10.08.2023

Asanas für den Kapitalismus

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Asanas für den Kapitalismus

von Zineb Fahsi

Andrea Busse-Hurt, Weit weg, 2015, 80 × 100 cm, Acryl auf Leinwand
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Für die westliche Welt galt Yoga lange als esoterische, vor allem bei Hippies beliebte Angelegenheit. Heute spielt es eine wichtige Rolle im Alltag vieler Menschen. Es wird in Yoga-Zentren gelehrt und in Fitnessstudios praktiziert, aber auch in Krankenhäusern, Schulen, Unternehmen und bei der Armee. Gesundheitsbewusst leben, positiv denken, Stress abbauen, Resilienz aufbauen, Emotionen kontrollieren, sein volles Potenzial ausschöpfen, mit dem authentischen Ich verbunden, effizient, flexibel, kreativ und glücklich sein – gar den Frieden in die Welt tragen: Die Wirkungen des Yoga scheinen grenzenlos.

Yoga wird häufig als Methode der Persönlichkeitsentwicklung gelehrt, eine Methode mit dem Ansehen einer uralten Tradition – und mit orientalis­ti­schem Anstrich. Yoga verspreche, schreibt die Journalistin Marie Kock, „allen Erschöpften der modernen Welt Rettung und einen lebensverändernden Ausweg“.1 Die Aussicht auf Veränderung trug zweifellos zum spektakulären Yogaboom der letzten Jahrzehnte bei.

Yoga ist überall und kann alles: So stellte das Logistikunternehmen Amazon im Rahmen eines „WorkingWell“-Programms in den Lagerhallen „Ama­Zen“-­Boxen für die Angestellten auf, in denen sie Mantras rezitieren und meditieren können. Alles, um „den inneren Akku wieder aufzuladen“.2 Eine Yoga­lehrerin erzählt von einer Yogastunde, die von der Personalabteilung einer Firma nach dem Selbstmord eines Kollegen angesetzt wurde, bei den Mitarbeitenden kam das allerdings gar nicht gut an.

Und da gibt es Yoga-Anhänger, die glauben, es ginge der Welt sehr viel besser, wenn alle Yoga praktizieren würden. Dass Leute wie der indische Premierminister Narendra Modi Yoga machen und zugleich rechtsextremistische Ideen vertreten, ignorieren sie lieber.

Tatsächlich versprechen die alten Texte, die immer noch Grundlage des modernen Yoga sind, keineswegs ein besseres Leben. Die vormodernen Formen des Yoga – es existieren verschiedene – entstanden im Laufe des ersten Jahrtausends vor unserer Zeitrechnung auf dem indischen Subkontinent. Sie lehren Verzicht und Askese. Durch strenge Disziplin sollten sich die Yogis aus dem Kreislauf der Wiedergeburten befreien können, der mit dem Sanskritbegriff Samsara beschrieben wird.

Das moderne Yoga hingegen predigt eine Form der Selbstoptimierung. Es geht darum, die eigene weltliche Existenz zu verbessern, indem man eine bessere Version seiner selbst wird. Zu diesem Wandel kam es, weil Yoga – und die indische Kultur ganz allgemein – lange Zeit als Alternative zur entfremdet und kalt empfunden westlichen Moderne gesehen wurde.

Als Yoga sich am Ende des 19. Jahrhunderts weltweit zu verbreiten begann, zog es Orientalisten, Theosophen und Okkultisten in seinen Bann, ihnen folgten die Beat-Generation und die Hippies, Hollywoodstars und Unternehmer. In aufeinander folgenden Wellen haben sie alle Yoga tiefgreifend verändert.

Auch die New-Age-Bewegung eignete sich Yoga an und verankerte es in einer Rhetorik der persönlichen Veränderung im Dienst einer künftigen Epoche des Friedens und der Harmonie – eine ganz auf das Individuum konzentrierte spiritualistische Vision, in der so­zia­le Bezüge zurücktreten. Yoga-Praktiken wurden in den 1960ern zunächst als Techniken der Selbsterfahrung genutzt, eine neue Phase begann, als sie zur Verbesserung von Produktivität und Leistung eingesetzt wurden.

Haight-Ashbury in San Francisco war 1967 das Zentrum des „Summer of Love“. Etwa 60 Kilometer entfernt liegt der Ursprungsort einer anderen kalifornischen Utopie, der aufkommenden Cyberkultur: Silicon Valley.

Yoga und sein Heilsversprechen

Die Unternehmen dieses Hightech-Clusters gingen ebenfalls aus einer alternativen Bewegung hervor, Grundlage ihres Managements war eine Philosophie des permanenten Sich-selbst-Neuerfindens. Die Arbeit selbst sollte zum Instrument der Selbstverwirklichung werden, Arbeit wurde zum sinnstiftenden, gemeinschaftsfördernden und heilbringenden Kult.

Personaler bekamen die Aufgabe, Mitarbeitende psychisch zu stärken und Programme zu entwickeln, die orientalische Spiritualität und Persönlichkeitsentwicklung miteinander verbanden. Google und Euclid Analytics entwickelten Meditations- und Achtsamkeitsprogramme, die „Search Inside Yourself“ beziehungsweise „Be Your Best Self“ heißen.

Mit dem Ende der 1980er ging auch das Zeitalter der politischen Utopien zu Ende, der Kapitalismus trug den ideologischen Sieg davon. Das Individuum wurde zum neuen politischen Horizont. Die Industrien der Wellnessbranche entwickelten sich rasant und spiegelten wider, was der deutsche Soziologe Thomas Luckmann als Übergang von „den großen Transzendenzen“, den Visionen einer anderen Welt, zu „mittleren Transzendenzen“ politischer Art hin zu „kleinen, auf das Individuum orientierten Transzendenzen“ analysierte.3

In diesem Kontext ist es sinnlos, die Gesellschaft ändern zu wollen, man kann sich nur selbst zu ändern. Die kollektive Veränderung entsteht aus dem Zusammenspiel individueller Entscheidungen, den Produktions- und Konsum­entscheidungen der Einzelnen, die von den Märkten orches­triert ­werden.

Das Yoga der Gegenwart ist hochpolitisch und trägt zugleich stark zur Entpolitisierung bei. Denn es leistet der Verbreitung von Vorstellungen Vorschub, die emanzipatorisch erscheinen, aber in Wahrheit vor allem Schuldgefühle ob der eigenen Unzulänglichkeit wecken. Nicht wenige Menschen sind in ihrem ständigen Streben nach Selbst­op­ti­mie­rung gefangen und deshalb anhaltend unbefriedigt, erschöpft und deprimiert. Auch auf kollektiver Ebene ist die Idee vom Glück durch Yoga kontraproduktiv. Denn dem durch soziale Missstände verursachten Unglück kann man weder durch Yoga noch durch Persönlichkeitsentwicklung entkommen.

Der Burnout droht? Sie haben sicher nicht ausreichend meditiert. Arbeitslos? Das ist bestimmt eine Folge Ihrer negativen Grundeinstellung, Sie sollten vielleicht einige positive Mantras rezitieren. Angstzustände? Haben Sie an ihre täglichen Atemübungen gedacht? Armut? Eine Frage des Mindsets. Haben Sie sich mit mal mit dem Resonanzgesetz, dem Gesetz der Anziehung beschäftigt?

Die US-amerikanischen Psychologieprofessorinnen Dana Becker und Jeanne Marecek schreiben dazu in einem Aufsatz über die Grenzen des sogenannten positiven Denkens, dass „das gute Leben nicht für alle ohne Weiteres oder in gleicher Weise zugänglich ist. Status- und Machtunterschiede, die sich aus der sozialen Klasse, dem Geschlecht, der Hautfarbe, der Nationalität und der Kaste ergeben, beeinflussen das Wohlbefinden erheblich. Diese strukturellen Unterschiede haben dramatische Auswirkungen auf den Zugang zur Gesund­heits­ver­sorgung, auf Bildungs- und Wirtschaftschancen, auf eine faire Behandlung im Strafrechtssystem, auf sichere Lebensbedingungen, auf eine vielversprechende Zukunft für die eigenen Kinder und sogar auf die Sterblichkeit.“4

Yogis wissen das auch. Sie sind weit entfernt von dem Klischee narzisstischer Menschen, die sich nur um ihr eigenes Wohlergehen kümmern und nur ihre grünen Smoothies und Sonnengrüße im Kopf haben. Auch sie denken über die Zerstörung der Umwelt oder den Abbau der sozialen Sicherungssysteme nach. Selbst im Yoga-Milieu werden Stimmen laut, die die Instrumentalisierung von Yoga durch Unternehmen kritisieren.

Die Religionswissenschaftlerin Amanda Lucia schreibt in ihrem Buch „White Utopias“ über die großen spirituell angehauchten Festivals wie das „Burning Man“ oder spezielle Yoga-Festivals wie das Bhakti-Fest: „Die Ironie dabei ist, dass die Teilnehmer, überwältigt von dem Gefühl, in einem neoliberalen Wirtschafts- und Gesellschaftssystem gefangen zu sein, auf der Suche nach einer Atempause nur in einen neuen Markt geraten, auf dem mit Techniken zur Selbstoptimierung Handel getrieben wird.“5

Sollte man also mit der Autorin Virginie Despentes ausrufen: „Lieber tot umfallen als Yoga machen“?6 Viele Leute, besonders Menschen aus der südasiatischen Diaspora, setzen sich heute für ein anderes Konzept des Yoga ein, ein dekolonisiertes Yoga, frei von ­orientalis­tischer Exotik und Leistungsorientierung. Yoga und andere Disziplinen des Wohlbefindens können Ruhe­räume für Menschen bieten, die ein schweres Leben haben, und sie dazu ermuntern, Produktivität, Nützlichkeit, Erfolg und Leistung beiseitezuschieben, um durchatmen zu können.

Im Kapitalismus, in dem das Recht auf Leben und Gesundheit vieler Menschen missachtet wird und die keiner Aufmerksamkeit und keiner Fürsorge wert betrachtet werden, gilt es das Wohlbefinden zu politisieren. Die Selbstfürsorge wird dann zu einem Akt des Widerstands, der Selbstbehauptung und der Emanzipation, und wir erinnern uns daran, dass Wohlbefinden und Glück vor ihrer Kommerzialisierung einmal kollektive und somit politische Ziele waren.

1 Marie Kock, „Yoga, une histoire-monde“, Paris (La Découverte) 2019.

2 „Amazon’s Amazen Kiosk“, Youtube.

3 Thomas Luckmann, „Die unsichtbare Religion“, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1991.

4 Dana Becker und Jeanne Marecek, „Dreaming the American dream. Individualism and positive psychology“, in: Social and Personality Psychology Compass, Nr. 2/5, 2008.

5 Amanda Lucia, „White Utopias. The Religious Exoticism of Transformational Festivals“, Berkeley (University of California Press) 2020.

6 Virginie Despentes, „Liebes Arschloch“, Köln (Kiepenheuer & Witsch) 2023.

Aus dem Französischen von Heike Maillard

Zineb Fahsi ist Yogalehrerin und Autorin von: „Le Yoga, nouvel esprit du captialisme“, Paris (Textuel) 2023.

Le Monde diplomatique vom 10.08.2023, von Zineb Fahsi