Dollar ciao
Die Weltwährung bekommt Konkurrenz
von Renaud Lambert und Dominique Plihon
Als eine Presseagentur 1897 voreilig das Ableben Mark Twains vermeldete, kommentierte dieser: „Die Nachricht von meinem Tod ist stark übertrieben.“ Diese mittlerweile geflügelten Worte lassen sich auch auf viele Äußerungen münzen, die in letzter Zeit vom Ende der Vorherrschaft des Dollars künden. Das bestehende internationale Währungssystem liegt nämlich – einigen krachenden Politikersprüchen zum Trotz – keineswegs auf dem Totenbett. Allerdings ist es ebenso krank, wie es Mark Twain zum Zeitpunkt der verfrühten Todesmeldung war.
Die globale Rolle des Greenback wird nicht erst seit gestern infrage gestellt. 2010 nutzte Präsident Nicolas Sarkozy den Vorsitz Frankreichs beim G20-Gipfel zur Kritik an einem System, das „einen Teil der Welt von der amerikanischen Geldpolitik abhängig macht“.1 50 Jahre zuvor hatte Valéry Giscard d’Estaing in seiner Rolle als französischer Finanzminister über das „exorbitante Privileg“ geklagt, das die internationale Nutzung des Dollars den USA verschaffe.
Bereits 1958 hatte der belgische Ökonom Robert Triffin auf die offensichtlichen Ungleichgewichte des 14 Jahre zuvor etablierten internationalen Währungssystem hingewiesen und von einer „unmittelbaren Bedrohung“ für den US-Dollar gesprochen.2 Und 1976 prophezeite der US-Ökonom Charles Kindleberger: „Der Dollar als internationale Währung ist am Ende.“3 Doch 47 Jahre später gilt der totgesagte Greenback immer noch als Lebenselixier des Weltwirtschaftssystems.
Sind die jüngsten Abgesänge auf den US-Dollar also lediglich eine Reprise des alten Liedes? Nicht unbedingt. Als Wladimir Putin den „Anfang vom Ende“ des Dollars vorhersagte4 und Brasiliens Ex-Präsidentin Dilma Rousseff, die heutige Chefin der Entwicklungsbank „New Development Bank“ der Brics-Staaten,5 davon sprach, man werde „Mittel und Wege finden“, um die Abhängigkeit von einer einzigen Währung zu beenden,6 geschah dies vor dem Hintergrund des Kriegs in der Ukraine. Die in diesem Kontext verhängten Sanktionen haben den Kritikern des internationalen Währungssystem weitere Munition geliefert.
Wie ist dieses System entstanden? Nach dem Zweiten Weltkrieg konnten die USA als die stärkste Siegermacht eine weltweite Dominanz durchsetzen. Diese „Pax Americana“ beruhte auch auf einem vom US-Dollar beherrschten Währungssystem, dessen Funktionsweise durch das Bretton-Woods-Abkommen vom Juli 1944 festgelegt wurde: Der Dollar wurde zur einzigen Währung, die direkt in Gold getauscht werden konnte – und damit zur Ankerwährung für die Festlegung sämtlicher Wechselkurse.
Der internationale Währungsfonds (IWF)7 und die Weltbank, die zur Überwachung der Umsetzung dieses Abkommens gegründet wurden, haben ihren Sitz in Washington; die USA erhielten im IWF ein Vetorecht und stellen regelmäßig den Präsidenten der Weltbank.
Um ihre Kredite tilgen zu können, müssen sich Schuldnerstaaten in der Regel bei ihren Partnern um die nötigen Devisen bemühen – nicht so jedoch die USA. Bereits im Februar 1965 kritisierte der französische Präsident Charles de Gaulle, dass Washington
sich „gratis“ verschulden könne, weil es seine Schulden teilweise mit Dollars begleiche, die es selber drucken könne, „und nicht mit Gold, welches einen reellen Wert hat und das nur jener besitzt, der es auch vorher verdient hat“. Dieses „Privileg“ gestatte es den USA, ohne Rücksicht auf ihre Zahlungsbilanz mit Geld um sich zu werfen.
Darüber hinaus bot das System den USA noch weitere Vorteile: Erstens konnten sie problemlos ihre Militärausgaben für den Kalten Krieg finanzieren; zweitens konnten sie den Lebensstandard eines Großteils ihrer Bevölkerung künstlich hochhalten, und drittens konnten die US-Unternehmen ihre Direktinvestitionen im Ausland zu geringeren Kosten finanzieren, also international expandieren.
Das Resultat war allerdings, dass die größte Weltmacht auch das Land mit der weltweit höchsten Auslandsverschuldung ist. Die belief sich Anfang 2023 auf 24,952 Billionen US-Dollar (23,672 Billionen Euro).
Schon bald nach 1945 traten die Widersprüche des – auf dem sogenannten Dollar-Standard, sprich der Dollar-Dominanz basierenden – internationalen Währungssystems offen zutage. Wie der Ökonom Robert Triffin Ende der 1950er Jahre diagnostizierte, musste das System zwei miteinander unvereinbare Funktionen erfüllen: Einerseits war die US-Notenbank (Fed) gezwungen, angesichts des wachsenden Welthandels regelmäßig US-Dollar auszugeben. Aber dieses „Privileg“ führte auch dazu, dass die Menge der im Umlauf befindlichen US-Dollar schneller wuchs als die in Fort Knox gelagerten Goldreserven. Die anderen Staaten konnten sich also nicht mehr darauf verlassen, dass sie ihre US-Dollar-Guthaben jederzeit in Gold umtauschen können.
Auf dieser Gewissheit basierte jedoch das ganze internationale Währungssystem und damit die Goldparität des Dollar. Deshalb waren die USA andererseits zur Verringerung ihrer Defizite gezwungen – auch auf die Gefahr hin, dass der internationale Handel beeinträchtigt und die globale Konjunktur geschwächt wurde.
Für Washington war es freilich undenkbar, auf den Bretton-Woods-Mechanismus als Garant der eigenen Dominanz zu verzichten. Vor diesem Hintergrund forderte Charles de Gaulle 1965 die USA auf, die französischen Dollarreserven in Gold umzutauschen. Damit verärgerte er das Weiße Haus und bekam den Spitznamen „GaulleFinger“ verpasst – in Anspielung auf den James-Bond-Film „Goldfinger“.
Weil die Goldreserven der Vereinigten Staaten nicht ausgereicht hätten, um weitere solcher Umtauschforderungen zu erfüllen, verfügte US-Präsident Richard Nixon am 15. August 1971 das Ende des Bretton-Woods-Währungssystems, indem er die Goldkonvertibilität des Dollar aufhob, was faktisch die Rückkehr zu freien Wechselkursen bedeutete.
Die einseitige Entscheidung führte zur „Wiedereröffnung des großen Währungscasinos“, wie es der Ökonom James K. Galbraith formulierte.8 Gleichzeitig erlaubte sie die schrittweise Rückkehr zu einem liberalisierten Kapitalverkehr, der die Krisen der Zwischenkriegszeit ausgelöst hatte, weshalb er durch das Bretton-Woods-Abkommen hatte eingedämmt werden sollen.
Dabei fungierte die nationalen Zielen dienende US-Währung auch weiterhin als globale „Schlüsselwährung“, was US-Finanzminister John Connally gegenüber beunruhigten europäischen Diplomaten mit dem zynischen Satz kommentiert haben soll: „Der Dollar ist unsere Währung, aber Ihr Problem.“
An dieser Konstellation hat sich bis heute nichts geändert. So hat die Fed seit März 2022 ihre Leitzinsen unter dem Druck der Inflation und innenpolitischer Probleme in mehreren Schritten angehoben.9 Diese national motivierten politischen Entscheidungen bescheren dem Rest der Welt „schlechtere Wachstumsaussichten und erhöhen die Wahrscheinlichkeit einer Rezession“, beklagt die Brics-Bank-Chefin Dilma Rousseff.10
Solche Kritik ist nicht wirklich neu. Doch der Krieg in der Ukraine hat ein Schlaglicht auf eine andere Fehlfunktion des internationalen Währungssystems geworfen: Washington macht sich die Doppelrolle des Dollar als nationale Währung und Schlüsselwährung des internationalen Währungssystems zunutze, um „feindliche“ private oder staatliche Wirtschaftsakteure mit Sanktionen zu belegen. Seit 2022 wird immer wieder kritisiert, damit verwandele sich der Dollar in eine „Waffe“.
Die Liste der Zwangsmaßnahmen des US-Finanzministeriums, die teils schon vor dem russischen Überfall auf die Ukraine verhängt wurden, umfasst 2206 Seiten mit 12 000 Namen aus 22 Ländern. Damit ist „mehr als ein Viertel der Weltwirtschaft mit Sanktionen in der ein oder anderen Form belegt“.11
Die USA genießen also das Privileg, nicht nur problemlos Schulden machen und ihre Währung als Druckmittel einsetzen zu können, sondern auch Macht jenseits der eigenen Grenzen auszuüben. Dank des Greenback kann Washington seine Entscheidungen allen Akteuren aufzwingen, die ihren Handel mit der US-Währung bestreiten. 2015 wurde die französische Bank BNP-Paribas von den US-Behörden mit einer Rekordstrafe von 8,9 Milliarden Dollar belegt, weil sie das von Washington verhängte Embargo gegen Kuba, Sudan und Iran missachtet hatte. Da die meisten Transaktionen der Bank mit diesen drei „feindlichen“ Ländern in US-Dollar abgewickelt wurden, mussten sie über eine Verrechnungsstelle mit Sitz in den USA laufen. Damit fielen sie unter US-Recht.
Im Vergleich mit den Sanktionen gegen Kuba, Nordkorea, Afghanistan, Iran und Venezuela erreichten die Strafmaßnahmen, die gegen Russland aufgrund des Ukrainekriegs verhängt wurden, eine neue Dimension. Die USA und ihre Verbündeten schlossen Moskau vom internationalen Zahlungssystem Swift aus und konfiszierten russische Dollar- und Euro-Devisenreserven im Wert von 300 Milliarden Dollar – was aus russischer Sicht auf schlichten Geldraub hinausläuft.
Renminbi, Dirham oder Rupie?
Ein internationales Währungssystem, dessen Schlüsselwährung gleichzeitig die Landeswährung einer Supermacht ist, kann nur stabil sein, wenn „den untergeordneten Ländern durch die wirtschaftliche und finanzielle Integration mehr Vorteile als Nachteile entstehen“, konstatieren die Ökonomen Michel Aglietta, Guo Bai und Camille Macaire. Und wenn das internationale Dollar-Zahlungssystem bewusst genutzt wird, um private Transaktionen mit Ländern zu blockieren, die US-Sanktionen unterliegen, handele es sich eindeutig, um „die Instrumentalisierung des Dollar als Mittel politischer Herrschaft“.12
Das zwingt die Gegner zu Reaktionen: „Nicht wir verstoßen den Dollar“, erklärte Russlands Präsident Putin 2020. „Der Dollar verstößt uns.“13 Und Paulo Nogueira Batista Jr., der zwischen 2007 und 2015 die von Brasilien angeführte Staatengruppe im IWF repräsentierte, stellte fest: „Heute sind die USA der ärgste Feind des Dollar.“
Die logische Folge wäre, dass Länder, deren Beziehungen zu den USA eingefroren sind oder abzukühlen drohen, auf eine „Entdollarisierung“ hinarbeiten. Die Frage ist nur, welche Alternative sie besitzen.
Dazu fällt einem als Erstes ein: Wenn ein Land Probleme mit der Währung eines anderen Landes hat, könnte es ja die eigene benutzen. Tatsächlich haben einige Staaten damit bereits begonnen. Im April 2023 kündigten Indien und Malaysia an, dass sie ihre Handelsgeschäfte in Indischen Rupien abwickeln wollen. Einen Monat zuvor hatten sich Peking und Brasília auf Anreize für Transaktionen in ihren eigenen Währungen verständigt. Auch Frankreich will ein Fünftel seines Handels mit China künftig in Renminbi abwickeln.14
Diese Initiativen sind nicht unbedingt Ausdruck einer antiamerikanischen Revolte mit dem Ziel, die Dollar-Dominanz zu brechen. Tatsächlich erfolgt die „Entdollarisierung“ des Handels, auch wenn sie geopolitisch begründet wird, aus anderen, pragmatischeren Gründen: Man will die hohen Transaktionskosten reduzieren, die dadurch entstehen, dass Zahlungen nicht direkt in den nationalen Währungen verrechnet werden, sondern nur mittels zwei Transaktionen über die Ankerwährung Dollar erfolgen können.
Selbstredend wird die allgemeine Tendenz zur Neuorientierung des internationalen Handels durch das riesige internationale Handelsnetz Chinas begünstigt. Für 61 Staaten der Welt ist China der wichtigste Handelspartner, bei den USA dagegen gilt das nur für 30 Länder.15
Allerdings gibt es einen wichtigen Hemmfaktor, auf den Nogueira Batista Jr. verweist: „Im bilateralen Handel gibt es selten ausgeglichene Bilanzen, sodass eines der beiden Länder zwangsläufig die Devisen seines Partners anhäuft.“ Das könne problematisch werden, „vor allem dann, wenn die betreffende Währung wertmäßig stark schwankt oder nicht problemlos konvertibel ist“, was auf die meisten Währungen zutrifft.
Daran sind zum Beispiel die Verhandlungen gescheitert, die Moskau und Neu-Delhi im letzten Mai über einen möglichen Handel in Rupien führten. Russland exportiert sehr viel mehr an Indien, als es an Waren und Dienstleistungen einführt. Deshalb fürchtete man in Moskau, auf einem Berg unnützer Rupien sitzen zu bleiben. Heute zahlt Indien russisches Erdöl in Dirham, der Währung der Vereinigten Arabischen Emirate (VAE).16
Fluchtwährung nach wie vor Dollar
Die betreffenden Währungen müssen problemlos und ohne Wertverlust in stabile Devisenreserven umgewandelt werden können, erklärt Batista. Derzeit erfüllen die traditionellen Kandidaten für eine Ablösung des Dollar – der Euro und der Renminbi – nicht die erforderlichen Voraussetzungen. Die Zukunft des Euro erscheint seit der Staatsschuldenkrise von 2010 als unsicher; der Renminbi kommt nicht infrage, weil die chinesische Währung nicht voll konvertibel ist und nach wie vor strengen Devisenverkehrsbeschränkungen unterliegt. Dennoch prognostizieren einige Analysten bereits die Entthronung des Dollar durch den Renminbi. Dazu müsste Peking allerdings eine geldpolitische Wende einleiten, was unwahrscheinlich ist.
Die Nutzung des Renminbi durch nichtchinesische Akteure würde nämlich das chinesische Wirtschaftsmodell verändern: Je stärker eine Währung im Ausland nachgefragt wird, desto stärker steigt ihr Wert gegenüber anderen Währungen, was die eigenen Exportgüter verteuert. Das wäre für China, die „Werkbank der Welt“, eine gefährliche Entwicklung.
Zudem hat man in Peking noch die Deregulierungsrisiken vor Augen, die während der Asienkrise 1997 verschiedenen Nachbarländern Chinas und in der Weltwirtschaftskrise seit 2008 den Volkswirtschaften des Nordens zu schaffen machten. Auch in China selbst führten Liberalisierungsschritte, die 2015 und 2016 im Finanzsektor vorgenommen wurden, zu einer vorübergehenden Instabilität an den chinesischen Märkten.
Für die Pekinger Führung war dies eine so schmerzhafte Lehre, dass sie seitdem „finanzielle Risiken als potenziellen Angriff auf die nationale Sicherheit“ betrachtet, erklärt der China-Experte Nathan Sperber. Für die chinesische Regierung seien Kapitalkontrollen nicht nur aus finanziellen Überlegungen wichtig: „Könnten die Reichen Chinas ihr Geld ungehindert aus dem Land bringen, wären sie in der Lage, ihre Vermögen und damit ihre Privilegien abzuschotten. Mittels der Kapitalverkehrskontrollen behält sich die politische Führung die Möglichkeit vor, gegen Personen vorzugehen, die sie abstrafen will.“
Zumindest vorläufig hat sich die Regierung in Peking für dem Schutz des chinesischen Entwicklungsmodells und gegen die Internationalisierung der eigenen Währung entschieden. Wenn man dennoch eine begrenzte „Entdollarisierung“ zugunsten des Renminbis beobachten kann, so handelt es sich laut Sperber lediglich um eine Internationalisierung mittels diplomatischer Verträge.
Auf keinen Fall besagt dies, dass der Renminbi aus Sicht der Marktteilnehmer dem Dollar als Tausch- oder Reservewährung überlegen wäre. Wie attraktiv der US-Dollar weiterhin ist, zeigt sich etwa darin, dass er in Finanzkrisen nach wie vor die bevorzugte Fluchtwährung ist. Und dies sogar dann, wenn die Krise einer Funktionsstörung der US-Märkte entspringt wie im Fall der Subprime-Krise von 2008.
Großsprecherische Behauptungen, dass „die finanzielle Vorherrschaft Amerikas beendet ist“17, lassen sich jedenfalls nicht mit Zahlen belegen. Die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) hat 2022 das Ergebnis ihrer alle drei Jahre vorgenommen Erhebung vorgelegt. Demnach ist bei 88 Prozent der Devisengeschäfte der US-Dollar auf zumindest einer der beiden Seiten beteiligt. Dieser Prozentsatz ist seit 1989 unverändert. Der Euro ist bei 32 Prozent der Devisengeschäfte im Spiel, der japanische Yen und das britische Pfund in jeweils 17 Prozent der Fälle.18 Der Anteil des Renminbis bleibt mit 7 Prozent bescheiden, hat aber seit 2019 um beachtliche 4 Prozentpunkte zugenommen.
Was die Währungsreserven betrifft, ist der in US-Dollar gehaltene Anteil von 72 Prozent im Jahr 2000 auf aktuell 59 Prozent gesunken. Zugelegt haben vor allem Währungen von geopolitischen Verbündeten der USA: der australische und der kanadische Dollar, der koreanische Won und die schwedische Krone. Im selben Zeitraum ist der Anteil Chinas von null auf 2,6 Prozent gestiegen. Eine massive Internationalisierung des Renminbi-Anleihenmarkts ist ohne Liberalisierung der chinesischen Kapitalbilanz undenkbar.
Obwohl also die Legitimität des US-Dollar als globale Leitwährung schwächer wird, ist ein alternativer Kandidat nicht in Sicht und der grenzüberschreitende Handel in anderen Währungen bleibt begrenzt. In dieser Situation haben zunächst Russland und danach Brasilien vorgeschlagen, auf Brics-Ebene aktiv zu werden.
Das in Moskau ersonnene Modell sah keine neue Währung, sondern lediglich eine „Recheneinheit“ vor: ein monetäres Instrument, das es erlaubt, die Paritäten zwischen den verschiedenen Währungen zu ermitteln, wie auch Rohstoffpreise abzuschätzen, die keinen Dollarschwankungen mehr unterliegen.
Doch dann lief etwas schief. Einen Tag vor Beginn des Brics-Gipfels am 21. August machte der indische Außenminister Vinay Mohan Kwatra bei einer Pressekonferenz die Ablehnung des Projekts durch Neu-Delhi deutlich. Offenbar dachte die indische Regierung, die Initiative wolle nicht nur eine Recheneinheit, sondern eine „Gemeinschaftswährung“ schaffen. Die aber stehe, wird von russischer Seite versichert, im jetzigen Stadium noch überhaupt nicht zur Debatte. Es handle sich also um ein Missverständnis. Doch wie konnte es dazu kommen?
Eine Währung (auch eine Gemeinschaftswährung wie der Euro) muss neben ihrer Rolle als Recheneinheit zwei weitere Schlüsselfunktionen erfüllen: erstens als Reserveinstrument für die Aufbewahrung von Werten, zweitens als Zahlungsmittel bei Handelsgeschäften. Eine imaginäre Brics-Gemeinschaftswährung würde einen deutlich höheren Koordinationsaufwand erfordern als das russische Projekt.
In einem Kolloquium am Rande des Gipfels in Johannesburg hat Nogueira Batista Jr. – von China beauftragt – verschiedene Ansätze für mögliche Strategien in der Währungsfrage präsentiert. Demnach wäre die Währung als Recheneinheit relativ schnell und kostengünstig zu realisieren. Die Schaffung einer Gemeinschaftswährung erfordere hingegen „Reflexions- und Planungsanstrengungen, mit denen noch nicht begonnen wurde“.19
Mehr Macht für China beim IWF
Auf dem Gipfel selbst wurde das Projekt dann gar nicht diskutiert. Und das lag nicht an einem „Missverständnis“. Ein solches wurde von einigen Akteuren nur vorgeschoben, um das Projekt auszubremsen, ohne es klar und deutlich zu formulieren.
Die Zusammenarbeit der Brics-Staaten wird belastet durch geopolitische Differenzen und interne Konflikte insbesondere zwischen China und Indien, das am Handel mit den USA festhalten möchte. Und dass zum 1. Januar 2024 sechs neue Länder hinzustoßen, wird die Diskussionen nicht einfacher machen. Dabei ist die Währungsfrage besonders schwierig zu lösen, wie sich bei früheren Anläufen zu einer regionalen Währungsunion gezeigt hat.
In Europa war 1972 der Europäische Wechselkursverbund (auch Währungsschlange genannt) eingeführt worden, um die beteiligten Volkswirtschaften vor Wechselkursschwankungen zu schützen. Bis die – mäßig erfolgreiche – Einheitswährung Euro das Licht erblickte, dauerte es noch bis 1999. In Lateinamerika haben acht Staaten 2010 das Verrechnungssystem „Sucre“ (Sistema Unitario de Compensación Regional) und die gleichnamige Rechnungswährung eingeführt. Wegen der geringen Handelsverflechtung dieser Länder blieb diese Initiative allerdings bedeutungslos. In Asien führte die Weltfinanzkrise von 2008 zur Gründung eines Währungsfonds, der die Währungsparitäten regulieren sollte.
Andere Projekte sind seitdem kaum vorangekommen. Am interessantesten erscheint die Entwicklung eines „digitalen Zentralbankgelds“ (Central Bank Digital Currency, CBDC), insbesondere durch China, das mit seinem E-Yuan digitale Zahlungssysteme wie Swift umgehen will.
Das Dollar-System ist aktuell also offenbar nicht ernsthaft bedroht. Doch im Zuge der wachsenden geopolitischen Spannungen könnte sich eine Zone „jenseits des Dollar“ herausbilden, die Länder umfasst, die Washington als Gegner betrachtet. China „würde eine Brückenfunktion zwischen den beiden Systemen einnehmen und so als Fixpunkt einer multipolaren Struktur fungieren“, vermutet der Ökonom Galbraith. Sollte China mit ähnlich harten Sanktionen belegt werden wie Russland, „könnte es zu einem echten Bruch und zur Teilung der Welt in zwei isolierte Blöcke kommen“.20 Das wäre für die USA jedoch angesichts des Handelsvolumens mit China extrem kostspielig und würde die Finanzierung der US-Staatsschulden verkomplizieren.21
Vielleicht war es sogar die heimliche Absicht einiger Brics-Staaten, auf diese Gefahr hinzuweisen. Mit dem Ziel, dass Washington am Ende eine wirklich internationale Währung akzeptieren könnte. „Genau das will China“, meint der Ökonom Aglietta, und ähnliche Töne hört man auch von russischer Seite.
Dabei existiert diese „wirklich internationale Währung“ bereits – in Form der vom IWF entwickelten Sonderziehungsrechte (SZR).22 Dieses 1969 eingeführte Instrument erfüllt alle nötigen Voraussetzungen, um sich zu dem zu entwickeln, das die Welt benötigt: eine Art internationale Währung, die auf konzertierte Weise durch den IWF gesteuert wird.
Bereits 2009 hat der Gouverneur der chinesischen Zentralbank, Zhou Xiaochuan, den IWF als Vorreiter einer globalen Zentralbank skizziert, der imstande sei, die internationale Liquidität im Sinne der Preisstabilität zu regulieren. Das würde allerdings eine Reform des IWF voraussetzen, die auch die Vetomacht Washingtons beseitigt.
Bemerkenswerterweise hat die IWF-Chefin Kristalina Georgiewa am 3. Oktober gegenüber der Financial Times dafür geworben, China innerhalb des Fonds ein größeres Stimmgewicht zu geben, um auf die weltwirtschaftlichen Veränderungen zu reagieren.
Doch die US-Eliten werden nicht freiwillig auf die mit dem Dollar verbundenen Privilegien verzichten – zumindest noch nicht. Allerdings hat Präsident Trump während seiner Amtszeit mehrfach die Defizitpolitik der USA infrage gestellt, auf der ja die Vorherrschaft des Dollar beruht. Das weckt Zweifel, ob künftige Regierungen in Washington gewillt sind, die Welt weiterhin mit Dollars zu versorgen.23
In offiziellen Reden und in den Medien wird die Dollarstärke oft als Symbol der nationalen Größe der USA gepriesen. Dabei wäre das amerikanische Volk einer der größten Nutznießer eines Dollar, dessen Wert nicht künstlich durch die internationale Funktion der US-Währung aufgebläht wird, argumentiert James K. Galbraith: Die monetäre Multipolarität sei „schlecht für die Oligarchie, aber gut für die Demokratie, den Schutz des Planeten und das Gemeinwohl. Doch leider, so Galbraith, „ereignen sich die große Umwälzungen der Weltwirtschaftsordnung immer nur aus Anlass extremer Krisen“.24
4 Beim internationalen Wirtschaftsforum in Sankt Petersburg, 16. Juni 2023.
5 Siehe Martine Bulard, „BRICS wächst – aber wozu?“, LMd, Oktober 2023.
6 Interview am 14. April 2023 auf CGTN.
7 Siehe Renaud Lambert, „Die Geldverteiler“, LMd, Juli 2022.
9 Siehe Renaud Lambert, „Les Calimero de l’euro“, LMd (französische Ausgabe), Januar 2023.
10 Dilma Rousseff im Interview am 14. April 2023 auf CGTN.
13 Zitiert nach: The Economist, 18. Januar 2020.
14 Siehe: The Economist, 7. Mai 2020.
15 The Direction of Trade Statistics (DOTS), IWF.
17 Tom Benoît, „La fin du dollar roi“, Le Point, 26. September 2023.
19 Wir danken Nogueira Batista Jr. für die Übermittlung seines Textes.
20 Siehe Galbraith, „The Dollar System …“ (siehe Anm. 8).
21 Die Schulden der USA gegenüber China belaufen sich auf rund 1200 Milliarden Dollar.
22 Siehe Dominique Plihon, „Globale Währung“, LMd, Oktober 2023.
24 Siehe Galbraith, „The Dollar System …“ (siehe Anm. 8).
Aus dem Französischen von Markus Greiß
Dominique Plihon ist emeritierter Professor (Universität Sorbonne Paris Nord) und Mitglied des wissenschaftlichen Beirats von Attac.