Die Gräber von May Jirgui
von Rob Lemkin
May Jirgui befindet sich ungefähr 700 Kilometer östlich der Hauptstadt Niamey am Rande der Sahelzone. Auf dem zentralen Platz der kleinen Stadt liegen hinter einem hüfthohen Metallzaun die Gräber von zwei französischen Soldaten, die im Juli 1899 hier erschossen wurden.
Hauptmann Paul Voulet und Leutnant Julien Chanoine führten eine der brutalsten Militäroperationen der gesamten Kolonialgeschichte an. Im Zuge einer sechsmonatigen Operation wurden mehr als 20 000 Afrikanerinnen und Afrikaner ermordet. Die Aktion fiel in die heißeste Phase des „Wettlaufs um Afrika“ (Scramble for Africa), den sich damals die europäischen Kolonialmächte lieferten und an dessen Ende sich Frankreich das Territorium des heutigen Niger einverleibt hat.
In Niger weiß heute jedes Schulkind, welche Massaker die Voulet-Chanoine-Truppe verübt hat, und auch dass die beiden Offiziere von meuternden afrikanischen Söldnern getötet wurden.
Die Einwohnerinnen und Einwohner von May Jirgui kommen tagtäglich an der Grabstätte vorbei; die Männer auf dem Weg zu ihren umliegenden Feldern, die Frauen auf dem Weg zum Brunnen, die Kinder auf dem Weg zur Schule.
Bis heute symbolisieren die beiden Gräber eine unsichtbare Macht, von der viele Menschen in Niger das Gefühl haben, dass sie ihr Land nach wie vor aus der Ferne kontrolliert. Das ist ein wichtiger Grund, warum ein Großteil der Bevölkerung die Militärjunta unterstützt, die am 26. Juli in Niamey Präsident Bazoum abgesetzt und eine 50 Jahre währende militärische Kooperation mit Frankreich aufgekündigt hat.
Als ich im Januar 2019 mit einem Filmteam der BBC in May Jirgui drehte, wählten wir die Grabstätte als Hintergrundkulisse für die Interviews in meinem Dokumentarfilm über koloniale Gewalttaten.1
Damals forderte der Bürgermeister Idi Saley uns auf, wir sollten doch bitte die sterblichen Überreste der Franzosen ausgraben und nach Europa zurückbringen: „Schafft sie fort aus unserer Stadt, sofort!“ Und die Bäuerin Batoula Adamou gab „diesen Männern da unten“ die Schuld daran, dass ihre Kinder auf der Suche nach einem besseren Leben wegziehen mussten und seitdem nie wieder zurückgekehrt sind.
Bis zur Unabhängigkeit, die Niger im August 1960 erlangte, hatte die Stadtverwaltung von May Jirgui auf Verlangen der französischen Kolonialmacht dafür zu sorgen, dass die Grabmäler gepflegt wurden. Aber auch danach haben sich die Bewohner weiter um die Stätte gekümmert, weil man sich Einnahmen aus dem Tourismus erhoffte. Doch seitdem aufständische Dschihadisten vor einigen Jahren begannen, Ausländer zu kidnappen, tauchen hier nur noch sehr selten Touristen auf.
Birnin Konni ist eine größere Stadt an der Grenze zwischen Niger und Nigeria, mit der die Kolonialmächte Frankreich und Großbritannien 1910 ihre territorialen Ansprüche absteckten – auch das ein Resultat des blutigen Voulet-Feldzugs. Mamane Salifu Ousmane, der Sultan von Konni, verweist auf Schätzungen, wonach Voulet mit seiner Truppe im Mai 1899 in nur sechs Tagen zwischen 7000 und 15 000 Bewohner der Stadt umgebracht hat. „Er fand uns reich und ließ uns arm zurück“, sagt der Sultan. „Wir werden niemals darüber hinwegkommen, was Voulet uns angetan hat.“
Seit dem Militärputsch gilt Birnin Konni als erstes mögliches Ziel einer Militärintervention, die von der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft (Ecowas) ins Auge gefasst wurde. Eine Invasion von Ecowas-Truppen könnte von der nigerianischen Militärbasis in Sokoto ausgehen, die nur 80 Kilometer von Birnin Konni entfernt ist.
Sultan Mamane ist Mitglied des nationalen Rats der traditionellen Führer von Niger, der sich am 3. August gegen einen Sturz der Junta durch eine externe Militäroperation ausgesprochen hat. Dieses Gremium hat zwar von einer Loyalitätsbekundung für die neuen Machthaber in Niamey abgesehen, diesen allerdings eine Zusammenarbeit für „Frieden und Fortschritt“ angeboten.
Einer der ersten Vermittler, der nach dem Putsch für die Ecowas nach Niamey reiste, war der Sultan der nigerianischen Grenzstadt Sokoto. Innerhalb der Hierarchie der Hausa, die auf beiden Seiten der Grenze leben, ist der (nigrische) Sultan von Birnin Konni diesem (nigerianischen) Sultan von Sokoto unterstellt. Es wäre wahrhaft tragisch, wenn eine Armee von der einen Seite der kolonialen Trennlinie ihre Stammesgenossen auf der anderen Seite angreifen würde.2
Vor vier Jahren folgte unsere Filmcrew der Route, entlang derer Hauptmann Voulet und seine Truppen vor über 120 Jahren ihre Massaker begingen. Das war nicht schwer, denn sie verläuft weitgehend identisch mit der Route Nationale 1, der heutigen Hauptverkehrsachse des Landes.
Die Menschen, denen wir auf unserer Reise begegnet sind, fühlten sich den damaligen Ereignissen offensichtlich immer noch erschütternd nah. Assan Ag Midal, ein ehemaliger Regierungsberater, hat diesen Eindruck bestätigt: „Der Tag, an dem Voulet in ihre Stadt kam, war für sie der Beginn der Jetztzeit. Für viele Menschen in Niger hat sich in den letzten hundert Jahren nicht sehr viel geändert.“
Mehrere Städte und Ortschaften, die wir 2019 besuchten, haben sich 2021 an die UN-Kommission gewandt, die sich mit den Folgen von Verbrechen der Kolonialmächte und möglichen Reparationsansprüchen befasst.3 Sie verlangten, dass sich Frankreich zu dem Unrecht, das den Menschen damals angetan wurde, bekennt – die Überlebenden der Massaker von Voulet und Chanoine mussten damals unter der Knute des französischen Militärs die Route Nationale 1 bauen.
Die Betroffenen forderten unter anderem angemessene Reparationen in Form von Entwicklungshilfe, das heißt: Wiedergutmachung (restaurative justice) statt Almosen nach dem Ermessen des Spenders. Zum Beispiel wünscht sich Mahamane Salissou Issa, der Vizebürgermeister von May Jirgui, einen Fonds, der seiner Stadt einen Entwicklungspfad eröffnet, der 1899 abrupt abgeschnitten wurde, wie er sagt.
Als die hausasprachige Version unseres Films 2022 in Bristol gezeigt wurde, berichtete der per Video zugeschaltete Vizebürgermeister, dass die Regierung von Niger die Schulen seiner Stadt weder mit überdachten Klassenzimmern noch Toiletten ausgestattet hat. Issa äußerte außerdem den Wunsch, ein Museum über den Voulet-Chanoine-Feldzug einzurichten. Und zwar nicht, wie er sagt, für Touristen, die den Gräueln kolonialer Gewalt nachspüren wollen, sondern als Anstoß, um Ideen für eine bessere Zukunft zu entwickeln.
Gegenüber der UN-Kommission wird eine weitere wichtige Forderung erhoben: Es müssen endlich Archive der Kolonialmächte zugänglich gemacht werden. Als der französische Historiker Jean Suret-Canale in den 1950er Jahren zur Voulet-Chanoine-Mission forschen wollte, stieß er auf viele leere Aktenordner. Ein Großteil des heiklen Materials war vernichtet worden. Was übrig geblieben ist, liegt heute – mehr oder weniger ungeordnet – in einem Magazin der Archives Nationales d’Outre-Mer (Anom) in Aix-en-Provence.
Für Menschen aus Niger ist es unter dem herrschenden Grenzregime fast unmöglich, nach Aix zu reisen. Im Übrigen könnten sich sowieso nur wenige die Reisekosten leisten. Deshalb fordert die UN-Kommission, dass das gesamte Archivmaterial kopiert und nach Niamey geschickt wird.
Seit dem Putsch vom 26. Juli war auch viel von dem Uran die Rede, das Frankreich aus Niger bezieht, um seine Atomkraftwerke am Laufen zu halten. Darauf ist man in Paris zwar nicht mehr so stark angewiesen wie früher, aber die 1974 verkündete „Energieunabhängigkeit“ beruhte großenteils auf dem nigrischen Uran, das sich Frankreich auf Basis einer undurchsichtigen Vereinbarung über die „Gewinnaufteilung“ sichern konnte.
Die Historikerin Gabrielle Hecht fand heraus, dass Niger in den ersten Jahren der Uranförderung keinerlei Dividenden erhalten hat. Diese ungerechte Regelung war Teil des Verteidigungsabkommens von 1961, in dem sich das gerade unabhängig gewordene Land – wie andere ehemalige französische Kolonien in Afrika – dazu verpflichtet hatte, die „nationalen Sicherheitsbedürfnisse“ der ehemaligen Kolonialmacht vorrangig zu behandeln.
Beim aktuellen Zwist zwischen der Junta in Niamey und dem Westen geht es im Wesentlichen um gegensätzliche Prioritäten: Für das nigrische Militär ist der oberste Wert die nationale Souveränität; auf sie berief sich der selbsternannte Juntachef General Tchiani in seiner ersten Fernsehansprache nicht weniger als sechs Mal. In ökonomischer Hinsicht bedeutet „Souveränität“, nach der Formulierung des senegalesischen Wirtschafts- und Geisteswissenschaftlers Felwine Sarr „symmetrische Beziehungen mit Europa und dem Westen – ohne die alten kolonialen Muster“.4
Für den Westen und die Ecowas hat dagegen die Rückkehr zu einer konstitutionellen Demokratie oberste Priorität. Der dürfte allerdings die höchst reale Befürchtung zugrunde liegen, dass sich in einer Region, die wegen ihrer Ressourcen und ihrer Bedeutung für die Migrationsbewegungen nach Europa wichtig ist, immer mehr Militärregierungen etablieren könnten, die energisch auf ihrer staatlichen Unabhängigkeit bestehen. ⇥Rob Lemkin
Aus dem Englischen von Niels Kadritzke
Rob Lemkin ist Dokumentarfilmer.
© London Review of Books; für die deutsche Übersetzung LMd, Berlin