Als Allende nicht nach Algier kam
Rückblick auf die Konferenz der Blockfreien 1973
von Akram Belkaïd
Der ansonsten immer streng dreinblickende Houari Boumedienne gestattete sich ein breites, strahlendes Lächeln. Eine mächtige Havanna-Zigarre haltend, genoss Algeriens Staatschef ersichtlich seine Rolle als Vorsitzender der Schlusssitzung der Vierten Gipfelkonferenz der Blockfreien Staaten. Vom 5. bis 9. September 1973 waren in Algier die 75 Vollmitglieder der Vereinigung vertreten, dazu noch rund 30 internationale Organisationen und Befreiungsbewegungen – darunter die palästinensische PLO unter der Führung von Jassir Arafat.
Acht Jahre zuvor war Oberst Boumedienne von den Häuptern der Blockfreien-Bewegung noch geschnitten worden, weil er Algeriens Präsidenten Ahmed Ben Bella abgesetzt hatte. Jetzt behandelten ihn seine Amtskollegen wie Kubas Fidel Castro und Jugoslawiens Josip Broz Tito als Partner auf Augenhöhe. Zum Triumph für Boumedienne wurde der Gipfel vor allem deshalb, weil die algerische Seite sich mit ihrem Standpunkt durchsetzen konnte, dass entwicklungspolitische Fragen oberste Priorität haben müssten.
Ein Zwischenfall hätte allerdings um ein Haar alles verdorben: Der libysche Revolutionsführer Muammar al-Gaddafi meldete sich vehement zu Wort und kritisierte den Kommunismus und die Blockfreien Länder mit allzu großer Nähe zu Moskau. Das brachte Castro in Rage, der Gaddafi entgegenhielt, die Sowjetunion stehe treu an der Seite aller Bewegungen, die gegen den Imperialismus und für die Dekolonialisierung kämpften.
Dieses Wortgefecht hatte viel damit zu tun, dass große Egos um Einfluss und Aufmerksamkeit konkurrierten. Gaddafi war damals im Kreis der Staats- und Regierungschefs der „Dritten Welt“ ein Neuling. Ansonsten bestand unter den Gipfelteilnehmer in Wirtschaftsfragen weitestgehend Einigkeit – insbesondere in Sachen Kontrolle über die natürlichen Ressourcen.
Seit der afrikanisch-asiatischen Konferenz in Bandung (1955) und dem ersten Blockfreien-Gipfel in Belgrad (1961) hatte die Bewegung stets ihre Unabhängigkeit von den beiden großen Machtblöcken beteuert sowie für den Weltfrieden und die „friedliche Koexistenz“ zwischen den USA und der Sowjetunion geworben.
Diese Positionsbestimmung war vor allem deshalb unscharf, weil die Bewegung bewusst nie die Rolle einer dritten Kraft für sich beanspruchte. Nur so war der Schulterschluss zwischen Ländern, die eher Washington nahestanden – wie Saudi-Arabien, Sierra Leone und Singapur – und Ländern aus dem sozialistischen Lager – wie Algerien, Kuba oder Indien – überhaupt möglich.
1973 standen die Zeichen jedoch auf Entspannung. Dazu hatten die Blockfreien nach ihrer eigenen Überzeugung in hohem Maß beigetragen. Die Mitglieder der Bewegung begrüßten einerseits das im Januar 1973 geschlossene Pariser Abkommen, das den Rückzug der US-Truppen aus Vietnam vorsah. Andererseits beklagten sie, dass die Supermächte sich weder um die Entwicklungsländer noch um eine gerechtere Wohlstandsverteilung scherten. Den Ton gab die indische Premierministerin Indira Gandhi vor, die in ihrer Rede gegen die internationale Arbeitsteilung und die mangelnden Fortschritte bei den multilateralen Handelsverhandlungen wetterte und feststellte: „Ohne wirtschaftliche Befreiung werden die Blockfreien nie vollständig und wirklich frei sein.“1
Damit steckte die Gipfelkonferenz in Algier eine neue Marschroute ab. Fortan forderten die Blockfreien eine „neue Weltwirtschaftsordnung“ und bestanden auf ihrem „Recht auf Entwicklung“. Das Wort „Hilfe“ nahm niemand mehr in den Mund. Es ging nicht darum, die Hand aufzuhalten, sondern die eigenen Stärken einzubringen und die Industrialisierung selbst voranzutreiben.
Die beim Lusaka-Gipfel im September 1970 entwickelte Idee, die Vermarktung der natürlichen Ressourcen als Hebel für die Neuordnung der internationalen Beziehungen zu nutzen, wurde zur offiziellen Richtschnur des Handelns. Länder wie Libyen oder Algerien, die ihre Öl- und Gasindustrie kurz zuvor verstaatlicht hatten, boten den Ländern, die es ihnen gleichtun wollten, Beratung und Unterstützung an.
Die Verstaatlichung wurde als notwendige Konsequenz der Souveränität verstanden; die Entscheidung darüber, wie viel Entschädigung die betroffenen ausländischen Unternehmen bekamen, sollte allein bei dem jeweiligen Staat liegen. Für Rechtsstreitigkeiten waren nach dem Willen der Blockfreien die Gesetze des jeweiligen Landes maßgeblich – eine klare Absage an die internationale Schiedsgerichtsbarkeit.2
Die Opec entdeckt ihre Macht
Die Idee der „neuen internationalen Wirtschaftsordnung“ stützte sich auf die Arbeiten des Theoretikers Samir Amin (1931–2018) und die Berichte der Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (Cepal).3 Eine wichtige Rolle spielten auch die Erfahrungen der lateinamerikanischen Länder, die sich seit mehr als einem Jahrhundert mit dem Problem herumschlugen, wie sie die Souveränität über ihre Rohstoffe erringen oder behaupten könnten.
Salvador Allende nahm an der Konferenz von Algier zwar nicht teil – in einer Nachricht, die im Plenum verlesen wurde, entschuldigte er sein Fernbleiben mit der „ernsten Lage“ in seinem Land. Die chilenische Delegation leistete jedoch auch in Abwesenheit einen substanziellen Beitrag, indem sie verschiedene Vorschläge einbrachte, wie man ausländische Privatinvestitionen einschränken und den Einfluss transnationaler Unternehmen begrenzen könnte.4
Mehrere Staaten, darunter Argentinien und Indonesien, forderten außerdem, die Blockfreien sollten sich bei den Verhandlungen über das Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen (Gatt) auf eine gemeinsame Position verständigen.
Diese hochfliegenden Pläne für eine „neue internationale Wirtschaftsordnung“ erlebten ihre Sternstunde, als der algerischen Präsident Boumedienne am 1. Mai 1974 in der UN-Generalversammlung die „Erklärung über die Errichtung einer neuen internationalen Wirtschaftsordnung“ präsentierte, die zusammen mit einem entsprechenden Aktionsprogramm verabschiedet wurde.
Doch diesem Triumph der Worte war bereits die Katastrophe in Chile vorangegangen: Am 11. September 1973 wurde die Regierung Allende, die in der Blockfreien-Bewegung besonders aktiv gewesen war, durch einen von Washington unterstützten Putsch gestürzt.
In Santiago übernahm das Militär das Kommando und verwandelte das Land, dessen Delegation in Algier noch wenige Tage zuvor für einen „universalen Sozialismus“ geworben hatte, in ein Laboratorium für neoliberale Politik im Geiste der Chicagoer Schule. In der Folgezeit verdrängte das neoliberale Dogma den Keynesianismus als maßgebliches wirtschaftspolitisches Modell, womit auch das von Algier umrissene Programm aus dem Blickfeld geriet.
Ein weiteres Ereignis, das den Elan der Blockfreien bremste, war der Jom-Kippur-Krieg zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarstaaten im Oktober 1973. Die Folgen dieses Konflikts zeigten allerdings erneut, dass natürliche Ressourcen und vor allem das Erdöl in den internationalen Beziehungen ein gewichtiger Einflussfaktor sind. Die Mitglieder der 1968 gegründeten Organisation der arabischen Erdöl exportierenden Länder (Oapec) beschlossen, den Barrelpreis um 70 Prozent zu erhöhen und die Fördermenge um 5 Prozent zu drosseln. Zudem verhängten sie ein Embargo gegen Länder wie die USA und die Niederlande, die Israel mit Waffen belieferten.5
Die Organisation der Erdöl exportierenden Länder (Opec) zog zwangsläufig nach. Der Rest ist bekannt: Der Ölpreisschock ließ die westlichen Volkswirtschaften, die bereits durch die von den USA 1971 eigenmächtig beschlossene Aufgabe der Goldbindung des Dollar angeschlagen waren, in die Rezession rutschen.
Besonders verheerend wirkten sich die Explosion der Energiepreise für die Entwicklungsländer aus, die über keine eigenen Öl- oder Gasvorkommen verfügten. Der von Kuba in Algerien ausgehende Vorschlag, die Rohstoffpreise zu staffeln und den ärmsten blockfreien Ländern einen Preisnachlass zu gewähren, war zu diesem Zeitpunkt schon in Vergessenheit geraten.
In der Ölpreiskrise schwand die Solidarität auch innerhalb der Blockfreien-Bewegung – jedes Land war sich selbst am nächsten. Einige Mitgliedstaaten vor allem im frankofonen Afrika geißelten den Egoismus der Ölförderländer. Diese gerade erst unabhängig gewordenen Länder mussten sich, um über die Runden zu kommen, wieder enger an eine Schutzmacht binden – sei es an Frankreich (das bereits ihre Rohstoffe kontrollierte) oder an Großbritannien oder die USA.
Auch manche Maßnahmen, mit denen die Industrieländer den hohen Rohölpreisen begegneten, trugen indirekt dazu bei, das Programm der „neuen internationalen Wirtschaftsordnung“ im Keim zu ersticken.
Das gilt insbesondere für die Mechanismen der Finanzmärkte, mit denen die reichen Länder die Petrodollars anlockten. Die hatten nämlich erkannt, dass ein großer Teil des plötzlichen Geldsegens, den die Ölförderländer erlebten, in die Volkswirtschaften der Industriestaaten zurückfließen würde. Der freie Kapitalverkehr durfte also auf keinen Fall behindert werden. Dafür sorgten Regierungen, Diplomaten und internationale Organisationen wie der Internationale Währungsfonds (IWF) und die Weltbank.
Der hohe Ölpreis ermöglichte auch die Ausbeutung von Lagerstätten, die zuvor als wenig oder nicht rentabel galten. Die großen Konzerne gingen in die Offensive und boten in aller Welt ihre Dienste und ihr Know-how an. Dieser Verlockung haben nur wenige blockfreie Staaten widerstanden.
Die russische Invasion in der Ukraine verleiht dem Begriff „blockfrei“ heute eine neue Aktualität. Aber die hat auf die Blockfreien-Bewegung, die zwar noch existiert, aber ein Schattendasein fristet – den Vorsitz führt derzeit Aserbaidschan –, keine direkten Auswirkungen. Denn die Weigerung, sich auf die Seite einer der beiden Konfliktparteien zu stellen – und sich damit den Sanktionen gegen Russland anzuschließen –, hat keinerlei Bezug mehr zu der Vision einer solidarischen, also nicht vom Neoliberalismus dominierten Welt.
1 Le Monde, 7. September 1973.
2 Siehe Maude Barlow und Raoul Marc Jennar, „Parteiische Schiedsrichter“, LMd, Februar 2016.
4 Siehe Evgeny Morozov, „Aufstieg und Fall eines Weltkonzerns“, LMd, August 2023.
Aus dem Französischen von Andreas Bredenfeld