07.09.2023

Getreide auf Abwegen

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Getreide auf Abwegen

Mitte Juli verkündete Russland seinen Ausstieg aus der Schwarzmeer-Getreideinitiative. Seither setzt die EU wieder stärker auf Landkorridore. Doch den osteuropäischen Getreidebauern macht die Konkurrenz aus der Ukraine zu schaffen.

von Corentin Léotard

Yoshinori Mizutani, Moonlight 05, 2014, Pigmentdruck, 84 × 63 cm
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Am 12. Mai 2022 beschloss die EU-Kommission, die Ukraine durch so genannte Solidaritätskorridore mit der EU zu verbinden, um die teilweise Blockade der Schwarzmeerhäfen zu umgehen, über die vor dem Krieg 90 Prozent der Agrarexporte abgewickelt worden waren. Das erklärte Ziel: Die Getreidelieferungen aus der Ukraine sollten ihre gewohnten Absatzmärkte in Nordafrika und im Nahen Osten erreichen.

So sollte die globale Ernährungssicherheit gewährleistet und die ukrainische Wirtschaft unterstützt werden. Die EU-Kommission forderte alle Marktteilnehmer in der EU auf, „dringend die erforderlichen Ausrüstungen, Fahrzeuge, Lastkähne und Schiffe zur Verfügung zu stellen“. Es brauche „Flexibilität, Reaktionsfähigkeit und Resi­lienz, um die Transportrouten und Lieferketten zwischen der EU und der Ukrai­ne funktionsfähig zu halten.“1

Einfuhrzölle und Importquoten zwischen der EU und der Ukraine wurden mit sofortiger Wirkung ausgesetzt. Brüssel ermutigte die osteuropäischen Mitgliedstaaten, die Grenzformalitäten auf ein Minimum zu reduzieren und ihre Lagerkapazitäten für Getreide auszuweiten.

Tatsächlich verbesserte sich die Anbindung an die europäischen Transportnetze schnell, und die Kapazität der Umschlagterminals stieg rasch an. Ein Jahr später, im Mai 2023, verkündete die Union, man habe über diese alternativen Transportwege die Ausfuhr von 38 Millionen Tonnen landwirtschaftlicher Erzeugnisse – überwiegend Getreide und Ölsaaten – sichergestellt.2

Nachdem Russland im Juli das Getreide-Abkommen aufgekündigt hat, beabsichtigt die EU jetzt die alternativen Landwege auszubauen. „Wir müssen unbedingt die europäischen Solidaritätskorridore verbessern“, erklärte am 26. Juli der spanische Landwirtschaftsminister Luis Planas, dessen Land kürzlich den Vorsitz im Rat der Europäischen Union übernommen hat.

Die EU feierte den Erfolg der Solidaritätsinitiative. Doch es gab auch Leidtragende der neuen Korridore – und die wurden geflissentlich ignoriert. Am 23. Mai demonstrierten ungarische, rumänische, polnische und slowakische Landwirte in Brüssel, um die EU-Kommission darauf hinzuweisen, dass das ukrainische Getreide nicht in den Solidaritätskorridoren verblieb: Mehrere hunderttausend Tonnen Mais und Getreide waren auf den eigentlich geschützten Märkten der Transitländer aufgetaucht.

Dadurch fielen natürlich die Getreidepreise in den betroffenen Staaten: Ende April war der Preis für Weizen in Ungarn im Vergleich zum Vorjahr um 31 Prozent gesunken, der für Mais um 28 Prozent.3

Der Vorsitzende des ungarischen Nationalverbands der Getreideerzeuger, Tamás Petőházi, gibt an, dass im Frühjahr 2022 etwa 4 bis 5 Millionen Tonnen ukrainischen Getreides in Ungarn gelagert worden seien. „Seit Herbst 2022 ist die Nachfrage nach heimischen Produkten drastisch zurückgegangen, denn die Abnehmer kaufen alle Mais, Weizen und Gerste aus der Ukraine.“ Er geht davon aus, dass das länger so bleiben wird.

Die Regierung in Budapest kritisierte, die Korridor-Initiative sei schlecht konzipiert und werde den Mitgliedstaaten aufgezwungen. „Das ukrainische Getreidedumping entzieht den Landwirten die Lebensgrundlage, sie haben ihre bisherigen heimischen und europäischen Absatzmärkte verloren“, erklärte der ungarische Landwirtschaftsminister István Nagy gegenüber der Online-Wirtschaftszeitung Világgazdaság. Die Einrichtung der Solidaritätskorridore sei gut gemeint gewesen, doch hätten Getreidegroßhändler bald „von der Möglichkeit profitiert, zum halben Preis ukrainisches Getreide zu kaufen, das nun in Ungarn und seinen Nachbarländern lagert“.

Aber wer hat das Getreide, das eigentlich nur für den Transit vorgesehen war, überhaupt auf den Markt gebracht? „Das sind die Händler, die Verlader; alle, die am internationalen Agrobusiness beteiligt sind“, erklärt die Geografin Marie-Claude Maurel.4 Die hätten seit den 2010er Jahren in der Ukraine leistungsfähige Anlagen installiert, um das produzierte Getreide weiterzuverarbeiten.

Streit über Importe aus der Ukraine

„Die sehr großen Agrarbetriebe, späte Erben der staatseigenen Großbetriebe, wurden von ausländischen Investoren aus Europa und Amerika umgestaltet“, sagt Maurel. Diese beherrschten nun den Getreideanbau, und zwar dank intensiver Mechanisierung zu äußerst günstigen Bedingungen. „Das ist eine Konkurrenz, die es eigentlich nicht geben dürfte, denn im Prinzip ist der EU-Binnenmarkt geschützt.“

Vor dem Krieg exportierte die Ukrai­ne sehr wenig Getreide in die EU – etwa 500 000 Tonnen pro Jahr –, hauptsächlich auf dem Seeweg nach Spanien und Italien; nicht aber nach Osteuropa. Doch mit der Öffnung der Landwege konnte die Ukraine nach Zahlen der französischen Agrarberatungsfirma Tallage zwischen Juli 2022 und Juli 2023 je 800 000 Tonnen Weizen in Polen und Rumänien und 250 000 Tonnen in Ungarn verkaufen.

Diese Auswirkungen waren nicht in allen osteuropäischen Staaten gleich. Polen etwa importierte mit 1,4 Millionen Tonnen zehnmal so viel Mais aus der Ukraine wie üblich und saß wegen sehr guter Ernten auf einem enormen Überschuss von 600 000 Tonnen.

In Ungarn dagegen bedeuteten die Maislieferungen aus der Ukraine angesichts einer qualitativ wie quantitativ sehr schlechten Ernte die Rettung. Die ungarische Produktion taugte nicht einmal für Viehfutter und musste als Biokraftstoff verramscht werden.

„Das Getreide aus der Ukraine hat mein Unternehmen gerettet“, sagte Zoltán Reng, Geschäftsführer von Hungrana Zrt., einem Schwergewicht der ungarischen Agrar- und Lebensmittelwirtschaft. „Im April 2022 haben wir ein Importprogramm aus der Ukrai­ne gestartet, das auch von der Regierung unterstützt wird.“

Rengs Aussagen stehen in krassem Gegensatz zur aktuellen Schmutzkampagne in den regierungsnahen Medien. Dort wurden die Ukrainer schon vorher als Kriegstreiber bezeichnet, nun werden sie auch noch als Giftmischer mit pestizidbelastetem Getreide verleumdet.

„Die EU-Kommission hält an ihrem Narrativ im Hinblick auf die Solidaritätskorridore fest“, sagt der ungarische Agrarökom György Rasko. Die ukrainischen Verkäufer seien ihrerseits begeistert von der Idee, den europäischen Markt zu beliefern. „Das ist nur zu verständlich, denn der bietet ihnen mehr Gewinn bei weniger Risiko.“

Indirekt mussten sich die europäischen Bauern schon immer gegen die ukrainische Konkurrenz behaupten, zum Beispiel auf den nordafrikanischen Märkten. Mitte April 2023 begehrten die osteuropäischen Staaten gegen die ausschließliche Zuständigkeit der EU für die gemeinsame Handelspolitik auf. Zuerst schloss Polen seine Grenze und den Solidaritätskorridor. Obwohl Polen die Ukraine ansonsten tatkräftig unterstützt, konnte die nationalkonservative Regierung es sich nicht leisten, ein halbes Jahr vor den Parlamentswahlen die Landwirte zu verprellen.

Noch am gleichen Tag zog Ungarn nach, später folgten die Slowakei und Bulgarien. Am 9. Mai verurteilte der ukrai­­nische Präsident Wolodimir Selenski in Gegenwart der Kommis­sions­prä­si­dentin Ursula von der Leyen die „strengen und sogar grausamen protektionistischen Maßnahmen“. In einem Brief an die rebellierenden Mitgliedstaaten hatte von der Leyen geschrieben, solche unilateralen Maßnahmen könnten den Gegnern der Ukraine in die Hände spielen.

Allerdings hatte die Kommission bereits am 2. Mai in einer Mitteilung eingeräumt, dass „besondere Umstände die wirtschaftliche Überlebensfähigkeit der Produzenten vor Ort beeinträchtigen“. Sie versprach eine Zahlung in Höhe von 100 Millionen Euro aus der Agrarreserve. Eine erste Unterstützungsmaßnahme in Höhe von 56,3 Millionen Euro war im März beschlossen worden.

Wichtiger ist: Als Gegenleistung für die erneute Öffnung ihrer Grenzen hat die Kommission Ungarn, Polen, der Slowakei und Bulgarien zugesichert, dass Weizen, Mais, Raps und Sonnenblumenkerne aus der Ukraine nur im Rahmen des gemeinsamen Zollversandverfahrens transportiert werden können.

Die Erzeugnisse sind immer noch zoll- und quotenfrei, können durch diese Länder jedoch lediglich transportiert und nicht dort gelagert oder verkauft werden. Mit anderen Worten: Es geht darum, in den vier Ländern das anfangs festgelegte Prinzip der Solidaritätskorridore tatsächlich umzusetzen. Die Kommission kündigte allerdings an, es handle sich um „außerordentliche und vorübergehende präventive Maßnahmen“. Sie gelten zunächst bis zum 15. September.

In Ungarn gehen die Meinungen über das de facto bestehende Importverbot auseinander. Es entlastet die Getreideanbauer, doch die Hersteller von Biokraftstoffen und besonders der nationale Verband der Getreidehändler sind unzufrieden. Sie sprechen von einer drohenden Maisknappheit und warnen vor zukünftigen Schwierigkeiten für Futtermittelhersteller und Mastbetriebe.

Die Frage ist, ob es bei der Öffnung der Korridore nur darum ging, die Lieferung auf die üblichen Absatzmärkte der Ukraine in Nordafrika und im Nahen Osten zu ermöglichen. Oder hatten die Produzenten in der Ukraine auch neue Absatzmöglichkeiten in Europa im Blick?

Die Kommission räumt lediglich ein logistisches Problem ein – „Engpässe“, die zu einem Stau der Getreidelieferungen geführt hätten. Ein strukturelles Problem bestehe nicht. Die Solidaritätskorridore tragen dazu bei, die im Frühjahr 2022 beschlossene vorübergehende Liberalisierung aller Importe aus der Ukraine zu beschleunigen. „Mit Blick auf einen zukünftigen Beitritt der Ukraine zur EU stellt sich die Wettbewerbsfrage auf drastische Weise. Es ist ein Warnsignal“, meint die Geografin Maurel.

Die osteuropäischen Landwirte befürchten, dass es sich bei den Notfallmaßnahmen und der „vorübergehenden“ Öffnung für ukrainische Produkte um die erste Phase einer Schnell­inte­gra­tion des Landes in den gemeinsamen Markt handelt. Unter den aktuellen Umständen könnten die euro­päi­schen Getreidebauer kaum mit den extrem produktiven Lieferanten aus dem östlichen Nachbarland konkurrieren, selbst wenn die ukrainischen Betriebe den sehr viel strengeren Umweltschutzbestimmungen der Union entsprechen müssten.

Derweil organisiert Brüssel bereits den Wettbewerb über eine digitale Matchmaking-Plattform, die ukrainische Händler mit Logistikunternehmen vernetzt. Zusätzlich entstehen private Initiativen.

Aus Solidarität mit der Ukraine richtete das österreichische Bahnfrachtunternehmen Rail Cargo Aus­tria die Plattform „GrainLane“ ein, laut ukrai­ni­schen Medien in Zusammenarbeit mit der EU-Kommission. Grain­Lane stellt Verbindungen her zwischen „ukrainischen Produzenten sowie Käufern und Einzelhändlern in Europa und Afrika, die vor dem Krieg oft keine Handelsbeziehungen unterhielten“. Mit wenigen Mausklicks können sie ohne Gebühren Handelsgeschäfte abschließen und den – kostenpflichtigen – Transport organisieren.

„Die Europäische Union und die Ukraine haben ein gemeinsames Interesse an einem Freihandelsabkommen. Das würde die Märkte drastisch verändern“, meint György Rasko. „Nach einem Jahr mit den Solidaritätskorridoren wissen die hiesigen Landwirte, was das bedeutet.“

Der Leiter eines ungarischen Großbetriebs (2.200 Hektar), der ukrainischen Mais gekauft hat, sieht die Entwicklung durchaus positiv – und relativiert die gegenwärtigen Schwierigkeiten: „Seit 2004 erleben wir dank der Subven­tio­nen der Gemeinsamen Agrarpolitik ein goldenes Zeitalter mit wenig Wettbewerb. Wir müssen die Produktivität steigern oder vielseitiger werden.“

Ungarns Landwirtschaftsminister Nagy versichert, der Solidaritätskorridor werde weiterhin bestehen. Doch in Zukunft sollen, wie in Polen, alle in das Land einfahrenden Konvois dokumentiert, kontrolliert, versiegelt und bis zur Ausfuhr streng überwacht werden.

1 „Ein Aktionsplan für Solidaritätskorridore zwischen der EU und der Ukraine zur Erleichterung der Agrarexporte der Ukraine und ihres bilateralen Handels mit der EU“, Europäische Kommission, Brüssel, 12. Mai 2022.

2 „Food for the World, what EU countries are doing to mitigate the impact of Russia’s war“, Rat der Euro­päi­schen Union.

3 „Agricultural Market Reports – Cereals and indus­trial crops“, Institute of Agricultural Economics (AKI), Budapest, September 2023.

4 „En Europe centrale, l’agriculture est-elle la limite au soutien ukrainien?“, Radio France, 21. April 2023.

Aus dem Französischen von Heike Maillard

Corentin Léotard ist Journalist und Chefredakteur des Courrier d’Europe centrale, Budapest.

Le Monde diplomatique vom 07.09.2023, von Corentin Léotard