10.08.2023

Aufstieg und Fall eines Weltkonzerns

zurück

Aufstieg und Fall eines Weltkonzerns

Wie die US-Telefongesellschaft ITT mit staatlicher Unterstützung in Lateinamerika expandierte und was sie mit dem Putsch in Chile zu tun hatte

von Evgeny Morozov

18. April 1972: Präsident Allende fordert die Verstaatlichung der chilenischen ITT UPI/picture alliance/dpa
Audio: Artikel vorlesen lassen

Zwei Wochen nach dem blutigen Staatsstreich vom 11. September 1973 in Chile, mit dem General Pinochet die Regierung von Salvador Allende stürzte, erhielt die New York Times spät abends einen mysteriösen Telefonanruf. „Schrei­ben Sie mit, denn ich sage es nur einmal“, sagte eine ungeduldige Stimme. „Am ITT-Gebäude in New York geht in 15 Minuten eine Bombe hoch.“ Und die Stimme fügte hinzu: „Das ist die Vergeltung für die Verbrechen von ITT in Chile.“1

1973 war „International Telephone and Telegraph Corporation“ (ITT) eines der weltweit größten Unternehmen; in der Fortune-Liste der umsatzstärksten Konzerne lag es an neunter Stelle. Der Vorstand war illuster besetzt, unter anderem mit einem Ex-Direktor der CIA und einem Ex-Präsidenten der Weltbank – mit der Sorte von Leuten also, die einer der größten Rüstungskonzerne der USA zur Zeit des Vietnamkriegs gut gebrauchen konnte.

Auf seine führende Rolle im militärisch-industriellen Komplex war das Unternehmen ausnehmend stolz. Seine Nachtsichtbrillen bewarb es mit dem Anzeigentext: „Im Dunkeln sehen, ITT sehen. Die Nacht gehört nicht mehr der Guerilla.“ Das war 1967 – das Jahr, in dem Che Guevara in Bolivien ermordet wurde.

Es war naheliegend, ITT nicht zu mögen. Mit dergleichen Sprüchen qualifizierte es sich als erste Adresse für Boykottaufrufe. Antiimperialistische Gruppen forderten dazu auf, keine von einer ITT-Tochtergesellschaft produzierten Backwaren zu kaufen. „Buy Bread, Buy Bombs – ITT in Vietnam“, ­titelte damals eine linke Zeitschrift. Und unter Antikriegsaktivisten kursierte eine Verballhornung des Firmennamens ITT: „Imperialism, Treason, Terror“ (Imperialismus, Verrat, Terror).

Allerdings ist es eine Sache, Brötchen zu boykottieren, eine andere Sache aber, in Manhattan eine Bombe zu legen. Was genau hatte ITT getan, um das zu rechtfertigen?

Die 15 Minuten verstrichen. Noch keine Explosion. Vielleicht hatte sich jemand einen Scherz erlaubt. Doch dann passierte es. Frühmorgens um 5.40 Uhr ging die Bombe hoch – im neunten Stock der ITT-Zentrale in der Madison Avenue 437. Ziel war die Lateinamerika-Abteilung, deren Räume erheblich beschädigt wurden.

Der Anschlag vom 28. September 1973 war der dritte auf den Konzern innerhalb von zwei Wochen. Acht Stunden zuvor hatte es bereits einen Brandanschlag auf den ITT-Firmensitz in Rom gegeben, und noch zwölf Tage zuvor ein – eher harmloses – Bombenattentat auf eine Filiale in Zürich. Und die Anschlagserie ging weiter. In den nächsten zwölf Monaten wurden ITT-Bürogebäude in Europa, Lateinamerika und den USA attackiert. Anders als die heutigen „Techlash“-Kampagnen gegen das Silicon Valley beschränkten sich die damaligen ITT-Gegner nicht auf rhetorische Attacken. Für sie war das Unternehmen nicht einfach der typische internationale Multi, sondern eine autonome Organisation mit eigener Diplomatie, eigenem Geheimdienst und eigenen Politikern – ein Stab, der aus einer eindrucksvollen Mischung von Ex-Militärs, Ex-Diplomaten und mit dem Pulitzerpreis ausgezeichneten Journalisten darstellte, die sich zu gewieften PR-Leuten gemausert ­hatten.

Das Unternehmen war in der Tat eine Welt für sich, vergleichbar einem Nationalstaat. Bezeichnenderweise lautet der Titel des 1973 publizierten Enthüllungsbuchs: „The Sovereign State of ITT“.2

Seit mehr als 50 Jahren gibt es Anklagen gegen den „Technofeudalismus“.3 So werden die Silicon-Valley-Giganten als Feudalherren beschreiben, die entscheiden, welche Nutzer auf ihren Plattformen überleben. Selbst eine durchaus ITT-freundliche Monografie, die Anfang der 1980er Jahre erschien, spielte mit diesem Begriff: Der Autor forderte darin die Leserschaft auf, sich ins feudale Europa um das Jahr 1100 zurückzuversetzen und sich das „Geschäftsgebaren“ des Konzerns als ein feudalistisches vorzustellen.4

US-Marine gegen britische Kabelleger

Solche Darstellungen treffen zwar einen richtigen Punkt, doch sie haben eine erhebliche analytische Schwäche. Was sie nicht berücksichtigen: Nationalstaaten sind keineswegs gleich, und es ist der mächtigste aller Staaten, dem die US-Hightech-Giganten ihre ökonomische Vormachtstellung verdanken. Das gilt allemal auch für das Unternehmen ITT, dessen unglaublicher Aufstieg unmittelbar aus der ständig wachsenden militärischen, finanziellen und technologischen Vorherrschaft der Vereinigte Staaten resultierte. Weder ITT noch das Silicon Valley hätten ihr unfassbares Wachstum ohne die uneingeschränkte Unterstützung durch den Staat USA erzielen können.

Die ITT wurde 1920 von den Brüdern Hernán und Sos­thenes Behn als Beteiligungsgesellschaft in New York gegründet. Anfangs war es nur eine Firmenadresse, über die die Brüder ihr Telefonbusiness in Puerto Rico und auf Kuba betrieben. Da sie auf Saint Thomas, einer der Jungferninseln, geboren waren, kannten sie sich in der Karibik bestens aus und waren maßgeblich dran beteiligt, dass die USA im Gefolge des Spanisch-Amerikanischen Kriegs von 1898 in der Region Fuß fassen konnten.

Die Behn-Brüder verfügten über ein beträchtliches Familienvermögen und hatten globale Ambitionen. Der jüngere Bruder Sosthenes war, bevor er sich in Puerto Rico niederließ, mehrere Jahre an der Wall Street tätig gewesen und hatte nützliche Bande zu JPMorgan und zur heutigen Citibank geknüpft.

In den 1920er Jahren kam das Unternehmen in Fahrt und expandierte nach Mexiko, Uruguay, Brasilien, Chile und Spanien. Finanziert wurden seine Investitionen über Kredite, die dank der Verbindungen zur Wall Street zustande kamen. ITT erweiterte seine Aktivitäten über das Betreiben von Telefonnetzen hinaus in Richtung Telegrafie und kaufte Fabriken auf, die Telefonanlagen herstellten. 1929 betrieb das Unternehmen zwei Drittel der Telefonnetze und die Hälfte der Kabelverbindungen in Lateinamerika.5

Diese Expansion war keineswegs nur dem unternehmerischen Genie der Behn-Brüder zu verdanken; sie fand nämlich in einer Zeit statt, in der die USA alle verfügbaren Mittel mobilisierten, um die britische Konkurrenz aus Lateinamerika zu vertreiben. Zuweilen entsandte man sogar US-Kriegsschiffe, die das Verlegen von britischen Unterwasserkabeln verhinderten.

Die Wall Street hatte ihre eigenen Vorstellungen für die Region – und eine Menge Geld für Kredite. Zudem wollte das Außenministerium in Washington das lateinamerikanische Kommunikationsnetz unter der Kon­trol­le von US-Unternehmen sehen – und damit die Monroe-Doktrin um eine technologisch Dimension erweitern. Elihu Root, der während des Spanisch-Amerikanischen Kriegs Kriegsminister gewesen war, erklärte 1921 vor einem Kongressausschuss: „Um die Kontrolle über die Kommunikationssituation in Südamerika ist ein Kampf auf Leben und Tod im Gange.“

In diesem Kampf siegten die Vereinigten Staaten mit Hilfe von ITT. In einem faszinierenden Bericht aus dem Jahr 1930 über den Übergang der USA zur Hegemonialmacht heißt es, das Unternehmen habe „in neun Jahren mehr dazu getan, das weltweite britische Kommunikationsmonopol zu brechen, als sämtliche anderen Unternehmen und Regierungen zusammen in dem halben Jahrhundert elektrischer Kommunikation“.6 Das „I“ in ITT als „Imperialismus“ zu lesen, ist so abwegig nicht.

Am Ende war es ein leichter Sieg. Viele lateinamerikanische Regierungen wollten sich bei Washington anbiedern und ließen ITT zu günstigen Bedingungen ins Land. Damit war das Unternehmen häufig von den lästigen Verpflichtungen befreit, die von Versorgungsunternehmen gewöhnlich erwartet werden, wie Investitionen in die In­fra­struk­tur oder der Verzicht auf einseitige Preiserhöhungen.

Erst im Zweiten Weltkrieg begann man in einigen lateinamerikanischen Ländern die engen Bande zwischen ITT und Washington kritisch zu sehen, zumal im Hinblick auf die Sicherheit des eigenen nationalen Kom­mu­ni­ka­tions­wesens. Insbesondere Regierungen, die zunehmend von den Kräften des wirtschaftlichen Nationalismus vereinnahmt wurden, wollten den Konzern lieber heute als morgen loswerden und einheimische Akteure zum Zuge kommen lassen. So geschah es ab Mitte der 1940er Jahre in Peróns Ar­gen­ti­nien (wie übrigens auch in Francos Spanien), wobei ITT fette Entschädigungszahlungen kassierte.

Das Unternehmen hatte sich mittlerweile zu einem bedeutenden Rüstungskonzern und Hersteller von Kommunikationsanlagen entwickelt. Obwohl damit klar war, dass es als Betreiber nationaler Telefonnetze keine Zukunft mehr hatte, wollte es aus seinen lateinamerikanischen Tochterfirmen noch möglichst viel Geld herausholen, indem es die Telefontarife erhöhte und zugesagte Investitionen aufschob.

Bei der Kundschaft, der schlechtere Leistungen zu exorbitanten Preisen geboten wurde, war ITT zunehmend verhasst, galt aber noch immer als unantastbar. Wer konnte es schließlich wagen, ein Unternehmen zu verstaatlichen, das so eng mit der US-Regierung verbandelt war?

Einer wagte es. Anfang der 1950er Jahre brachte ein junger Rechtsanwalt in Kuba ITT vor ein Gericht. Er verklagte das Unternehmen wegen Nichteinhaltung vertraglicher Zusicherungen gegenüber Kuba. Seine Kanzlei gewann den Prozess, doch der damalige Diktator Fulgencio Batista annullierte das Urteil. Der junge Anwalt hieß Fidel Castro. Er vergaß diese Schmach nie. Die kubanische Tochterfirma von ITT wurde nach der Revolution als eine der ersten verstaatlicht.

Die Nationalisierung ihrer kubanischen Beteiligungen war für das Unternehmen ein harter Schlag– und ein Vorbote der Dinge, die noch kommen sollten. 1962 verstaatlichte der Gouverneur des brasilianischen Bundesstaats Rio Grande do Sul die dortige ITT-Tochter; daraufhin zog das Unternehmen sämtliche Strippen in Washington und stellte den Konflikt als Auseinandersetzung zwischen Kommunismus und Kapitalismus im Kalten Krieg dar.

Dieselbe Begründung tauchte zwei Jahre später wieder auf, als die US-Regierung den Militärputsch gegen den brasilianischen Präsidenten Goulart unterstützte. Die Lobbyarbeit von ITT war insofern erfolgreich, als Brasilien gezwungen wurde, für das verstaatlichte Tochterunternehmen eine viel zu hohe Entschädigung zu zahlen.

Ende der 1960er Jahre war ITT zu einem klassischen Mischkonzern geworden, der die Erlöse aus dem Verkauf seiner lateinamerikanischen Töchter in Versicherungsgesellschaften, Hotels und sogar in eine Autovermietungs­firma investiert hatte. Anfang der 1970er Jahre waren die einzig in ITT-Besitz verbliebenen Telefonnetze die in Puerto Rico und Chile, wo das Unternehmen bei seinem Einstand Anfang der 1930er Jahre einen außergewöhnlich günstigen Vertrag abgeschlossen ­hatte.7

In den 1960ern kam man in Santiago allerdings zu dem Schluss, dass die chilenische Tochtergesellschaft nicht länger in US-amerikanischen Händen verbleiben sollte. Die 1964 gewählte christdemokratische Regierung unter Eduardo Frei wollte die Angelegenheit friedlich lösen und ITT etappenweise aufkaufen.

Aus Sicht der linken Opposition war das zu wenig und zu spät. Der Sozialist Salvador Allende gewann die Wahlen 1970 unter anderem mit dem Versprechen, ITT zu verstaatlichen und die telefonische Versorgung von armen Regionen voranzutreiben. Bei ITT hatte man schon lange vor 1970 befürchtet, dass Allende chilenischer Präsident werden könnte. Ein Vorstandsmitglied, der frühere CIA-Direktor John McCone, hatte sechs Jahre zuvor geholfen, Allendes Sieg zu verhindern. Ein paar Monate vor den Wahlen trat ITT an die CIA heran und bot dem Geheimdienst sogar Geld an, um einen Wahlsieg Allendes zu verhindern. Die CIA, die keine Geldnöte hatte, lehnte ab. Daraufhin gingen die ITT-Dollars an die politischen Gegner Allendes.

Blueprint fürs Silicon Valley

Nachdem Allende überraschend gewonnen hatte, fragte die CIA ihrerseits bei ITT an, in welcher Weise das Unternehmen ökonomischen Druck auf Chile ausüben könne. In Washington hoffte man – wie es Richard Nixon ausdrückte –, „die chilenische Wirtschaft zu einem Hilferuf zu veranlassen“, was die Intervention des Militärs auslösen würde, sprich einen Putsch, der den Amtsantritt Allendes vereiteln würde.

Doch der neue Präsident überstand diese gefährliche Phase und begann, mit ITT zu verhandeln. Dabei unterliefen ihm allerdings mehrere grobe Fehler, zum Beispiel als er ITT allen Ernstes bat, beim Aufspüren von Wanzen im Präsidentenpalast, dem Palacio de La Moneda, und in seiner privaten Residenz zu helfen.

Am Ende riss Allende der Geduldsfaden. Er ließ die chilenische ITT-Tochtergesellschaft verstaatlichen und deren Manager unter dem Vorwurf, über fiktive Unternehmen Gewinne aus Chile abgezweigt zu haben, verhaften. Das Unternehmen schlug voller Wut mit einer Lobbykampagne zurück. In Washington ließ man die Kontakte zu Außenminister Henry Kissinger und zum ­State Departement spielen und schlug 18 Maßnahmen vor, mit denen die Allende-Regierung innerhalb von sechs Monaten destabilisiert werden sollte. Auch mit der CIA verhandelte man weiter über finanzielle Zuwendungen an die Tageszeitung El Mercurio, das Sprachrohr von Allendes Gegnern.

Die Memos und Fernschreiben mit der Kommunikation zwischen ITT und Amerikas „tiefem Staat“ wurden schließlich der Presse zugespielt und führten zu Anhörungen im Außenpolitischen Ausschuss des Senats.8 Doch Allendes Hoffnung, dass seine Gegner nun endlich zur Rechenschaft gezogen würden, erfüllten sich nicht.

Bei den Hearings vor dem Ausschuss entsprachen weder die Aussagen der ITT-Spitzenmanager noch die der CIA-Mitarbeiter der vollen Wahrheit. Und Richard Nixon im Weißen Haus war ebenso wenig bereit, sensible Dokumente publik zu machen, wobei er sich auf das executive privilege als Präsident berief.

Die Anhörungen führten weder zu einer Rüge der Parteien, noch ging auch nur einer der Repräsentanten von ITT und CIA ins Gefängnis. Drei Monate später putschte Pinochet in Santiago, Präsident Allende wurde in den Selbstmord getrieben.

ITT hat die Verstaatlichung in Chile kaum zu spüren bekommen: Der Konzern kassierte 150 Millionen Dollar Entschädigung von Pinochet und der US-Regierung. Vielleicht war das von Anfang an der Plan gewesen: Allende zur Enteignungen zu provozieren und die Entschädigung einzusacken.

Die Vorgänge in Chile beschäftigten alsbald die ganzen Welt – eine Art von Publicity, an der man in der Führungsetage von ITT keine Freude haben konnte, zumal der Verdacht aufkam, dass der Konzern in Chile eine viel größere Rolle gespielt hat, als bei den Hearings in Washington ans Licht gekommen war.

Dass die Wahrheit und damit die Gerechtigkeit auf der Strecke geblieben war, machte ITT zum lohnenden Ziel für radikale Gruppen. Der Anrufer vom 27. September 1973 bei der New York Times behauptete, er gehöre zu den Weathermen, einer linksradikalen militanten Untergrundorganisation.

Die negative Aufmerksamkeit, die ITT in den internationalen Medien erfuhr, veranlasste selbst die Regierung von Puerto Rico, der ursprünglichen Heimat von ITT, die Besitztümer des Konzerns zu übernehmen. Dass dafür 1974 eine gigantische Summe an den Konzern floss, fanden nicht alle in Puer­to Rico gut. Ein paar Monate nach der Übereinkunft wurde das ITT-Gebäude durch Bomben schwer beschädigt.

ITT hat seit seiner Gründung über lange Zeit Geschäftsstrategien entwickelt, die andere US-Konzerne erst Jahrzehnte später übernommen haben. Er war von Anfang an global ausgerichtet, wobei es seine engen Verbindungen zur Wall Street und zum Pentagon systematisch für seinen aggressiven Expansionskurs nutzte. ITT war eines der ersten Unternehmen, dies sich zu globalen Mischkonzernen mauserten.

Doch diese institutionelle Metamorphose erwies sich am Ende als ein grundstürzendes Experiment zu viel. Das Management, das von kurzfristiger Maximierung der Profite und auf den Kurswert seiner Aktien versessen war, vernachlässigte darüber langfristige Investitionen ins Kerngeschäft. Dieser Versuchung erlagen die meisten anderen US-Konzerne erst in den 1980er Jahren.

ITT hingegen bediente sich bereits Mitte der 1960er Jahre dieser Finanzialisierungsstrategie. Viele begriffen damals noch nicht, warum dieser Produzent von Telefonanlagen und Rüstungsgütern es vorzog, Versicherungskonzerne aufzukaufen, statt in Forschung und Entwicklung zu investieren. Die ITT-Führungskräfte erfanden eine Erklärung, die die Wall Street glücklich machte.

Die Gier nach exponentiellem Wachstum markierte jedoch den Beginn eines langsamen Niedergangs. Das Unternehmen generierte zwar immer noch sehr hohe Profite, verlor aber die Hauptsache aus dem Blick: jene Art von notwendiger, intensiver und teurer Forschung, die später im Silicon Valley zum Erfolg führte.

Aber die Marke ITT litt auch unter der beschädigten Reputation, die ihr wegen ihrer Rolle beim Putsch in Chile unwiderruflich anhing. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass dieser große Technologiekonzern durch seine Nähe zur Wall Street und zum US-Staat, die seinen Aufstieg ermöglicht hatte, am Ende zerstört wurde. Man fragt sich, ob die Giganten im Silicon Valley aus seinen Fehlern lernen?

1 Paul L. Montgomery, „ITT Office Here Damaged by Bomb“, The New York Times, 29. September 1973.

2 Auf Deutsch: Anthony Sampson, „Weltmacht ITT – Die politischen Geschäfte eines multinationalen Konzerns“, Reinbek (Rowohlt) 1973.

3 Siehe Evgeny Morozov, „Critique of Techno-Feudal Reason“, in: New Left Review, Nr. 133/134, Januar–April 2022.

4 Robert Sobel, „ITT: the Management of Opportunity“, New York (Times Books) 1982.

5 Daniel R. Headrick, „The Invisible Weapon: Telecommunications and International Politics, 1851–1945“, Oxford (Oxford University Press) 1991.

6 Ludwell Denny, „Amerika schlägt England: Geschichte eines Wirtschaftskrieges“, Stuttgart (Deutsche Verlags-Anstalt) 1930.

7 Siehe das Kapitel zu Chile in Eli M. Noam (Hg.), „Tele­communications in Latin America“, Oxford (Oxford University Press) 1998.

8 Siehe „Multinational Corporations and United ­States Foreign Policy“, in: Government Printing Office, Washington, D. C., 1974.

Aus dem Englischen von Sigrid Ruschmeier

Evgeny Morozov ist Publizist. Dieser Artikel ist hervorgegangen aus seinem Podcast „The Santiago Boys“, der im Juli 2023 erschien und auf über 200 Interviews basiert.

Le Monde diplomatique vom 10.08.2023, von Evgeny Morozov