07.09.2023

Im Zeichen des Minilateralismus

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Im Zeichen des Minilateralismus

Das Ende der westlichen Hegemonie ist eingeläutet

von Pierre Hazan

Auf dem Brics-Gipfel, Johannesburg, 23. August 2023 GIANLUIGI GUERCIA/UPI Photo/Newscom/picture alliance
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Vor unseren Augen entsteht eine neue Weltordnung. Die Spielregeln dieser neuen Ordnung werden ausgehandelt zwischen dem Westen, der gerade dabei ist, seine hegemoniale Stellung zu verlieren, und dem sogenannten Globalen Süden, der keineswegs mit einer Stimme spricht. In einer Periode der Unklarheit und des Übergangs schließen viele Staaten nur noch Ad- hoc-Allianzen. Dabei sind die Herausforderungen, die globale Lösungsansätze erfordern, drängender denn je.

Neue Vermittler betreten nun die Weltbühne. Wer hätte gedacht, dass Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) einmal den Austausch von Gefangenen zwischen Russland und der Ukraine vermitteln würden? Oder dass China die Wiederaufnahme der Beziehungen zwischen Iran und Saudi-Arabien einfädelt?1

Samir Saran, Präsident der indischen Denkfabrik Observer Research Foundation, spricht von „Partnerschaften mit beschränkter Haftung“.2 Damit meint er Arrangements zwischen Staaten, regionalen Organisationen, Koalitionen oder auch Blöcken, die in anderen Bereichen durchaus in Konkurrenz zueinander stehen können. Bei diesem „Minilateralismus“ der wechselnden Partnerschaften geht es für die Akteure vor allem darum, kurzfristig ihre Schäfchen ins Trockene zu bringen.

Natürlich wurde die Welt auch früher von den Interessen der Staaten gelenkt. Aber die relative Stabilität der internationalen Umgebung verlieh den einmal geschlossenen Vereinbarungen mehr Halt. Heute kann der Feind hier oder da, für eine bestimmte Zeit oder bei einem bestimmten Thema zum Partner werden. Solche oft auf konkrete Handlungen beschränkten Abkommen halten nur so lange, wie die Parteien es für nützlich halten.

Trotz der schweren Kämpfe haben Russland und die Ukraine am 22. Juli 2022 durch die Vermittlung der Türkei und der UNO ein Abkommen über den Getreideexport geschlossen und zweimal verlängert, bis der Kreml es ein Jahr später aufkündigte. Moskau hatte beschlossen, dass das Abkommen nun keinen Nutzen mehr habe. Im Juli 2023 kündigte Wladimir Putin beim Russland-Afrika-Gipfel in Sankt Petersburg dann Ersatzlieferungen an – ein Anzeichen dafür, dass Russland vor allem um sein Ansehen bei den – häufig befreundeten – Regierungen im Globalen Süden besorgt ist.

Ein anderes Beispiel ist das Abkommen über den Verlauf der Seegrenze zwischen dem Libanon und Israel, das mit US-amerikanischer Hilfe im Oktober 2022 geschlossen wurde. Die beiden Staaten haben sich miteinander verständigt, obwohl der Libanon Is­rael nie anerkannt hat.

Technisch gesehen befinden sich beide Länder weiterhin im Kriegszustand, und eine der wichtigsten militärisch-politischen Kräfte im Libanon, die Hisbollah, hält immer noch an ihrem Ziel fest, den zionistischen Staat zu zerstören. Auch die Tatsache, dass die Hisbollah von den USA, von Israel und in Teilen auch von der EU als „Terrororganisation“ eingestuft wird, stellte kein Hindernis dar. Die Ausbeutung der Gasvorkommen im Mittelmeer ist eben etwas ideologische Geschmeidigkeit wert.

Auch beim Konflikt in Syrien existieren eine Reihe sehr pragmatischer Vereinbarungen: Die Russen haben drei informelle Abkommen mit Is­rael, den USA und der Türkei geschlossen, um eine direkte Konfrontation zu verhindern. Eine solche Einigung zwischen ausländischen Mächten, die in einen Konflikt verwickelt sind, hat es in dieser Form noch nie gegeben.

So kann die israelische Luftwaffe syrische Streitkräfte, die Hisbollah und iranische Infrastruktur in Syrien angreifen, ohne eine russische Intervention fürchten zu müssen. Dafür verzichtet Israel trotz des Drucks aus Washington auf die Übernahme der Sanktionen gegen Russland und liefert keine Waffen an die Ukraine.

Pragmatische Deals auf Kosten Dritter

Solche pragmatischen Deals geschehen nicht selten auf Kosten Dritter. Im September 2020 hat die Trump-Regierung mit den sogenannten Abraham-Abkommen die Normalisierung der Beziehungen zwischen Israel und mehreren arabischen Staaten befördert. Im Gegenzug erkannten die USA Marokkos Souveränität über die Westsahara an, obwohl die Resolution 690 des UN-Sicherheitsrats vom 29. April 1991 die Abhaltung eines Referendums fordert. Und auch die Palästinenser waren wieder einmal die großen Verlierer.

Arrangements dieser Art offenbaren einen grundlegenden Wandel. Das Ende der westlichen Hegemonie schwächt die internationalen Ins­ti­tu­tio­nen und unterhöhlt die Normen, die sich in den letzten 30 Jahren etabliert haben – auch wenn die Regierungen Europas und der USA sich selbst nicht unbedingt daran hielten.

Die afrikanischen Staaten gehörten zu den Ersten, die die Statuten des Internationalen Strafgerichtshofs ratifizierten. Dennoch unterhalten sie weiterhin normale Beziehungen zu Russland, obwohl Wladimir Putin wegen Kriegsverbrechen angeklagt ist. 48 Länder waren beim russisch-afrikanischen Gipfel in Sankt Petersburg im Juli 2023 vertreten. Und die südafrikanische Regierung drehte dem Westen geradezu eine lange Nase, als sie im Februar 2023, also genau ein Jahr nach dem Beginn des Angriffskriegs gegen die Ukrai­ne, Militärmanöver mit Russland und China durchführte.

Die Politik unilateraler Sanktionen, die die Macht der USA über das internationale System stärkte, stößt an ihre Grenzen. Diskreditierte Staatschefs erhalten neue Legitimation. Das haarsträubendste Beispiel ist die Rückkehr des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad in die Arabische Liga (AL) am 18. Mai beim Gipfeltreffen im saudischen Dschidda. Der syrische Diktator ist nun wieder Persona grata in der arabischen Welt, obwohl er sein Volk blutig unterdrückt hat, dabei sogar chemische Waffen einsetzen ließ und die Verantwortung für hunderttausende Tote und ein zerstörtes Land trägt.

Gastgeber des AL-Gipfels im Mai war der saudische De-facto-Herrscher Prinz Mohammed bin Salman. Den wiederum hatte der Präsidentschaftskandidat Joe Biden zum „Paria“3 erklärt, weil er den Journalisten Jamal Kha­shog­gi heimtückisch hatte ermorden lassen.

Nach seiner Wahl zum Präsidenten musste Biden seinen Stolz hinunterschlucken. Im Juli 2022 bettelte er beim allmächtigen Kronprinzen darum, die Erdölproduktion zu erhöhen, und das auch noch vergebens. Inzwischen bemüht sich die US-Regierung auch um eine informelle Einigung mit dem iranischen Regime in dem Streit um Teherans Atomprogramm – und erkennt damit an, dass die Politik der Isolierung des Landes gescheitert ist.

Außer dem „Globalen Norden“ beteiligen sich nur wenige Staaten am Sanktionsregime gegen Russland.4 Die Gründe dafür sind bekannt: Die Befürchtung, man könne in einen Konflikt hineingezogen werden, in dem man nicht Partei ergreifen will; aber auch Loyalität gegenüber dem Nachfolgestaat der UdSSR, die früher die na­tio­nalen Befreiungsbewegungen unterstützt hat, spielt eine Rolle. Ebenso die Sichtweise, dass es die westlichen Sanktionen seien, die zu dem deutlichen Preisanstieg bei Getreide und Düngemitteln geführt hätten.

Bei einigen großen Ländern des Südens stehen pragmatische Gründe im Vordergrund: Sie profitieren von billigem russischen Erdöl, nehmen russische Waffenlieferungen in Anspruch und stärken ihre geopolitische Po­si­tion. Und noch etwas schwingt durch die nichtwestliche Welt, politisch wie symbolisch: die Schadenfreude, die das Unglück der anderen auslöst.

Hier gilt sie dem Westen, der sich ausnahmsweise in der Position des Bittstellers um internationale Unterstützung befindet. Es ist eine Verkehrung der alten Rollen, der Oberlehrer hat seinen Glanz und sogar seine Arroganz verloren. Heute bittet er um Solidarität, er, der seit Jahrhunderten die Regeln diktiert – und immer wieder zu seinen Gunsten bricht. Der selbstherrlich die universellen Werte festgelegt hat und nach Belieben jene mit Sanktionen belegt, die dagegen verstoßen.

Der Westen bekommt jetzt die Quittung für die illegale Invasion des Irak 2003, für die Militärinterventionen im Kosovo 1999 und in Libyen 2011, für das Debakel in Afghanistan 2021 und für den Impfstoffprotektionismus während der Coronapandemie. Er bekommt sie für die Politik des Messens mit zweierlei Maß, die schon zu lange dauert, und für die demonstrative Verachtung des Multilateralismus durch die Trump-Regierung. Letztendlich verliert der Westen jetzt die Autorität, die er selbst untergraben hat.

Der indische Außenminister Subrahmanyam Jaishankar hat ausgesprochen, was viele denken: „Europa muss die Sichtweise überwinden, nach der die Probleme Europas die der Welt sind, aber die Probleme der Welt nicht die Europas.“5 Ein großer Teil der Länder des Südens will nicht mehr genötigt werden, sich nach den USA und Europa zu richten, und fühlt sich stark genug, um es auch auszusprechen.6

Noch gilt zwar nicht „der Westen gegen den Rest der Welt“, wie man zuweilen in Washington hört. Diese Formulierung hat einen kolonialistischen Beigeschmack, denn der „Rest“ macht 85 Prozent der Weltbevölkerung aus. Allerdings haben die Länder des Südens bei der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar dieses Jahres ihre Prioritäten klar und deutlich benannt: Verschuldung, Klimawandel, Umwelt und die Nachwirkungen der kolonialen Vergangenheit.

Im derzeit herrschenden „kalten Frieden“ können die mittelgroßen Mächte einiges an Argumenten in die Waagschale werfen: Die Wirtschaftsleistung der sieben größten westlichen Wirtschaftsmächte, der G7, wird inzwischen bereits von dem der Brics-Staaten (Südafrika, Brasilien, China, Indien und Russland) übertroffen. Auf ihrem von manchen als „historisch“ bezeichneten Gipfeltreffen Ende August in Johannesburg beschloss die Brics-Gruppe, ihr Bündnis um gleich sechs Länder zu erweitern: Argentinien, Ägypten, Äthiopien, Iran, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate.

Zuvor hatten nicht weniger als 19 Nationen ihr Interesse an einer Aufnahme bekundet. Alle Brics-Mitglieder erhoffen sich von diesem Zusammenschluss, dass sie international mehr Gehör finden. Eine gemeinsame Vision, wie das internationale System in Zukunft aussehen soll, haben sie aber – zumindest bisher – nicht. Dafür sind ihre Interessen zu heterogen und widersprüchlich.

In einer Periode des Umbruchs und der Ungewissheit streben die Staaten automatisch nach Sicherheit. Das bedeutet: Jeder bewaffnet sich, und zwar schnell. Die weltweiten Militärausgaben haben einen neuen Rekord erreicht: 2240 Milliarden Dollar im Jahr 2022. Das ist eine Zunahme von 3,7 Prozent gegenüber 2021. Vor allem die Militärausgaben in Europa sind so stark gestiegen wie seit mindestens 30 Jahren nicht mehr.7

Aber weder der pragmatische „Mini­lateralismus“ noch der Rüstungswettlauf haben den geringsten Nutzen für die Bewältigung der globalen Herausforderungen. Nötig ist eine neue Architektur der internationalen Sicherheit, die Verringerung der Ungleichheit, die die Quelle für Spannungen und Gewalt ist, und ein anderer Umgang mit dem Klimanotstand, von dem mehr als 3 Milliarden Menschen in kritischen Regionen unmittelbar betroffen sind.

Auf den Trümmern des Zweiten Weltkriegs war es den Regierungen gelungen, die Vereinten Nationen zu gründen, die von einem Direktorium der damaligen Großmächte angeführt wurden. Heute müsste man kreativ an neuen Spielregeln für den Planeten arbeiten, die den Wandel des internationalen Systems widerspiegeln.

Im Kontext dieser neuen Regeln wird das Gewicht des UN-Sicherheitsrats zugunsten der Generalversammlung mit einiger Gewissheit abnehmen. Und dies wird bei Weitem nicht die einzige Veränderung sein.

1 Maria Fantappie und Vali Nasr, „A New Order in the Middle East?“, Foreign Affairs, New York, 22. März 2023; siehe auch Akram Belkaïd und Martine Bulard, „Friedensstifter China?“, LMd, April 2023.

2 Samir Saran, „The New World – shaped by self-interest“, Indian Express, 23. Mai 2023.

3 „Candidate Biden Called Saudi Arabia a ‚Pariah‘. He now has to deal with it“, The New York Times, 26. Februar 2021.

4 Siehe Alain Gresh, „Asymmetrische Aufmerksamkeit“, LMd, Mai 2022.

5 „Explained: What Jaishankar said about Europe, why Germany chancellor praises him“, OutlookIndia.com, 20. Februar 2023.

6 Siehe Anne-Cécile Robert, „Nicht unser Krieg“, LMd, Februar 2023.

7 „World Military expenditure reaches new record high as European spending surges“, Stockholm International Peace Research Institute, 24. April 2023: www.sipri.org.

Aus dem Französischen von Claudia Steinitz

Pierre Hazan ist Seniorberater beim Centre pour le dia­logue humanitaire in Genf und Autor von „Négocier avec le diable, la médiation dans les conflits armés“, Paris (Textuel) 2023.

Le Monde diplomatique vom 07.09.2023, von Pierre Hazan