt je wird leisten können, war für die Organisatoren des Tests völlig unerheblich.
Und auch über die Einsatzmöglichkeiten von Tenofovir machte man sich keine Gedanken. Zwar bestätigten die klinischen Tests, dass Tenofovir die HIV-Übertragung hemmt, doch ob es in Afrika zur Aidsprophylaxe taugt, scheint angesichts der schier unüberwindlichen Probleme, die die Behandlung von Krankheiten im Allgemeinen und schon der zuverlässige Gebrauch der weit kostengünstigeren Präservative in Afrika bereitet, überaus fraglich zu sein. Die Erfahrungen mit der Malariaprophylaxe zeigen, dass es illusorisch ist, von täglicher Medikamenteneinnahme auszugehen, vor allem wenn das Mittel viel Geld kostet und der Behandelte sich – jedenfalls vorerst – für gesund hält. Manche Stimmen behaupten daher, Tenofovir sei nur deshalb in südlichen Ländern – und ausgerechnet an Prostituierten – getestet worden, weil es dort möglich ist, ohne großen Verwaltungsaufwand und hohe Kosten rasch zu aussagekräftigen Ergebnissen zu gelangen.
Einige Wissenschaftler wie der Generaldirektor des Pariser Institut Pasteur, Philippe Kourilsky, meinen zwar, dass die Dringlichkeit der Gesundheitsprobleme in der Dritten Welt eine Aufweichung der Testvorschriften rechtfertige,6 doch das Vorsichtsprinzip aus Kostengründen hintanzustellen bedeutet im Grunde, mit zweierlei Maß zu messen. Dann hätte im Norden die prophylaktische oder therapeutische Qualität den Vorrang, im Süden hingegen zählten Kaufkraftüberlegungen mehr als Sicherheitsstandards. Am Ende bekommt die Bevölkerung nur das, was sie bezahlen kann.
Auf diese Weise entsteht ein strategischer Imperialismus, der den Armen Sonderregelungen aufnötigt, ohne ihr Einverständnis einzuholen. Wer hingegen wie Philippe Kourilsky meint, es zeuge von „ideologischem Imperialismus, die Regeln der Reichen auf Bevölkerungsgruppen auszudehnen, die diesen nicht gerecht werden können“, wird zum Wegbereiter eines inakzeptablen Relativismus. Gerade den Leuten, die die „Regeln der Reichen“ definieren dürfen, steht es nicht zu, darüber zu befinden, wer ihnen „gerecht werden“ kann und wer nicht.
Will man die besonderen Bedürfnisse des öffentlichen Gesundheitswesens in Afrika berücksichtigen, scheint es unerlässlich, bei klinischen Tests das Einverständnis der Betroffenen einzuholen. Das gilt umso mehr, als solche Tests auch für traditionelle Arzneimittel durchgeführt werden könnten, deren Gebrauch weit wirtschaftlicher ist und auf größere Akzeptanz stößt.
Eine klinische Bestätigung der Unbedenklichkeit und Wirksamkeit herkömmlicher Heilmittel würde das nationale Erbe der afrikanischen Staaten aufwerten und die Entstehung einer örtlichen Pharmaindustrie begünstigen. Afrikanische Pflanzen, die für ihre infektions- und entzündungshemmende oder harntreibende Wirkung bekannt sind, könnten gegen die entsprechenden Krankheiten und Beschwerden eingesetzt werden. Wie erfolgreich dieser Ansatz sein könnte, zeigen einige Beispiele: Chinin wird aus Chinarinde extrahiert, Aspirin aus verschiedenen Weidenarten, Reserpin aus der Rauwolfia-Pflanze, krebshemmende Substanzen aus dem Madagaskar-Immergrün.
Wenn in Afrika Medikamente getestet werden, müssen die örtlichen Bedürfnisse berücksichtigt und eine Reihe von Kriterien eingehalten werden: Erstens muss ihre Wirksamkeit und Unbedenklichkeit erwiesen sein. Zweitens dürfen Verschreibung, Verabreichung und Aufbewahrung keine Probleme bereiten, um den Medikamenten eine weite Verbreitung zu sichern und die Patienten bei der Behandlung zur Mitarbeit zu bewegen. Drittens sollten die Präparate allgemein zugänglich sein. Vor allem müssen die südlichen Länder durch den Aufbau eigenständiger Entscheidungs- und Kontrollstrukturen in die Lage versetzt werden, die klinischen Forschungsergebnisse unabhängig und nach eigenem Ermessen zu nutzen.