09.11.2023

Wem nützt die Hamas?

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Wem nützt die Hamas?

Die am 7. Oktober verübten Massaker an israelischen Zivilisten haben weltweit auch Menschen schockiert, die mit der palästinensischen Sache sympathisieren. Was wollte die Hamas mit ihrem Angriff erreichen? Wie weit wird die israelische Reaktion gehen? Und wer wird am Ende verhandeln?

von Akram Belkaïd

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Der Nahe Osten ist heute so ruhig wie seit 20 Jahren nicht mehr“, so die Einschätzung von Jack Sullivan, dem Nationalen Sicherheitsberater der USA, auf der Jahreskonferenz der Zeitschrift The Atlantic am 29. September.1 Als entscheidenden Grund für die Befriedung der Region nannte Sullivan die Normalisierung der Beziehungen zwischen Israel und mehreren arabischen Staaten.

In derselben Woche, in der Sullivan von der Ruhe im Nahen Osten sprach, kam es an der Grenze zum Gazastreifen zu Zusammenstößen zwischen israelischen Sicherheitskräften und Palästinensern, die ihr Recht auf Rückkehr ins Land ihrer Vorfahren reklamierten. Ihre Aktion erinnerte an die Grenzproteste von 2018 und 2019, die „Märsche der Rückkehr“, bei denen 200 Demonstranten durch Kugeln israelischer Scharfschützen getötet worden waren.

Ebenfalls in der letzten Septemberwoche informierte Tor Wennesland, der UN-Sonderkoordinator für den Nahost-Friedensprozess, den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen über die laut Völkerrecht illegale Fortsetzung der Siedlungstätigkeit im Westjordanland und in Ostjerusalem. Eine Ende August von mehreren israelischen Menschenrechtsorganisationen erstellte Bilanz dokumentierte die anhaltende Gewalt in den besetzten Gebieten: Allein in den ersten acht Monaten des Jahres 2023 wurden 220 Palästinenser von der israelischen Armee oder von radikalen Siedlern im Westjordanland getötet.2

Doch all das schien Jack Sullivan nicht zu beunruhigen. Stimmt also die in der arabischen Welt häufig zu hörende noukta (Pointe), wonach die Si­tua­tion im Nahen Osten nur dann als beunruhigend betrachtet wird, wenn die Palästinenser nicht die Einzigen sind, die Gewalt erleiden?

Erklären heißt nicht rechtfertigen

Eine Woche später war alles anders. Die „Operation Al-Aksa-Flut“ – so der Codename des Überraschungsangriffs, den mehrere bewaffnete Palästinenserorganisationen unter Führung der Hamas und ihres militärischen Arms, der Kassam-Brigaden, am 7. Oktober auf Israel ausgeführt hatte – stürzte die gesamte Region in große Unsicherheit. Der Überfall forderte mit 1400 Toten – darunter über eintausend massakrierte Zivilisten – eine hohe Zahl israelischer Opfer und traumatisierte die Bevölkerung, die in Teilen die Regierung von Benjamin Netanjahu für das Desaster verantwortlich macht (siehe den Artikel von Marius Schattner auf Seite 5).

Israels Antwort kam prompt. Tel Aviv setzte die Operation „Iron Swords“ in Gang: Durch massive Luftangriffe kamen bis zum 6. November nach palästinensischen Angaben 9700 Menschen ums Leben, Tausende weitere wurden verletzt. Ab dem 27. Oktober begann die israelische Armee zudem mit größeren Bodenoperationen innerhalb des Gazastreifens. All dies macht eine Rückkehr zum vorherigen Status quo unmöglich.

Eine Erklärung zu suchen, heißt nicht, den Überfall vom 7. Oktober zu rechtfertigen: Weshalb haben die Hamas und ihre Verbündeten diesen Angriff gestartet, obwohl sie wussten, dass er eine für die Zivilbevölkerung der Enklave verheerende Reaktion nach sich ziehen würde?

Die Nahost-Expertin Sophie Pom­mier legt dar, dass die islamistische Hamas ihre Strategie vor allem als Antwort auf die 2007 begonnene Blockade des Gazastreifens durch Israel und Ägypten verstehe.3 In einer von al-Dschasira am 7. Oktober ausgestrahlten Erklärung nannte Hamas-Polit­büro­chef Ismael Hanijeh des Weiteren folgende Punkte: die Verschärfung der Besatzungs- und Siedlungspolitik, die Zunahme an Vorfällen auf dem Gelände um die Al-Aksa-Moschee in Jerusalem sowie andauernde Provokationen des israelischen Ministers für Nationale Sicherheit Itamar Ben-Gvir, der zudem die Haftbedingungen der etwa 6000 palästinensischen Gefangenen verschärft habe.

Vor allem die Verwüstung des palästinensischen Dorfs Huwara im nördlichen Westjordanland durch radikale Siedler am 26. Februar hatte bei den Palästinensern im Gazastreifen einen tiefen Eindruck hinterlassen. Als Antwort auf die Ermordung zweier israelischer

Zivilisten hatten hunderte Siedler an diesem Tag in Huwara und drei umliegenden Dörfern dutzende palästinensische Häuser in Brand gesetzt.

Viele in Gaza waren überzeugt, die ultrarechte Regierung Netanjahus sei entschlossen, einen Teil der Bevölkerung mit Gewalt aus diesen Gebieten zu vertreiben. Zumal der israelische Finanzminister Bezalel Smotrich öffentlich erklärte: „Ich denke, Huwara muss ausradiert werden.“ General Yehuda Fuchs, der die israelischen Streitkräfte im Westjordanland befehligt, bezeichnete die Übergriffe dagegen als ein „Pogrom“ gegen Palästinenser.

Nach diesen Ereignissen verbreitete sich in den sozialen Netzwerken der Palästinenser Endzeitstimmung. Ein hartnäckiges Gerücht machte die Runde: Tel Aviv bereite sich darauf vor, 2 Millionen Siedler ins Westjordanland zu schicken, um die dortige palästinensische Bevölkerung zu verdrängen.

Die Hamas brüstet sich nach ihrem Angriff nun als Fahnenträgerin des palästinensischen Widerstands.4 Die Rolle der Palästinensischen Autonomiebehörde beschränkt sich hingegen seit Jahren darauf, Tel Aviv in Sicherheitsfragen und bei der Aufrechterhaltung der Ordnung im Westjordanland zu assistieren (siehe den Artikel von Thomas Vescovi auf Seite 9). Dass die Autonomiebehörde nach dem Raketeneinschlag beim Krankenhaus Al-Ahli Arabi vom 17. Oktober in Dschenin und Ramallah mit scharfer Munition auf Demonstranten schießen ließ, die den Rücktritt des unbeliebten 87-jährigen Präsidenten Mahmud Abbas forderten, spielt der Hamas nur weiter in die Karten.

Letztere nimmt für sich in Anspruch, der ganzen Welt gezeigt zu haben, dass kein wie auch immer geartetes diplomatisches Manöver die Palästina-Frage als zentrales Problem der Region verdrängen kann. In den letzten Jahren hatte die Normalisierung der Beziehungen zwischen verschiedenen arabischen Staaten (Vereinigte Arabische Emirate, Bahrain, Marokko, Sudan) und Israel dazu geführt, dass das Schicksal der Palästinenser in den Hintergrund gerückt war.

Noch lässt sich nicht sagen, ob der neuerliche Krieg in Gaza das Ende der Abraham-Abkommen von 2020 bedeutet, die unter Vermittlung der Regierung Trump zustande gekommen sind und diese Annäherung ermöglicht haben. Ob der Krieg den Gesprächen zwischen Tel Aviv und Riad (siehe den Artikel von Hasni Abidi und Angélique Mounier-Kuhn auf Seite 6/7) den Todesstoß versetzt, kann man ebenfalls noch nicht abschätzen. Sicher ist aber, dass der Prozess ins Stocken geraten ist.

Auch wenn sich die betroffenen arabischen Regime wenig um die Meinung ihrer Untergebenen scheren, können sie die in der Bevölkerung anhaltende Unterstützung für die palästinensische Sache nicht ignorieren. Sichtbar wurde diese zuletzt etwa bei der Fußballweltmeisterschaft in Katar, als viele Spieler und Fans aus den Maghreb- und Masch­rek-Staaten ihre Solidarität bekundeten.5

In ihrer Propaganda präsentiert die Hamas ihre Angriffe vom 7. Oktober als militärischen Sieg: die Überwindung des als undurchdringlich geltenden Grenzzauns an etwa 30 Stellen, die tagelange Kontrolle über strategisch wichtige Orte (den Grenzübergang Erez und das Hauptquartier der Gaza-Division der israelischen Armee) sowie die Gefangennahme dutzender Soldaten, die als Kriegsgefangene nach Gaza verschleppt wurden.

Die Regierungen und Medien der westlichen Welt – insbesondere in Frankreich (siehe den Artikel von Benoît Bréville auf Seite 6/7) – haben ihren Fokus primär auf die Gräueltaten gegen die Zivilbevölkerung gerichtet. Die Hamas hingegen versucht ihr eigenes Narrativ zu setzen, indem sie betont, wie tief sie auf israelisches Gebiet vorgedrungen ist – ein Unterfangen, das der libanesischen Hisbollah nie gelang. Diese Erzählung verfängt in einer arabischen Welt, die sich seit Langem mit der erdrückenden Überlegenheit der israelischen Armee abfinden muss, welche vor allem der Luftwaffe und modernster Militärtechnik aus den USA geschuldet ist.

Allerdings muss die Hamas auch die Verantwortung für alle Folgen ihres Angriffs tragen. Israels Reaktion hat bereits zu unzähligen Toten und verheerenden Zerstörungen im Gazastreifen geführt. Und man fragt sich, wie sich das schmale Küstengebiet, das innerhalb von 17 Jahren bereits sechs Kriege erlitten hat, jemals von den Verwüstungen erholen soll.

Während die Blicke der Welt auf Gaza gerichtet sind, wird die Siedlungs­politik im Westjordanland unvermindert fortgesetzt. Entfesselte Siedler legen sich unter dem Schutz der Armee Tag für Tag mit einer verängstigten, ihrem Schicksal überlassenen Bevölkerung an. Besonders betroffen sind Beduinen, die in isolierten Dörfern auf dem Land leben.6 Zwischen dem 7. Oktober und dem 1. November sind im Westjordanland nach UN-Angaben 141 Palästinenser von der israelischen Armee oder Siedlern getötet und mehrere hundert Bewohner verhaftet worden.7

Verantworten muss sich die Hamas aber vor allem für die Massaker an unbewaffneten israelischen Zivilisten – darunter mindestens 260 junge Musikfans, die sich für eine Rave-Party in der Negev-Wüste unweit der Grenze zu Gaza versammelt hatten. Diese als Kriegsverbrechen zu wertenden Gewalttaten haben weltweit auch Menschen schockiert, die mit der palästinensischen Sache sympathisieren.

Die Massaker und die ebenfalls das Kriegsrecht verletzende Geiselnahme von Zivilisten werfen unweigerlich die Frage nach der politischen Zukunft der Hamas und ihre Beteiligung an möglichen Friedensverhandlungen auf. Denn wer in Israel, die politische Linke eingeschlossen, wird sich künftig noch bereit erklären, Gespräche mit dieser Organisation zu führen?

Entscheidend ist dabei auch die Frage, wie weit Tel Aviv bei seiner Vergeltungsaktion gehen wird. Israels Führung spricht von der Vernichtung der islamistischen Partei, so unmöglich dieses Vorhaben erscheinen mag. Zumindest aber will man die Organisa­tion aus Gaza vertreiben.

Durch die Aufforderung an die Zivilbevölkerung in Gaza, sich in den Süden des Gebiets zu begeben, hat Israel den Eindruck erweckt, es versuche womöglich dieses Ziel durch eine endgültige Umsiedlung oder gar die Vertreibung der Bevölkerung auf die ägyptische Sinai-Halbinsel zu erreichen. Kairo lehnt palästinensische Flüchtlingslager auf seinem Boden allerdings kategorisch ab. Und auch die US-Regierung scheint gegen eine solche Umsiedlung zu sein, die einer neuen Nakba (Katastrophe) gleichkäme.

„Man darf sich nicht mehr damit zufriedengeben, den Rasen zu mähen“,8 so der Tenor mehrerer wütender Wortmeldungen israelischer User auf X (ehemals Twitter). Aus ihrer Sicht sollte sich Is­rael nicht damit begnügen, dasselbe Szenario wie bei früheren Kriegen zu reproduzieren, nach dem Muster: Auf die militärische Antwort folgen Verhandlungen mit Vermittlung Katars und Ägyptens sowie die Rückkehr zum unsicheren Status quo und die Fortsetzung der Hamas-Herrschaft im Küstenstreifen bis zur nächsten Gewalt­explosion.

Laut den Erklärungen israelischer Regierungsmitglieder und Militärs geht es um eine „Neuordnung Gazas“, mit dem Ziel die Verantwortung für die Enklave anschließend einem neuen Akteur zu übergeben. Wer das sein soll, ist indes unklar. Derzeit können weder Ägypten noch die Palästinensische Autonomiebehörde eine solche Rolle spielen. Und Premier Netanjahu müsste, sofern er sich an der Macht halten und die Hamas tatsächlich entscheidend geschwächt werden kann, einen geeigneten Ersatz für diesen nützlichen Feind finden; einen Feind, der sich ebenso gut dazu eignet, einem Entkolonialisierungskonflikt einen religiösen Anstrich zu geben.

Welchen Nutzen Netanjahu der Hamas zuschrieb, wird in einer Aussage deutlich, die der Regierungschef im März 2019 vor Par­la­mentariern seiner Likud-Frak­tion getätigt haben soll: „Wer auch immer die Gründung eines palästinensischen Staats verhindern möchte, muss unsere auf eine Stärkung der Hamas und auf Geldtransfers an die Hamas ausgerichtete Politik unterstützen. Das ist Teil unserer Strategie, die Palästinenser in Gaza von jenen im Westjordanland zu isolieren.“9

Aber vielleicht mündet der Krieg ja auch in einer Initiative ähnlich der Friedenskonferenz von Madrid im Jahr 1991 – einer der seltenen Momente, in denen die USA Israel dazu zwangen, sich an den Verhandlungstisch zu setzen.

1 „How democracy can move forward, with Jake Sullivan and Will Hurd. The Atlantic Festival 2023“, 29. September 2023, zu finden auf Youtube (ab 59:25 spricht Sullivan über den Nahen Osten).

2 RFI, 28. August 2023.

3 Sophie Pommier, „La stratégie à quitte ou double du Hamas“, Orient XXI, 16. Oktober 2023.

4 Siehe Alain Gresh, „Qu’est-ce que le Hamas?“, blog.mondediplo.net, 27. Januar 2009.

5 Siehe „Coupe du monde de football, un moment palestinien“, Orient XXI, 8. Dezember 2022.

6 Julie Connan, „En Cisjordanie, la vengeance débridée des colons“, La Croix, 16. Oktober 2023.

7 „Hostilities in the Gaza Strip and Israel | Flash Update #30“, UNOCHA, 5. November 2023.

8 Sagi Refael, „,Gaza: Mowing the Lawn‘ by Artist Jaime Scholnick“, The Markaz Review, 14. Juli 2021.

9 Jonathan Freedland, „Warning: Benjamin Netanyahu is walking right into Hamas’s trap“, The Guardian, 20. Oktober 2023.

Aus dem Französischen von Markus Greiß

Le Monde diplomatique vom 09.11.2023, von Akram Belkaïd