07.09.2023

Wiener Spagat

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Wiener Spagat

Österreichs Neutralität  und der Ukrainekrieg

von Fabian Scheidler

Yoshinori Mizutani, Sakura 031, 2015, Pigmentdruck, 97 × 145,6 cm
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Der russische Einmarsch in die Ukraine hat in Österreich eine lebhafte Kon­tro­verse über die Neutralität des Landes ausgelöst. Sie begann bereits im Mai 2022 mit einem offenen Brief, in dem eine Gruppe von rund 40 Persönlichkeiten aus Politik, Militär, Wirtschaft und Kultur – darunter der bekannte Schriftsteller Robert Menasse – eine „ergebnisoffene Debatte“ forderten. Angesichts der russischen Aggression sei „der Status quo unserer Sicherheitspolitik nicht nur unhaltbar, sondern gefährlich“.1

Ein direkter Beitritt Österreichs zur Nato, nach dem Beispiel Finnlands und Schwedens, wurde in dem Brief zwar nicht verlangt, aber auch nicht ausgeschlossen. Seitdem wird in den führenden Medien über die zentralen Fragen einer künftigen österreichischen Außenpolitik diskutiert: Soll man Waffen an die Ukraine liefern? Soll man Lieferungen von Kriegsgerät passieren lassen? Soll man ukrainische Streitkräfte ausbilden und sich an Minenräumaktionen beteiligen?

Der Grundpfeiler der österreichischen Außenpolitik seit 1955, das Prinzip der Neutralität, steht nicht infrage, jedenfalls wenn es nach den Äußerungen der vier größten Parteien im Nationalrat geht: der konservativen ÖVP, der sozialdemokratischen SPÖ, der Grünen und der stramm rechten FPÖ.

Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) hatte zwei Wochen nach der russischen Invasion erklärt: „Österreich war neutral, Österreich ist neutral, und Österreich wird neutral bleiben. Für meinen Teil ist damit die Diskussion beendet.“2 Nur die Liberalen von der Partei Neos, der kleinsten Parlamentsfraktion, stellen die Neutralität offen infrage. Laut Umfragen wird die Beibehaltung des Status quo nach wie vor von 70 bis 80 Prozent der Bevölkerung unterstützt.

Weniger klar ist, was die viel beschworene Neutralität überhaupt konkret bedeutet. Ihre Anhängerinnen wie ihre Kritiker betonen, das Prinzip sei in der Praxis stets recht biegsam gehandhabt worden. Nato-Flüge im österreichischen Luftraum etwa wurden jahrzehntelang von den Regierungen in Wien gebilligt, ebenso US-Panzertransporte durch österreichisches Staatsgebiet im ersten Irakkrieg 1991.

Bei unveränderter Rechtsgrundlage hat sich allerdings die Interpretation des Begriffs im Laufe der Zeit beträchtlich gewandelt.3 Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Österreich wie Deutschland in vier Besatzungszonen aufgeteilt. Doch im Gegensatz zum großen Nachbarn konnte die Alpen­republik eine Teilung vermeiden, indem sie ein Abkommen mit der Sowjet­union schloss.

Das Moskauer Memorandum vom 15. April 1955 garantierte Österreich die Unversehrtheit des gesamten Staatsgebiets unter der Voraussetzung, dass sich das Land zur „immerwährenden Neutralität“ verpflichtete. Das war die Basis für den Staatsvertrag mit den vier Alliierten, der die Unabhängigkeit des Landes besiegelte.4 Am 26. Oktober desselben Jahres verabschiedete das Parlament das Bundesverfassungsgesetz über die Neutralität Österreichs, und die alliierten Truppen zogen ab.

Deutschland hätte diesen Weg möglicherweise ebenfalls einschlagen können. 1952 hatte Stalin den Westmächten Verhandlungen über eine Wiedervereinigung Deutschlands unter Voraussetzung der Neutralität angeboten. Einige prominente Politiker der regierenden CDU wollten dieses Angebot ernsthaft prüfen, darunter Jakob Kaiser, Bundesminister für Gesamtdeutsche Fragen. Doch Kanzler Konrad Adenauer war ebenso dagegen wie die USA. Am 6. Mai 1955 trat die Bundesrepublik Deutschland der Nato bei.

In den Neutralitätsdebatten der 1950er Jahre ging es in beiden Ländern nicht allein um Militärbündnisse, sondern auch um wirtschaftspolitische Weichenstellungen. Der linke Flügel der CDU sprach sich für einen Mittelweg zwischen sowjetischer Planwirtschaft und angelsächsischem Kapitalismus aus: Das Ahlener Programm von 1947 sah eine „Vergesellschaftung“ von Schlüsselindustrien vor, was der Vorstellung eines „Sozialismus aus christlicher Verantwortung“ entsprach.

Adenauer und die westlichen Alliierten wollten von derartigen Ideen nichts wissen und sorgten dafür, dass die westdeutsche Großindustrie in Privatbesitz blieb; was auch bedeutete: in den Händen von Nazikollaborateuren und -profiteuren wie den Familien Quandt (BMW), Porsche-Piëch (Volkswagen) und Flick.5

Anders in Österreich, wo Banken, Schlüsselindustrien und Energieunternehmen bereits 1946/47 verstaatlicht worden waren. Seitdem spielt dort öffentlicher und genossenschaftlicher Besitz eine sehr viel wichtigere Rolle als in Deutschland. In Wien gehört die Hälfte der Wohnungen bis heute Genossenschaften oder öffentlichen Institutionen, in Berlin sind es nur ein Viertel.6 Auch aus diesem Grund ist Wohnen in Wien wesentlich günstiger als in Berlin.

Dass sich die Neutralität zu einem populären und konstitutiven Element der österreichischen Identität entwickelte, ist auch ein persönliches Verdienst von Bruno Kreisky, der von 1953 bis 1959 Staatssekretär im Außenministerium war, anschließend bis 1966 Außenminister und von 1970 bis 1983 Bundeskanzler.

Brückenbauer Kreisky

Der Sozialdemokrat entwarf eine Außenpolitik, die als „aktive“ oder „engagierte“ Neutralität bezeichnet wurde.7 In den 1960er Jahren reiste er als erster westlicher Außenminister nach Bulgarien, Rumänien und Ungarn. Damit bahnte Kreisky den Weg für die deutsche Entspannungspolitik unter Kanzler Willy Brandt (1969–1974), dem er seit ihrem gemeinsamen Exil in Schweden während des Zweiten Weltkriegs freundschaftlich verbunden war.

Kreisky trug auch erheblich zum Erfolg der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) bei, die 1973 und 1974 in Helsinki und Genf stattfand. Die am 1. August 1975 verabschiedete Schlussakte von Helsinki schuf den institutionellen Rahmen für die Entspannungspolitik der folgenden Jahre. So war es folgerichtig, dass die OSZE, die 1995 aus der KSZE hervorgegangen ist, ihren Hauptsitz in Wien bezog, wo sich in der Ära Kreisky schon mehrere UN-Organisationen niedergelassen hatten. Als diplomatisches Zentrum verschaffte sich Österreich nicht nur internationales Renommee, sondern auch „negative Sicherheitsgarantien“, die einem Angriff gegen das neutrale Land vorbeugen.

Kreisky engagierte sich auch für eine Annäherung zwischen der israelischen Regierung und der palästinensischen PLO, die schließlich in den Friedensprozess von 1993 mündete. Zusammen mit anderen neutralen Staaten wie dem von Kreiskys Freund Olof Palme regierten Schweden pflegte Österreich intensive Beziehungen zur Bewegung der Blockfreien Staaten und unterstützte deren Forderung nach einer „neuen internationalen Wirtschaftsordnung“ (New International Economic Order, Nieo). Es spielte auf der internationalen Bühne also eine viel bedeutsamere Rolle, als es seiner Größe entsprochen hätte.

Während die SPÖ unter Kreisky eine Mitgliedschaft zur Europäischen Gemeinschaft sowohl aus wirtschafts- als auch aus außenpolitischen Gründen noch ablehnte – wie übrigens auch die 1986 gegründeten Grünen –, bewarb sich Österreich unter Bundeskanzler Franz Vranitzky, ebenfalls SPÖ, 1989 um den Beitritt.

Die vorläufige Antwort der EU-Kommission vom 31. Juli 1991 enthielt zwei Vorbehalte: Sie kritisierte den starken öffentlichen Sektor, der den Arbeitern zu viele Privilegien einräume und die Wettbewerbsfähigkeit behindere. Und sie bemängelte, dass die Neutralität Österreichs „ein spezifisches Problem“ darstelle.

Mit der umfänglichen Privatisierung öffentlichen Eigentums seit den 1990er Jahren schaffte die Wiener Regierung das erste Problem weitgehend aus dem Weg, gab damit aber auch den eigenständigen wirtschaftspolitischen Weg auf und unterwarf sich dem EU-Strukturanpassungsprogramm. Die Lösung für das Neutralitätsproblem bestand schließlich darin, dass sich Österreich zur vollen und aktiven Beteiligung an der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) bekannte.

Zwar kann sich auch Wien auf die „Irische Klausel“ des EU-Vertrags berufen, wonach die Verteidigungspolitik „den besonderen Charakter […] bestimmter Mitgliedstaaten“ nicht berühren darf. Aber in der Praxis beteiligt sich Österreich sowohl an EU-Kampfgruppen wie an der Friedensfazilität, einem europäischen Fonds, der wegen möglicher Waffenlieferungen in Konfliktregionen in die Kritik geraten ist.

Um die Integration in die militärischen Strukturen der EU zu ermöglichen, erklärte die österreichische Regierung im November 1990 sogar einseitig mehrere Artikel des Staatsvertrags für obsolet. Dagegen protestierte zwar der Vertragspartner UdSSR, doch die drei westlichen Partner schwiegen.

Mit dem russischen Einmarsch in die Ukraine ist die öffentliche Debatte über die österreichische Außenpolitik nun offen ausgebrochen. Selbst innerhalb der konservativ-grünen Koalitionsregierung wird Neutralität in diesem Kontext unterschiedlich interpretiert. Während Verteidigungsministerin Klaudia Tanner (ÖVP) eine Unterstützung der Ukrai­ne bei der Minenräumung ablehnt, solange der Krieg andauert, ist der aus dem grünen Lager stammende Bundespräsident Alexander van der Bellen – als Oberbefehlshaber der Streitkräfte – offen dafür. Einig sind sich die Regierungsparteien jedoch über die massive Aufrüstung des Bundesheers, dessen Budget bis 2025 verdoppelt werden soll.

Die Diskussionen jenseits der großen Parteien gehen über diesen Rahmen weit hinaus. Eine kleine Minderheit unter Führung des Wirtschaftslobbyisten Günther Fehlinger fordert einen Beitritt zur Nato, stößt damit aber auf wenig Resonanz. Andere Neutralitätsgegner setzen nicht auf die Nato, sondern auf eine gesamteuropäische Verteidigung, in die Österreich sich stärker eingliedern solle.

Auch Robert Menasse tritt für ein „wehrhaftes Friedensprojekt“ eines souveränen Europa ein, das sich im Notfall verteidigen können müsse. Darin sieht Menasse die Alternative zu einem Nato-Beitritt, der Österreich in Konflikte der Supermächte hineinziehen würde. Die „Fiktion der österreichischen Neutralität“ solle man aufgeben.

Menasse und Gleichgesinnte wollen letztlich die Abhängigkeit Europas von den USA überwinden. Verteidiger der Neutralität, wie etwa Gerald Oberansmayr von der Solidarwerkstatt Österreich, sehen dagegen die fortschreitende Integration in eine immer stärker militarisierte Europäische ­Union nicht als Lösung. Zu fürchten sei, dass eine aufgerüstete EU zunehmend imperial und neokolonialistisch agiere.8

Auch der Politologe Heinz Gärtner von der Universität Wien setzt auf die diplomatische Souveränität Europas. Als Befürworter einer Rückkehr zu Kreiskys engagierter Neutralität hat er im März 2014 einen Neutralitätsstatus für die Ukraine nach dem österreichischen Modell vorgeschlagen, um einen russisch-ukrainischen Krieg abzuwenden – eine Vision, die kurze Zeit später auch Henry Kissinger formulierte.9 Die Idee wurde damals sogar von Außenminister Sebastian Kurz übernommen, jedoch bald wieder aufgegeben – wie Gärtner vermutet, auf Druck der Nato.

Das goldene Zeitalter der engagierten Neutralität liegt zweifellos hinter uns. Zwar hat Österreich noch in den 2010er Jahren – gegen den Willen der Nato – einen wichtigen Beitrag zu den Verhandlungen um den Atomwaffenverbotsvertrag der Vereinten Nationen geleistet, doch bei anderen Themen ist man immer mehr auf die Positionen von EU und Nato eingeschwenkt.

Das Angebot der ukrainischen Regierung im März 2022, unter Verzicht auf eine Nato-Mitgliedschaft ein Waffenstillstandsabkommen abzuschließen, fand in Wien keine aktive Unterstützung. Österreich beteiligte sich auch nicht an den Verhandlungsinitiativen für einen Waffenstillstand, die von der Türkei, Israel, Brasilien, Indien und mehreren afrikanischen Ländern angestoßen wurden.

Dabei braucht die gegenwärtige Weltlage mehr denn je europäische Akteure mit außenpolitischer Bewegungsfreiheit, die im globalen Süden als glaubwürdig gelten. Die sich zuspitzende Konfrontation des Westens mit Russland und China erhöht die Gefahr eines Atomkriegs erheblich. Sie erschwert außerdem die Lösung anderer drängender Menschheitsaufgaben, insbesondere die Verhinderung eines Klima- und Biodiversitätskollapses.

„Das Denken in Blöcken“, meint Heinz Gärtner, „hat schon immer das Denken blockiert.“ Als Alternative zu einer neuen Aufrüstung im atlantischen oder europäischen Rahmen tritt er für zivile Institutionen nach dem Vorbild der OSZE ein, die Brücken zwischen den Machtblöcken schaffen können.

Einst war Österreich ein Meister im Bau solcher Brücken. Derzeit begnügt es sich damit, den Spagat zwischen formaler Neutralität und Integration in die westlichen Militärstrukturen zu üben. Im Juni kündigte Regierungschef Nehammer an, Österreich werde sich an der Initiative der europäischen Nato-Staaten zur Luftverteidigung (Sky Shield) beteiligen – nur um bei anderer Gelegenheit die gute alte Neutralität zu loben.

1 „Prominente fordern ernsthafte Diskussion über Verteidigungspolitik“, Der Standard, Wien, 22. Mai 2002.

2 „Nehammer: Österreich bleibt neutral“, Kurier, 8. März 2022: kurier.at.

3 Franz Cede und Christian Prosl, „Anspruch und Wirklichkeit. Österreichs Außenpolitik seit 1945“, Innsbruck (Studien Verlag) 2015.

4 Auf Verlangen der Westalliierten wurde die Neutralität jedoch nicht explizit in den Staatsvertrag aufgenommen.

5 David de Jong, „Nazi Billionaires. The Dark History of Germany’s Wealthiest Dynasties“, New York (Mariner Books) 2022.

6 „Gemeinnütziger Wohnungsbau in Wien & Wohnungsbauförderung in Berlin“, Dokumentation der Fachtagung des kommunalpolitischen forum e. V. am 28./29. September 2018 in Berlin.

7 Der Ausdruck „engagierte Neutralität“ stammt von Heinz Gärtner. Vgl. „Engaged Neutrality. An Evolved Approach to the Cold War“, Lanham (Lexington Books) 2017.

8 Diese Tendenz wird sichtbar bei Timothy Garton Ash, „Postimperial Empire“, Foreign Affairs, New York, Mai/Juni 2023.

9 Heinz Gärtner, „Kiew sollte sich Neutralität Österreichs ansehen“, Der Standard, 3. März 2014.

Aus dem Französischen von Sabine Jainski

Fabian Scheidler ist Journalist und Autor unter anderem von: „Das Ende der Megamaschine. Geschichte einer scheiternden Zivilisation“, Wien (Promedia) 2015.

Le Monde diplomatique vom 07.09.2023, von Fabian Scheidler