10.06.2005

Libanons Demokratie ohne Demokraten

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Libanons Demokratie ohne Demokraten

von Alain Gresh

Saad Hariri triumphierte. Von überall her erhielt er Glückwünsche und Grußadressen: aus Saïda im Süden, aus der Bekaa-Ebene im Westen, aus der Region um Tripoli im Norden und aus den Stadtvierteln von Beirut. Und alle Absender – Wohlfahrtsorganisationen und Familienverbände, die sunnitische Muslimliga, aber auch einzelne Journalisten – waren sich in ihrem Lob für den neu Gekürten einig. Man pries seine Entschlossenheit, den Kurs seines Vaters fortzusetzen, und bekundete die Überzeugung, er werde den Libanon in eine bessere Zukunft führen.

In geradezu sowjetischem Stil wurden diese Elogen im Fernsehen immer wieder vorgetragen – dazu eine Stimme aus dem Off, die Dankbarkeit angesichts der überwältigenden Zustimmung zur Entscheidung der „Familie“ für ein neues Oberhaupt zum Ausdruck brachte. Eine Gruppe von Abgeordneten, ergänzt um mehrere ehemalige Minister, schwor dem neuen Herrn die Treue. Und in den Tagen darauf erhielt er die höchsten Weihen. Frankreichs Staatspräsident Jacques Chirac gewährte ihm eine mehr als einstündige Audienz, und US-Präsident George W. Bush empfing ihn auf seiner Ranch – in Gegenwart des saudischen Kronprinzen Abdallah.

Wer ist nun dieser allerhöchste Erlöser? Ein beinahe Unbekannter, den die libanesische Tageszeitung L’Orient Le Jour als „Telekommunikationsexperten“ vorstellt. Saad Hariri, 35, ist der zweitälteste Sohn des am 14. Februar ermordeten früheren libanesischen Ministerpräsidenten Rafik Hariri. Nach einem Studium an der Georgetown University in Washington, D. C., war er Generaldirektor von Saudi Oger Ltd., einem Mischkonzern mit 35 000 Angestellten und einem Jahresumsatz von 2 Milliarden Dollar. Saad Hariri ist sunnitischer Muslim und verfügt über gute Beziehungen zum saudischen Königshaus, vor allem zum Sohn des mächtigen Staatsministers Prinz Abdelasis Ben Fahd. Die Frage nach seiner politischen Erfahrung wurde von niemand gestellt.

Hariri wurde keineswegs von einer Partei oder politischen Organisation nominiert, sondern von „der Familie“ – der Begriff hat im Libanon offenbar nichts Zweideutiges. Sie tat dem Volk ihre Entscheidung in einer Verlautbarung kund. Die beiden Hauptpunkte: Nasek Hariri, die Witwe des Ministerpräsidenten, werde „Aufsicht und Leitung aller sozialen und wohltätigen Einrichtungen“ übernehmen, „die der Märtyrer des Libanon gestiftet hat“. Punkt zwei: Sein Sohn Saad werde „die Verantwortung und die historische Führungsrolle in allen politischen und nationalen Angelegenheiten übernehmen, um auf allen Ebenen das Werk des nationalen Wiederaufbaus fortzusetzen“.

Das klingt ganz nach einer Erbfolge. Doch im neuen „demokratischen Libanon“, dessen Entstehung allseits gefeiert wird, scheint diese dynastische Politik nicht auf Kritik zu stoßen. Auch interessiert sich niemand dafür, weshalb Bahia Hariri, die Schwester des Ermordeten, politisch kaltgestellt wurde. Sie hält immerhin einen Sitz im Parlament und spielte bei den Protestkundgebungen nach dem Attentat auf ihren Bruder eine zentrale Rolle.

Für die Journalisten, die ihn rühmten, fand Saad Hariri begütigende Worte: „Nichts wird sich ändern. Ich werde alles fortführen, was mein Vater begonnen hat. Auch was die Stiftungen angeht, werde ich, werden wir seinen Weg fortsetzen.“1 Manchen Beobachtern erschien die Aussage wie Ironie. Schließlich hatte Rafik Hariri alle bedeutenden Medien und die Mehrzahl der einflussreichen Journalisten wiederholt mit großzügigen Spenden bedacht.

Es ist schon eine merkwürdige Sache: In einem Land, das eine syrische Besatzungsarmee von fast 20 000 Mann beherbergt hat, genießen die Medien eine Freiheit, von der die übrige arabische Welt nur träumen kann – gerade Staaten wie Ägypten und Saudi-Arabien, die sich als Garantiemächte des demokratischen Wandels im Libanon verstehen. Aber die Meinungsfreiheit im Libanon unterliegt zwei entscheidenden Einschränkungen: Man spricht nicht über die Rolle der syrischen und libanesischen Geheimdienste und ebenso wenig über die Stellung und den Reichtum von Rafik Hariri, geschweige denn über seine Mitverantwortung für die wirtschaftlichen und sozialen Probleme des Landes, insbesondere die gewaltige Staatsverschuldung. Nur das erste dieser beiden Tabus ist inzwischen nicht mehr unantastbar.

In einem Punkt scheinen sich alle einig zu sein: Der Libanon hat die Zeiten der inneren Zerrissenheit endgültig hinter sich gelassen. So viel ist in wenigen Monaten geschehen, dass man es noch kaum begreifen kann. Auslöser dieser rapiden Entwicklung war die Entscheidung des syrischen Staatspräsidenten Baschar al-Assad von Ende August 2004, seinem wichtigsten Verbündeten im Libanon, dem Präsidenten Émile Lahoud, eine Mandatsverlängerung um drei Jahre zu gewähren. Damaskus hielt es nicht für nötig, diese autoritäre Strategie mit irgendjemandem abzustimmen.

Einen Präzedenzfall hatte es 1995 gegeben. Damals wurde die Amtszeit von Präsident Elias Hraoui um drei Jahre verlängert – gegen heftigen Protest im Libanon und im Ausland. Doch die regionalen und internationalen Bedingungen haben sich gewandelt. Frankreich und die USA sind nicht mehr so nachsichtig. Am 2. September 2004 verabschiedete der UN-Sicherheitsrat mit 9 von 15 Stimmen die Resolution 1559: Darin wird der Rückzug Syriens aus dem Libanon und die Entwaffnung der Milizen gefordert, womit natürlich die Hisbollah und die palästinensischen Gruppen gemeint sind.

Ministerpräsident Rafik Hariri machte nach einigem Zögern Front gegen die syrische Begünstigung von Staatspräsident Lahoud und trat zurück. Seine Ermordung am 14. Februar 2005 – in den meisten Medienberichten sofort dem syrischen Geheimdienst zugeschrieben – löste eine Massenbewegung aus, deren Höhepunkt eine gewaltige Demonstration am 14. März in Beirut bildete. Zu hunderttausenden verlangten die Libanesen al-haqiqa, die Wahrheit (über das Attentat). Sie forderten die Ablösung der Geheimdienstchefs im Libanon und den Abzug der syrischen Truppen. Kann man in diesem Ereignis auch den Beginn einer Versöhnung zwischen den feindlichen Lagern im Libanon sehen, zwischen Sunniten und Schiiten, Drusen und Maroniten?

In den nationalen und internationalen Medien war viel von einer „Zedernrevolution“ die Rede, einem friedlichen Umbruch nach dem Vorbild der „Rosenrevolution“ in Georgien oder der „Revolution in Orange“ in der Ukraine. Doch solche einfachen Bilder werden der komplexen Situation nie gerecht. Es hieße die besondere Geschichte des Landes übergehen, wollte man sie nur nach dem Schema eines Kampfs zwischen Gut und Böse, zwischen Demokratie und Totalitarismus begreifen.

Zweifellos hatte die Mehrheit der Bevölkerung genug von der Dauerpräsenz der syrischen Truppen, von den immer neuen Einmischungen in die libanesische Politik, der bestimmenden Rolle der Geheimdienste. Syriens Verdienste bei der Beendigung des libanesischen Bürgerkriegs und der Stützung des südlibanesischen Widerstands gegen die israelische Besatzung sind unbestritten. Aber die Führung in Damaskus hat mit einer langen Reihe von Fehlentscheidungen Unzufriedenheit und Feindseligkeit geweckt. Das räumte auch Präsident Baschar al-Assad in seiner Rede vom 5. März ein, mit der er den Rückzug der syrischen Truppen ankündigte.

Geradezu unglaublich scheint allerdings, dass genau jene Führer, die schon im Bürgerkrieg die führenden Rollen innehatten und bis zu ihrem jüngsten Gesinnungswechsel überwiegend mit Syrien kollaborierten, noch immer die bestimmenden Größen sind. In den vergangenen Monaten konnte sich nicht etwa eine neue politische Persönlichkeit etablieren – nein, tonangebend bleiben die Gemayel, Dschumblatt, Hariri, Frangié, Schamoun und so weiter. Keiner aus dieser alten Garde hat irgendeinen Vorschlag zur Reform des traditionellen Systems gemacht, das auf Korruption und dem Proporz zwischen den Clans und Konfessionen basiert.

Sie setzen einfach auf die Losung „Syrien ist an allem schuld“. Alle Mittel sind ihnen recht, selbst das absurde Gerücht, dass 80 000 syrische Haushalte kostenlos Strom aus dem libanesischen Elektrizitätsnetz beziehen. Und die Korruption? „Dafür machen wir einfach die Syrer verantwortlich“, erklärt ein Wirtschaftswissenschaftler, „genauso, wie wir 1983 die Schuld an allen unseren Schwierigkeiten den Palästinensern zugeschoben haben. Also stellt niemand die Frage, was die libanesische Führung beiseite geschafft hat. Und wie es eigentlich möglich war, dass wir es im Rahmen eines nationalen Aufbauprogramms auf eine Staatsverschuldung von mehr als 30 Milliarden Dollar gebracht haben.“

Das Prinzip, nach dem der Libanon bisher funktionierte, geht auf die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg zurück. 1920 wurde Frankreich vom Völkerbund das Mandat über das Land verliehen, und damals wurden die Rechte der insgesamt 17 ethnisch-religiösen Gemeinschaften geregelt. Die wichtigsten sind bis heute unter den Christen die (katholischen) Maroniten, die Griechisch-Orthodoxen und die Griechisch-Katholischen, sowie auf der muslimischen Seite die Schiiten (darunter die Drusen) und Sunniten. In Artikel 95 der 1926 von Frankreich erlassenen libanesischen Verfassung heißt es: „Bis auf weiteres und in der Absicht, Eintracht und Gerechtigkeit herzustellen, sollen die Gemeinschaften proportional im Kabinett und in den öffentlichen Ämtern vertreten sein.“

In der Praxis bedeutete dieses System, das auch nach der Unabhängigkeit des Libanon 1943 beibehalten wurde, eine Vormachtstellung der Maroniten. Es war ein ungeschriebenes Gesetz, dass die Maroniten den Staatspräsidenten stellten, während der Ministerpräsident ein sunnitischer und der Parlamentspräsident ein schiitischer Muslim sein sollte. Entsprechend war die Sitzverteilung im Parlament geregelt: 60 Prozent für die christlichen Gemeinschaften, 40 Prozent für die Muslime.

1989 beendete eine durch Syrien moderierte Friedenskonferenz im saudischen Taif den seit 1975 anhaltenden Bürgerkrieg, der zehntausende Tote gefordert hatte. Teil der Abkommen war auch eine Neufassung der Proporzregelung. Mit Blick auf die demografische Mehrheit der Muslime von schätzungsweise 60 Prozent vereinbarten die Parteien eine gleichwertige Repräsentation auf allen Ebenen.

Im Einzelnen hieß es: „Die Abschaffung des politisch-konfessionellen Systems stellt eine wichtige nationale Aufgabe dar, die durch eine Serie von Maßnahmen zu erfüllen ist.“ Jeweils nach den Parlamentswahlen sollte „unter dem Vorsitz des Staatschefs eine nationale Kommission gebildet werden, der auch der Ministerpräsident und der Parlamentspräsident sowie Persönlichkeiten aus Politik, Gesellschaft und Geistesleben angehören. Aufgabe dieser Kommission ist es, das politisch-konfessionelle System zu prüfen, dem Parlament und dem Kabinett Vorschläge zu seiner Abschaffung zu unterbreiten sowie deren Umsetzung zu überwachen.“

Aus den Parlamentswahlen von 1992 ging Rafik Hariri als Sieger hervor. In seiner ersten Amtsperiode als Ministerpräsident wurden alle politischen Reformen auf Eis gelegt. Eigentlich hatte man in dem langen, gnadenlosen Bürgerkrieg vor allem um die Auflösung des politisch-konfessionellen Systems gestritten. Er hatte den gegenteiligen Effekt: Die Einzelnen fanden zuletzt Schutz und Zuflucht nur noch bei ihrer eigenen ethnisch-religiösen Gemeinschaft.2 Die Zugehörigkeit zu einem Clan oder einer Religionsgemeinschaft war bedeutsamer als jede ideologische Orientierung.

Bloß kein Nachdenken über die eigene Geschichte

Außerdem bewirkte die 1989 vereinbarte Straffreiheit für alle Führer der Milizen, dass man im Libanon nicht groß über die eigene Geschichte nachdenken musste – es war ja einfacher, den Bürgerkrieg als einen „Stellvertreterkrieg“ zu begreifen, eine Auseinandersetzung zwischen Palästinensern, Israelis und Syrern. Letztlich wurde das politisch-konfessionelle System gestärkt – und das erschien gerade den jungen Libanesen stabiler zu sein als vor dem Bürgerkrieg. „Wir bleiben unter uns“, meint Ahmed, Student an der Amerikanischen Universität von Beirut, die immerhin den Ruf hat, über dem Konfessionsstreit zu stehen. „Freunde hat man nur in der eigenen Glaubensgemeinschaft. Als wir alle gemeinsam nach dem Anschlag auf Rafik Hariri auf die Straße gegangen sind, hat das Misstrauen eher noch zugenommen. Jeder fragte sich insgeheim, was die anderen wohl dachten, was sie eigentlich im Schilde führten.“

Während die multikonfessionellen Parteien der Linken, etwa die Kommunisten, an Einfluss verloren, setzten andere politische Gruppierungen mehr denn je auf die Religionszugehörigkeit. Amal und Hisbollah gaben sich als „Vertreter“ der Schiiten. Die Sunniten – ohne eigenen nationalen Führer – schlossen sich Rafik Hariri an. Die nur dem Namen nach „sozialistische“ Partei von Walid Dschumblatt blieb durch ihre drusische Gefolgschaft geprägt. Die Maroniten schlossen sich 2000 in der Organisation Kornet Schahuan zusammen – ein bunter Haufen, dem nicht nur die extrem rechten „Forces Libanaises“ und die „Patriotischen Kräfte“ des soeben aus dem Exil zurückgekehrten Generals Michel Aoun angehören, sondern auch der frühere Staatspräsident Amin Gemayel und die „Nationalpartei“ des Schamoun-Clans.

In diesem politischen System gilt die Loyalität gegenüber dem Familienclan mehr als jedes in der Sache begründete politische Bündnis, und selbstverständlich tritt ein Sohn das politische Erbe des Vaters an. Die traditionelle maronitische Führungsschicht, die seit den Verträgen von Taif in sich zerstritten und ohne politischen Einfluss ist, hielt den Patriarchen Nasrallah Butros Sfeir für einen Verräter, nachdem er in Washington und Paris als „Vertreter der maronitischen Gemeinschaft“ hofiert worden war. Zur Neufassung des Wahlgesetzes gab er nach Rücksprache mit den maronitischen Bischöfen ein ablehnendes Votum ab: Die Christen seien „nach dem Prinzip der Listenwahl nur befugt, 14 der ihnen zustehenden Abgeordneten zu wählen. Über die restlichen 50 Sitze entscheiden die Stimmen von Muslimen.“3 Nasrallah Sfeir glaubt, dass im neuen Libanon wieder die alte Lagermentalität herrschen wird: Maroniten stimmen für Maroniten, Drusen für Drusen … Wo bleibt also die Demokratie?

Symbolisches Zentrum der „Zedernrevolution“ von Anfang 2005 ist der „Platz der Märtyrer“ in Beirut. Hier fanden alle großen Protestkundgebungen gegen die syrische Besatzung statt. Hier steht auch eine Zeltstadt, ein „Freedom Camp“ nach dem Vorbild von Tiflis und Kiew. Seit dem Rückzug der syrischen Truppen am 26. April hat der Ort allerdings deutlich weniger Zulauf.

Zu einer Demonstration finden sich heute immerhin ein paar hundert Jugendliche ein. Es sind überwiegend Studenten, Anhänger der Forces Libanaises (FL), die die Freilassung von Samir Geagea fordern, ihrem „Märtyrer der Freiheit“. Gleichzeitig finden auch in maronitischen Städten und Dörfern Kundgebungen statt, die den politischen Druck für die Entlassung des einstigen FL-Führers verstärken sollen. Geagea sitzt seit elf Jahren im Gefängnis. Zehntausende von Kerzen werden entzündet, um den „Märtyrer“ zu ehren, und zehntausend Demonstranten machen sich aus Beirut und dem Umland auf nach Bkerké in den Bergen nordöstlich der Hauptstadt, wo das maronitische Patriarchat residiert. Dort findet eine Art Abschlusskundgebung statt – in Gestalt einer Messe, die Roland Aboujaoudé abhält, der Generalvikar des maronitischen Patriarchats.

Wer ist Samir Geagea? Eine englischsprachige Zeitung4 bezeichnet ihn als den Drahtzieher von Mordanschlägen auf den früheren Ministerpräsidenten Omar Karamé und einige andere politische Konkurrenten Geageas aus dem christlichen Lager, als da sind Dany Schamoun, der Sohn des früheren Staatspräsidenten Camille Schamoun, und Tony Frangié, der Sohn des früheren Staatspräsidenten Soleiman Frangié. Ein Amnestiegesetz von 1991 sieht vor, dass Kriegsverbrecher, gegen die noch ermittelt wird, nicht begnadigt werden können. Tatsächlich traf diese Bestimmung allein auf Samir Geagea zu – und seither protestieren die Anhänger der FL gegen dieses „Unrecht“, denn zahlreiche andere Verurteilte sind längst auf freiem Fuß.

Im Libanon tut man sich schwer mit der historischen Wahrheit. Erst kürzlich scheiterte der Versuch, ein neues Geschichtsbuch für den Schulunterricht herauszugeben, weil man sich über die Darstellung des Bürgerkriegs von 1975 bis 1989 nicht einigen konnte. „Von einer Geschichte, die nicht der jeweils offiziellen Version entspricht, wissen wir einfach nichts“ erklärt Karim, ein Student. „Jeder lernt, was seine Gemeinschaft lehrt – und wir reden untereinander nicht über solche Fragen.“ Es sieht nicht so aus, als werde sich daran etwas ändern.

Solidarität mit dem Mörder von Sabra und Schatila

Samir Geagea ist kein gewöhnlicher Krimineller. Wie sein Chef Beschir Gemayel gehörte er zu denen, die im Juni 1982 den Einmarsch der israelischen Armee unter dem damaligen Verteidigungsminister Ariel Scharon in den Libanon begrüßt hatten. Zu Beginn der Belagerung von Westbeirut durch israelische Truppen erklärte Gemayel gegenüber den Israelis, wie hilfreich er für sie sein könne: „Wir haben bereits die Wasser- und Stromversorgung unterbrochen. Und wir sind bereit, auch militärisch einzugreifen. Wenn man uns in der Schlacht um Beirut braucht, werden wir an Ihrer Seite kämpfen. Aber erst wenn die Macht in unseren Händen ist, werden Sie sehen, wie wertvoll unsere Unterstützung für Sie sein kann.“5

Am 23. August 1982, im Schutz der israelischen Panzer, wurde Bechir Gemayel zum Staatspräsidenten gewählt, am 14. September fiel er einem Attentat zum Opfer. Sein Bruder Amine übernahm das Präsidentenamt. Damals kümmerte es die Staatengemeinschaft wenig, dass die beiden Präsidentschaftswahlen unter israelischer Oberhoheit stattgefunden hatten. Doch dann folgten die Ereignisse vom 16. bis 18. September: In den Flüchtlingslagern Sabra und Schatila wurden tausende Palästinenser – überwiegend Frauen, Kinder und alte Menschen – Opfer eines kaltblütig geplanten Massakers: Die israelische Armee erlaubte den Forces Libanaises das Eindringen in die Lager.

Direkt verantwortlich für diese Verbrechen waren zwei FL-Kommandanten: Elie Hobeika, der am 24. Januar 2002 unter ungeklärten Umständen ums Leben kam6 – und ebenjener Samir Geagea. Dass er demnächst vielleicht freikommt, wird in den Palästinenserlagern nicht gleichgültig aufgenommen. „Die libanesischen Sicherheitskräfte waren nicht in der Lage, die syrischen Arbeiter zu schützen, die in den vergangenen Wochen Opfer von Übergriffen wurden“, meint Marwan Elias, Mitglied der Verwaltung des Lagers Mar Elias, das mitten in Beirut liegt: „Wie also sollten sie imstande sein, uns zu verteidigen?“

Seit dem 14. Februar kam es tatsächlich immer wieder zu Gewaltakten gegen syrische Arbeiter, die zu hunderttausenden im Libanon beschäftigt sind, vor allem in der Landwirtschaft und im Baugewerbe – und zwar ausnahmslos zu Billiglöhnen. Die Angriffe forderten mehrere Todesopfer und lösten eine Rückwanderungswelle aus, die einige Branchen hart getroffen hat. Amnesty international hat deshalb an die libanesische Regierung appelliert, die Verantwortlichen zu ermitteln und zu bestrafen.7 Dass sich die Palästinenser jetzt ungeschützt fühlen, ist also leicht nachzuvollziehen.

Viele Libanesen dagegen sind begeistert, dass sie endlich die syrische Bevormundung los sind. Und sie hoffen auf die Ergebnisse der Kommission, die das Attentat auf Rafik Hariri untersucht. Aber die Zukunftsperspektiven werden damit nicht besser. Nach wie vor stehen sich die ethnisch-religiösen Gemeinschaften äußerst misstrauisch gegenüber.

Bei den großen Kundgebungen der letzten Monate fiel auf, dass von keiner Seite ein klares Reformkonzept eingebracht wurde. Auch der Streit um das Wahlgesetz macht deutlich, wie sehr die feindlichen Lager nach wie vor bestrebt sind, nur die eigenen Interessen zu verfolgen. Mit Ausnahme der Amal und der Hisbollah konnte sich niemand für die Idee begeistern, das politische System des Libanon durch eine sukzessive Einführung des Verhältniswahlrechts zu „öffnen“.

Joseph Samaha, Leitartikler der Tageszeitung Al-Safir, gehört zu den wenigen Journalisten, die sich keinen falschen Illusionen hingeben: „Wir haben es hier nicht mit einer neuen Form von Nationalgefühl zu tun, sondern mit synchronen politischen Initiativen der verschiedenen Gemeinschaften. Nur das hat die Illusion einer Einheit der Nation erzeugt.“

Wenn sich die Sunniten in großer Zahl an der Kundgebung am 14. März beteiligt haben, so lag das nicht nur daran, dass sie wirklich wissen wollten, wer für den Mord an Rafik Hariri verantwortlich war. Sie glaubten auch, ein Zeichen gegen die beeindruckende Demonstration der Schiiten unter Führung der Hisbollah setzen zu müssen, die am 7. März mehrere hunderttausend Menschen zusammenbrachte. Dazu gehörten viele Bewohner der Elendsquartiere im Süden der Hauptstadt, die auf diese Weise symbolisch ins Stadtzentrum vordrangen, in dem traditionell nur die christliche und die sunnitische Oberschicht wohnen.

Im Sammeltaxi in Beirut äußern sich der Fahrer und ein Fahrgast ganz begeistert über Frankreich – aber man gibt mir auch ein paar gute Ratschläge mit auf den Weg: „Gehen Sie bloß nicht in die Schiitenviertel. Wenn die dort merken, dass Sie Franzose oder Amerikaner sind, schneidet man Ihnen gleich die Kehle durch.“ Einige Tage zuvor hatte die Hisbollah sich Zugang zum Büro einer schiitischen Wohlfahrtseinrichtung verschafft und die gegen die Sunniten gerichteten Flugblätter dieser Organisation vernichtet. Der Graben zwischen Sunniten und Schiiten ist tiefer denn je zuvor, vertieft noch durch die Bilder von zerstörten schiitischen Moscheen aus dem Irak. Die Politik der Vereinigten Staaten in diesem Lande, die auf den ethnischen und religiösen Gegensätzen zwischen Schiiten, Sunniten und Kurden beruht, nährt im Libanon die Befürchtung, das Land könne einem amerikanischen „Komplott“ zur Spaltung der Nahostregion zum Opfer fallen: „Der konfessionell aufgeteilte Libanon ist genau das Modell, das die USA in der gesamten Region durchsetzen wollen“, fürchtet ein libanesischer Intellektueller.

Wie die Trennungslinien zwischen den Gemeinschaften heute verlaufen, macht eine neuere Meinungsumfrage deutlich.8 Eine der entscheidenden Fragen ist die nach der Entwaffnung der Hisbollah. Sie wird von den Maroniten uneingeschränkt befürwortet, doch bei den Sunniten sind 31 Prozent und bei den Schiiten 79 Prozent dagegen. Entsprechend wünschen die Maroniten ein politisches Engagement Frankreichs und der USA im Libanon, während die große Mehrheit der Sunniten und Schiiten dies ablehnt.

Der Kolumnist Joseph Samaha meint allerdings, dass im aktuellen Machtpoker gerade die Maroniten die großen Verlierer sein könnten: „Für die Christen war es sehr befriedigend, dass bei den Kundgebungen immer die libanesische Flagge gezeigt wurde. Doch alle, die da mit von der Partie waren, werden ihren Anteil an der Macht einfordern.

Sobald es nicht mehr nur um die Bürgerrechte geht, sondern um ein neues System des Ausgleichs zwischen den konfessionellen Gruppen, werden natürlich wieder die zahlenmäßig stärksten Gemeinschaften, also die Schiiten und Sunniten, die Macht für sich beanspruchen. Ein Ende des Kampfs zwischen den Religionsgemeinschaften ist deshalb nicht abzusehen.“

Fußnoten: 1 „Al-Hayat“ (Beirut), 22. 4. 2005. 2 Zur Geschichte des Konflikts siehe Elizabeth Picard, „Liban, Etat de discorde“, Paris (Flammarion) 1988. 3 „The Daily Star“ (Beirut), 12. 5. 2005. 4 „The Daily Star“ (Beirut), 21. 4. 2005. 5 Zitiert nach Alain Ménargues, Les Secrets de la guerre du Liban, Paris (Albin Michel) 2004, S. 305. 6 Hobeika hatte sich bereit erklärt, als Zeuge vor einem belgischen Gericht auszusagen, das wegen der Rolle von Ariel Scharon bei den Massakern von Sabra und Schatila ermittelte. 7 Siehe die Presseerklärung von amnesty international vom 21. 4. 2005: „Lebanon: Stop attacks on Syrian workers and bring perpetrators to justice“. 8 „The Daily Star“, 21. 4. 2005. Aus dem Französischen von Edgar Peinelt Der Autor ist Chefredakteur von „Le Monde Diplomatique“. Im Februar erschien sein Buch „1905–2005: les enjeux de la laïcité“, Paris (L’Harmattan).

Le Monde diplomatique vom 10.06.2005, von Alain Gresh