Manipur: Kollision der Nationalismen
von Samrat Choudhury
Am 12. Juli verabschiedete das Europäische Parlament in Straßburg eine Resolution, die sich mit der Eskalation der Gewalt im indischen Bundesstaat Manipur befasst. Den Antrag hatten fünf Gruppen eingebracht, bestehend aus Abgeordneten verschiedener EU-Länder, die ein politisches Spektrum von der Linken über die Grünen bis zur rechten Mitte repräsentieren.
Die Resolution beginnt mit der Feststellung, dass „bei den gewalttätigen Zusammenstößen zwischen den ethnischen Gemeinschaften der Meitei und der Kuki in Manipur seit dem 3. Mai 2023 mindestens 120 Menschen ums Leben gekommen sind, 50 000 Menschen vertrieben wurden und mehr als 1700 Häuser, über 250 Kirchen sowie mehrere Tempel und Schulen zerstört wurden“.1 Zur Gewalt trage auch die „Intoleranz gegenüber religiösen und weltanschaulichen Minderheiten, einschließlich Christen“ bei. Besondere Besorgnis äußern die Abgeordneten über „politisch motivierte, polarisierende Strategien, die dem Majorisierungsstreben der Hindus dienen“, und „eine Zunahme der Aktivitäten militanter Gruppen“.
Zudem hätten „Berichte über die parteiliche Beteiligung von Sicherheitskräften an den Todesfällen das Misstrauen in die staatlichen Behörden vergrößert“. Die Resolution fordert die indische Regierung zu entschiedenem Handeln auf, um die Gewaltspirale zu stoppen und „alle religiösen Minderheiten, darunter die christliche Gemeinde von Manipur, zu schützen …“.
Die Regierung in Neu-Delhi reagierte prompt und hart. Arindam Bagchi, der Sprecher des indischen Außenministeriums, qualifizierte die „sogenannte Dringlichkeitsresolution“ von Straßburg als flagrante Einmischung in die inneren Angelegenheiten Indiens, „die nicht hinnehmbar ist und von einer kolonialen Denkweise zeugt“.
Zuvor hatte schon Außenminister Vinay Kwatra – aus Anlass der Reise von Premierminister Narendra Modi nach Frankreich und in die Vereinigten Arabischen Emirate – sein Missfallen über das Europäische Parlament ausgedrückt: „Wir haben uns an die betreffenden EU-Parlamentarier gewandt und ihnen sehr klar gesagt, dass dies eine komplett und absolut interne Sache ist.“
Einige indische Medien meldeten, die Regierung Modi habe in dieser Sache das Lobbyunternehmen Alber & Geiger angeheuert, das für eine positivere Wahrnehmung Indiens in Europa sorgen soll. Die Regierung in Neu-Delhi hat diese Information nicht bestätigt. Auf der Website des „political lobbying powerhouse“ Alber & Geiger finden sich allerdings Links zu entsprechenden Medienberichten.2
Dass Manipur die internationale Öffentlichkeit beschäftigt, ist schon deshalb erstaunlich, weil dieser Bundesstaat selbst in Indien ganz selten in die Schlagzeilen gerät. Er liegt in Nordostindien, das mit dem übrigen Land nur durch den schmalen Shiliguri-Korridor verbunden ist (siehe Karte) und in Neu-Delhi seit Langem als Unruheregion gilt.3
Geografisch erstreckt sich Nordostindien zwischen dem Hochland von Tibet und dem östlichen Himalaja im Norden, dem Patkai-Gebirge an der Grenze zu Myanmar im Südosten und der bengalischen Tiefebene im Süden. Damit hat die Region eine lange internationale Außengrenze zu den vier Nachbarstaaten China, Bhutan, Myanmar und Bangladesch.
Die Bevölkerung von rund 45 Millionen ist verblüffend unterschiedlich, viele der einzelnen Stammesgruppen und ethnischen Gemeinschaften sind ostasiatischer oder südostasiatischer Herkunft. Entsprechend groß ist die Anzahl der Sprachgruppen, die Kenner der Region auf rund 220 schätzen.
Was die Religionszugehörigkeit betrifft, so stellen die Hindus nur in zwei der sieben Bundesstaaten Nordostindiens – in Assam und Tripura – die Mehrheit. In Manipur und Arunachal Pradesh leben etwa gleich viele Hindus und Christen. In den übrigen drei Bundesstaaten – Nagaland, Mizoram und Meghalaya – bekennen sich mehr als 75 Prozent der Bevölkerung zu christlichen Konfessionen. Es gibt auch eine beträchtliche muslimische Minderheit und in einigen Gebieten auch kleinere buddhistische Gemeinden.
Chin-Flüchtlinge aus Myanmar
Bis in die Anfänge des 20. Jahrhunderts hinein waren einige der dicht bewaldeten Bergregionen des Nordostens noch weiße Flecken auf der Landkarte, wo keinerlei staatliche Autorität existierte und einige lokale Stämme noch Kopfjagd betrieben. Die alten Fürstentümer in den Tälern der großen Flüsse kamen unter direkte oder indirekte Herrschaft der Briten. Auch der heutige Bundesstaat Manipur ging aus einem gleichnamigen kolonialen Fürstentum hervor; 1949 trat es der Republik Indien bei, zwei Jahre nach deren Unabhängigkeit.
Immer wieder kam es in Manipur zu Aufständen gegen die indische Zentralgewalt. In dem Bundesstaat gibt es drei große Volksgruppen. Dominierend sind die Meitei, die vor allem im Imphal-Tal ansässig und mehrheitlich Hindus sind. Sie stellten die Fürstendynastie, die Manipur mehr als 1800 Jahre lang regiert hat, bis das Land 1891 unter indirekte britische Herrschaft geriet.
In den Bergregionen oberhalb des Imphal-Tals leben zwei Stammesgruppen, die Naga und die Kuki. Die aktuelle Auseinandersetzung, die inzwischen einem kleineren Bürgerkrieg gleichen, spielen sich zwischen Meitei und Kuki ab. Begonnen hat sie mit Ausschreitungen nach einer Demonstration, zu der ein gemeinsamer Stammesrat von Kuki und Naga aufgerufen hatten. Von den ethnischen Säuberungen, die seither in den jeweiligen Siedlungsregionen sowohl der Meitei als auch der Kuki stattgefunden haben, sind die Naga nicht betroffen. Deshalb ist diese Volksgruppe, obwohl ebenfalls überwiegend christlich, in dem Konflikt neutral geblieben.
Ein Teil der Naga – die wiederum aus 32 Stämmen mit jeweils eigener Sprache bestehen – führt seit der Staatsgründung Indiens einen Guerillakrieg mit dem Ziel der Unabhängigkeit. Die Naga-Stämme sind über die nordöstlichen Bundesstaaten Nagaland, Manipur und Arunachal Pradesh verstreut, aber auch im Norden von Myanmar ansässig. Die Guerilla kämpft für ein eigenständiges Land, das alle von Naga bewohnten Gebiete umfasst.
Doch die Naga sind in ihren Gebieten nicht allein. Im Bergland von Manipur und in den angrenzenden Regionen von Myanmar sind auch die Kuki zu Hause, die ihrerseits aus mindestens 32 Einzelstämmen bestehen. Auch bei ihnen gibt es bewaffnete Rebellengruppen, die von einem eigenen Heimatland träumen.
Um die Sache noch komplizierter zu machen, wehren sich die hinduistischen Meitei, die in Manipur dominieren, entschieden gegen jeder Änderung der aktuellen Grenzen oder der politischen Vereinbarungen innerhalb des Bundesstaats. Insbesondere auf das Streben der Kuki nach einem eigenen Staat – oder einem autonomen Gebiet, das aus Manipur herausgelöst werden soll –, reagierte die Meitei-Bevölkerung äußerst wütend. Die Unabhängigkeitsforderung der Naga ist auch für den Bundesstaat Manipur und die Regierung in Neu-Delhi nicht verhandelbar.
Vor diesem Hintergrund stellt sich die kriegsähnliche Situation in Manipur als Kollision von fünf Nationalismen dar: der Naga, der Kuki und der Meitei sowie Indiens und Myanmars. Auslöser der aktuellen Zusammenstöße war ein Konflikt über die staatliche Inklusionspolitik. Die Repräsentanten der Naga wie der Kuki wandten sich dagegen, bestimmte Fördermaßnahmen für Stammesvölker auch auf die Meitei auszuweiten. Aber die eigentlichen Ursachen liegen tiefer.
Nach dem Militärputsch in Myanmar im Februar 2021 und den dadurch ausgelösten Bürgerkrieg4 flüchteten Zehntausende aus dem Nordwesten des Landes nach Indien (siehe Karte). Die große Mehrheit der Geflüchteten gehört zur überwiegend christlichen Volksgruppe der Chin, die mit den Kuki von Manipur ethnisch eng verwandt ist, beide zählen zu der Stammesgemeinschaft der Zo oder Mizo.
Von den 54 000 aus Myanmar Geflüchteten leben heute mehr als 40 000 in Mizoram, dem südlichsten Bundesstaat Nordostindiens, in dem die Mizo-Stämme dominieren (der Name Mizoram bedeutet „Land der Mizo“). Etwa 8250 der Chin-Flüchtlinge landeten in Manipur,5 wo ihre Ankunft bei der Naga- und der Meitei-Bevölkerung zu der übertriebenen Befürchtung führte, dass sich die demografische Balance zugunsten der Kuki verschieben würde.
Die Unruhen begannen bereits Ende Juni 2022, als die Regierung von Manipur, in der die Meitei das Sagen haben, die Vertreibung „illegaler Siedler“ aus Waldreservaten anordnete, wo sie angeblich Mohn anbauten. Die einheimischen Kuki-Zo sahen darin eine gezielte Kampagne gegen ihre Volksgruppe. Ihre Protestaktionen gegen die Vertreibungen veranlassten die Regierung von Manipur im März dieses Jahres, eine Vereinbarung mit aufständischen Kuki-Gruppen einseitig aufzukündigen. Diese sah „die Einstellung von Operationen“ gegen die „Kuki National Army“ und die „Zomi Revolutionary Army“ vor, die seit den 1990er Jahren für ein selbst verwaltetes Kuki-Territorium gekämpft hatten.
Damit war die Eskalation vorprogrammiert. Sie kam am 3. Mai und dauert nach wie vor an – trotz der massiven Einsätze der indischen Armee. Inzwischen sind mehr als 10 000 Soldaten vor Ort, dazu kommen noch 30 000 paramilitärische Kämpfer und mehrere tausend Polizisten des Bundesstaats. Seit dem 4. Mai ist das Internet in ganz Manipur abgeschaltet. Die schwerbewaffneten Kampfgruppen der Kuki und der Meitei haben sich in ihren Stellungen hinter Sandsäcken verschanzt. Nach Berichten in den Medien, die offiziell nicht bestätigt wurden, sollen in den ersten Tagen der Kämpfe mehr als 4000 Schusswaffen – darunter Sturmgewehre und Maschinengewehre – und rund 500 000 Schuss Munition aus den staatlichen Arsenalen und Waffengeschäften entwendet worden sein.
Das Militär versucht Pufferzonen zu schaffen, um weitere Zusammenstöße zu verhindern. Die Regierung in Neu-Delhi führt inoffizielle Gespräche mit beiden Konfliktparteien außerhalb von Manipur; sichtbare Schritte, um die Lage zu entschärfen, hat sie allerdings nicht unternommen. Bis zum 19. Juli hatte Premierminister Modi keinerlei Stellungnahme abgegeben, obwohl ihn die Konfliktparteien in Manipur wie auch die Opposition in Neu-Delhi zum direkten Eingreifen aufgefordert hatten. Er reagierte erst, als ein Videoclip für Empörung sorgte. Es zeigte einen Mob von Meitei-Männern, die zwei nackte Kuki-Frauen durch eine Straße treiben – eine von ihnen wurde mutmaßlich Opfer einer Gruppenvergewaltigung. Was in Manipur geschehen ist, sei eine Schande, erklärte der Regierungschef und versprach, die Schuldigen zu bestrafen.
Bis zu Modis Äußerung war die Polizei von Manipur in dieser Angelegenheit untätig geblieben, obwohl sie bereits am 18. Mai ein Protokoll über das „schändliche Geschehen“ aufgenommen hatte. Mittlerweile wurden sieben Männer verhaftet – sechs der Täter und der Mann, der das Video gedreht hat. Manipurs Regierungschef Biren Singh erklärte in einem TV-Interview, es gebe hunderte ähnlicher Fälle. Damit rechtfertigte Singh auch die Blockierung des Internets, die er zehn Wochen zuvor verfügt hatte. Zugleich forderte er die Todesstrafe für die Täter.
Im indischen Parlament hat auch zwei Wochen nach Beginn der Sitzungsperiode am 20. Juli immer noch keine Debatte über die Krise in Manipur stattgefunden. Trotz wiederholter Forderungen der Oppositionsparteien nach einer offiziellen Erklärung Modis im Abgeordnetenhaus hat er sich noch nicht blicken lassen. Das neue Oppositionsbündnis India (Indian National Developmental Inclusive Alliance), das von der Kongresspartei angeführt wird, hat inzwischen einen Misstrauensantrag gegen die Regierung eingebracht, über den voraussichtlich in den letzten drei Tagen der Sitzungsperiode, die am 11. August endet, abgestimmt wird. Da Modi und seine Bharatiya Janata Party über eine komfortable Mehrheit verfügen, dürfte der Ausgang klar sein.
5 Zahlen nach dem letzten UNHCR-Bericht vom 1. Mai 2023.
Aus dem Englischen von Niels Kadritzke
Samrat Choudhury ist Autor und Journalist. Zuletzt ist von ihm erschienen: „Northeast India: A Political History, London (Hurst) 2023.
© LMd, Berlin