Gegenüberwachung
von Ulrike Lune Riboni
Auf einer Mauer in Nanterre steht in großen violetten Lettern: „Ohne Video wäre Nahel für die Place Beauveau nur Statistik. Fuck the 17.“1 Am 27. Juni 2023 wurde der 17-jährige Nahel Merzouk am Steuer eines Autos von einem Polizisten aus nächster Nähe mit einem Schuss in die Brust getötet. Das Video einer Passantin, das am selben Tag in den sozialen Medien kursierte, widerlegt die ursprüngliche Darstellung der Polizei.
Der offizielle Polizeibericht verzeichnet um 8.22 Uhr folgende Eintragung: „Individuum durch Kugel an der linken Brust verletzt. Der Polizeibeamte stellte sich vor das Fahrzeug, um es zu stoppen. Der Fahrer versuchte zu entkommen, indem er direkt auf den Beamten zufuhr.“ Im Gegensatz dazu zeigt das Video einen Polizisten, der von der Seite in ein Fahrzeug schießt, das langsam anfährt. Was wäre ohne diese Bilder geschehen?
Mehrere Medien verglichen die Empörung, die der Tod von Nahel Merzouk ausgelöst hat, mit der relativen Gleichgültigkeit zwei Wochen zuvor, nach dem Tod von Alhoussein Camara. Der junge Mann war in Saint-Yrieix-sur-Charente, in der Banlieue von Angoulême, ebenfalls nach einem Brustschuss verstorben. Er hatte sich bei einer Polizeikontrolle geweigert, „einer polizeilichen Anordnung zu folgen“, und mit seinem Auto die Beine eines Beamten gestreift. Ein Freund versicherte: „Ich weiß genau, dass er den Polizisten nicht verletzt hat, aber wie soll man das ohne ein Video beweisen?“2
Doch auch Bilder helfen nicht immer, Gerechtigkeit durchzusetzen. 1991 wurde der 26-jährige Afroamerikaner Rodney King in Los Angeles von vier Polizisten brutal zusammengeschlagen. Ein Nachbar filmte die Szene. Das Video wurde zum Vehikel der Mobilisierung, aber auch zur Einleitung eines Strafverfahrens. Ohne das Video – und ohne dessen Verbreitung über CNN – hätte der Vorfall nie zu einem Prozess geführt. Doch am Ende wurden die Beschuldigten nicht verurteilt, sondern freigesprochen. Die Wut über dieses Urteil führte zum größten Aufstand, den Los Angeles je erlebt hat.
Schon in den 1960er Jahren wurden Kameras zur Überwachung der Polizei (copwatching) eingesetzt, etwa von einem Bündnis Schwarzer Organisationen nach zahlreichen Morden durch die Polizei im Watts-Viertel in South Central Los Angeles; ab 1966 auch von den Black Panthers in Oakland. In den 1980er Jahren sorgte die Aids-Bewegung Act Up dafür, dass Videofilmer bei ihren Demonstrationen präsent waren, um Polizeigewalt zu verhindern. Damals erzählte Catherine Gund-Saalfield, Mitbegründerin von Diva TV (Damned Interfering Video Activist Television): „Wir haben ein Bildarchiv von Bullen, die den Leuten das Handgelenk abknicken, bis es bricht, von Bullen, die Demonstranten mit Schlagstöcken auf Rücken und Schultern prügeln.“3
Diva TV wollte, im Unterschied zum Interventionskino4 oder zum alternativen Fernsehen, nicht nur den Ungehörten eine Stimme geben oder die Körper der Ungesehenen sichtbar machen. Ihre Kameras wurden zu Waffen im Kampf, ihre Videos zu Beweismitteln. Copwatching hatte von Beginn an eine politische Funktion. Und mittlerweile eine längere Tradition: 2020 wurden die Morde an George Floyd in den USA und an Cédric Chouviat in Frankreich von Nachbarn oder Passanten gefilmt. In Frankreich dokumentierten Überwachungskameras 2017 die brutale Verhaftung von Théo Luhaka in Aulnay-sous-Bois und 2020 die Schläge gegen den Musikproduzenten Michel Zecler. In den USA nutzten einige Videos über Polizeigewalt die Aufzeichnungen von Bodycams, die praktisch überall eingesetzt werden.
In Frankreich halten Aktivistengruppen wie die nationale Beobachtungsstelle für Polizeipraktiken und Polizeigewalt oder David Dufresne mit seiner Plattform „Allô Place Beauvau“ die ungefilterte Verbreitung solchen Materials für wichtiger als die Aufnahmen selbst. In dieser Hinsicht trauen sie der Justiz und den Medien nicht, denn in den TV-Nachrichten und von den Gerichten wird das Bildmaterial auf verschiedene Weise technisch wie rhetorisch beeinflusst.
Bei einem Prozess treten Expertinnen oder Zeugen auf, die ein Bild beschreiben, kommentieren und kontextualisieren. Im Fernsehen können Videos mittels grafischer Elemente bearbeitet werden, um die Wahrnehmung in einem bestimmten Sinne zu beeinflussen. Und eine Wiedergabe in Zeitlupe kann die Betrachtenden dazu bringen, „eine Tat als vorsätzlicher wahrzunehmen, als sie ist, weil die Verlangsamung das Gefühl vermittelt, der Täter habe Zeit gehabt, sein Tun zu planen“.5 Ein ähnlicher Effekt wird erzielt, wenn ausgedruckte und mit Anmerkungen versehene Bildschirmfotos die Filmaufnahmen ersetzen.
Auch wenn die Bilder nach den strikten juristischen Regeln nicht als Beweismittel dienen können, ist ihre gesellschaftliche Rezeption und Wirkung für die staatliche Obrigkeit und ihre Ordnungskräfte lästig. Deshalb wird die Freiheit, zu filmen, vor allem bei Demonstrationen, immer öfter von der Polizei behindert. Bereits 2008 musste der französische Innenminister seine Truppen per Rundschreiben daran erinnern, dass „Polizisten keinen besonderen Schutz im Hinblick auf das Recht am eigenen Bild genießen“. Die Informationsfreiheit wiege schwerer als das Recht am Bild oder der Schutz der Privatsphäre, „sofern diese Freiheit nicht als Angriff auf die Würde der Person oder zu Lasten der Geheimhaltung einer Ermittlung oder Untersuchung missbraucht wird“.
Trotzdem wurde 2019 ein junger Gelbwesten-Aktivist aus Dijon zu fünf Monaten Gefängnis auf Bewährung verurteilt, weil er Zusammenstöße zwischen Demonstranten und Polizei gefilmt und online gestellt hatte. Das Urteil stützte sich auf einen 2007 ins Strafgesetzbuch aufgenommenen Artikel, der „happy slapping“ (körperliche Angriffe, die gefilmt und in den sozialen Netzen verbreitet werden) unter Strafe stellt. Neuerdings plant Macrons Parlamentsmehrheit, die Verbreitung von Videos, die Polizeigewalt dokumentieren, generell zu behindern. Ihre Novelle zum Sicherheitsgesetz sah in Artikel 24 vor, die Verbreitung von Bildern, die „der körperlichen oder psychischen Unversehrtheit“ von Polizisten schaden, mit fünf Jahren Gefängnis zu bestrafen.
Der Artikel 24 scheiterte am Verfassungsgericht. Allerdings gestattet das 2021 verabschiedete Gesetz der Polizei die Echtzeitnutzung der Aufnahmen von Überwachungskameras in Hausfluren sowie den erweiterten Zugriff der städtischen Polizei und Angestellten der Bahn auf die Videoüberwachung. Da heute alle mit ihren Handys filmen können, will auch die Polizei freie Hand haben: „Wer durch Bilder angegriffen wird, muss mit Bildern dagegenhalten“,6 betont David Le Bars, Generalsekretär der Polizeigewerkschaft SCPN.
Der Versuch, den Smartphones der Bürger mit der Videoüberwachung des öffentlichen Raums zu begegnen und die Verbreitung bestimmter Bilder zu verhindern, demonstriert den Willen des Staats, Druck auszuüben, um potenzielle Nachahmungstäter abzuschrecken. Dazu gehört die Behauptung, vor allem junge, schlecht ausgebildete Personen der unteren Schichten würden durch das, was sie im Netz sehen, zu Gewalttaten angestiftet. Am 30. Juni verwies Macron auf einer Krisensitzung anlässlich des landesweiten Aufruhrs nach dem Tod von Nahel Merzouk auf die „bedeutende Rolle“ von Snapchat und Tiktok, vor allem in den armen Stadtvierteln. Und beklagte die Verbreitung der Bilder von Gewaltszenen in zahlreichen französischen Städten.
Als Gegengewicht zur Zensur der audiovisuellen Medien in vielen Ländern hatten die Betreiber digitaler Plattformen in den 2010er Jahren eine nahezu uneingeschränkte Verbreitung von Aufnahmen aller Art erlaubt. Doch diese wichtigen Akteure des digitalen Kapitalismus fühlten sich nicht berufen, Aufstände zu unterstützen. Ein Sprecher von Snapchat Frankreich versicherte am 10. Juli 2023 vor der Nationalversammlung, sein Unternehmen habe „in Abstimmung mit dem Innenministerium und den Behörden daran gearbeitet, die zahlreichen Ausschreitungen, die im Land zu beobachten waren, so schnell wie möglich einzudämmen“. Als Resultat dieser Zusammenarbeit habe man an den letzten Abenden der Unruhen vor allem Storys von Nutzern gesehen, „die sich über ebendiese Unruhen und deren Folgen beklagten“.
Wenige Stunden zuvor hatte Thierry Breton, EU-Kommissar für den Binnenmarkt, über France Inter verkündet, es werde bald Schluss sein mit dem ganzen Theater. Dabei beklagte er, dass die sozialen Medien nicht von vornherein alle Nachrichten gesperrt hätten, die geeignet waren, die Unruhen zu verstärken: „Ab 25. August wird das alles nicht mehr möglich sein.“
Am 25. August 2023 tritt das EU-Digitalgesetz in Kraft. Das bedeutet: „Wenn es Hassbotschaften gibt oder Inhalte, die etwa zum Aufstand aufrufen oder zum Töten oder Anzünden von Autos, müssen sie sofort gelöscht werden. Weigern sich die Plattformen, werden sie sofort bestraft“ – und womöglich zeitweise gesperrt.
Ist damit der Moment der Ernüchterung für alle gekommen, die seit dem Arabischen Frühling soziale Netze mit dem Begriff Freiheit verbunden haben? „Ohne die Bilder hätte es die Revolution nicht gegeben“, sagte uns 2011 ein Tunesier. Aber auch nicht ohne die Möglichkeit, sie zu verbreiten.
Ulrike Lune Riboni
1 An der Place Beauveau befindet sich das Innenministerium, 17 ist die Rufnummer der Polizei.
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz
Ulrike Lune Riboni ist Dozentin für Informations- und Kommunikationswissenschaften an der Universität Paris 8 Vincennes-Saint-Denis sowie Autorin von „Vidéoactivismes. Contestation audiovisuelle et politisation des images“, Paris (Editions Amsterdam) 2023.