10.08.2023

Kicken für Katalonien

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Kicken für Katalonien

Eine kleine Geschichte des FC Barcelona

von David Garcia

Andrea Busse-Hurt, Sandpflanzen, 2021, 130 × 100 cm, Öl auf Leinwand
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Barcelona, Sonntag, 19. März 2023: Zehntausende Fans strömen nach Les Corts im Westen der Stadt zum Stadion Camp Nou. Über der riesigen Schüssel weht die blau-granatrote Fahne des FC Barcelona – direkt neben der Senyera, der historischen Flagge Kataloniens mit vier roten Streifen auf goldenem Grund.

„Barça“, wie der Verein in der ganzen Fußballwelt genannt wird, gilt seit über 100 Jahren als Flaggschiff Kataloniens. An diesem Sonntag ist Real Madrid zu Gast, der größte Rivale Barças, Symbol der Monarchie und des verhassten spanischen Zentralismus.

Das Derby der beiden großen Klubs – Spanisch „Clásico“, Katalanisch „Clàssic“ – ist weit mehr als nur ein Fußballspiel: „Seit den 1920er Jahren steht der FC Barcelona symbolisch für eine Art katalanischer Armee ohne Waffen, ­Real Madrid dagegen wurde als siegreiche Legion von der franquistischen Propaganda instrumentalisiert“, schrieb der katalanische Schriftsteller Manuel Vásquez Montalbán.1

Das Motto des Vereins formulierte Narcis de Carreras 1968 bei seinem Amtsantritt als Barça-Präsident: „Der FC Barcelona ist mehr als ein Klub“ („Més que un club“). Es prangt in riesigen Lettern auf den Rängen des Stadions. Auch im Klubmuseum des Camp Nou ist es allgegenwärtig: Man entdeckt es inmitten der vielen Sponsorenlogos wie auf einem Fresko, das die sportlichen Erfolge Barças abbildet.

Die Besucher und Besucherinnen, egal ob einheimische oder ausländische Fans, drängen sich vor allem in dem protzigen Raum, in dem die sieben „Ballons d’Or“ ausgestellt sind, mit denen Lionel Messi, der größte aller Barça-Spieler, als „Weltfußballer des Jahres“ ausgezeichnet wurde. Oder sie fotografieren die Vitrine mit den fünf Champions-League-Pokalen, die Barça errungen hat; vier davon zwischen 2006 und 2015, als der Klub sportlich wie finanziell den Weltfußball dominierte.

Camp Nou ist mit seiner Zuschauerkapazität von 99 354 das größte Fußballstadion Europas. Beim „Clásico“ vom 19. März ist es komplett ausverkauft. Die katalanische „Armee“ singt die Barça-Hymne: „Wie sind die Blau-Roten, egal woher wir kommen, aus dem Süden oder Norden, versammelt unter einer Fahne.“ Vom Anpfiff an wird jeder Spielzug der eigenen Mannschaft heftig beklatscht und jede Aktion von Real gnadenlos ausgepfiffen. Am Ende hat ihr Team mit 2:1 gewonnen.

Einige Barça-Fans verhöhnen den Real-Präsidenten Florentino Pérez: „Wohin geht Florentino, wohin geht er?“ Wenige Tage zuvor war der Madrider Klub als Nebenkläger in einem Prozess aufgetreten, in dem es um Zahlungen von Barça an den ehemaligen Schiedsrichter José Maria Enriquez Negreira ging. Zwischen 2001 und 2018 sollen mehr als 7 Millionen Euro geflossen sein, in diesem Zeitraum bekleidete Negreira das zweithöchste Amt im spanischen Schiedsrichterwesen. Die Staatsanwaltschaft beschuldigt Barça und zwei seiner Ex-Präsidenten der Korruption.

Auf einer Pressekonferenz am 17. April 2023 sprach Barça-Präsident Joan Laporta von einer „Kampagne“ gegen seinen Verein, den er ein „Symbol der katalanischen Identität“ nannte. Zugleich erinnerte er an das harmonische Verhältnis zwischen dem Franco-Regime (1939–1975) und Real Madrid: „Wir sprechen hier von einer Organisation, die traditionell enge Verbindungen zur politischen, wirtschaftlichen und sportlichen Macht gepflegt hat.“

Real konterte auf Twitter mit einem Video unter dem Titel: „Wer ist die Mannschaft des Re­gimes?“ Darin wird der katalanische Klub als Hilfstruppe des spanischen Caudillos dargestellt. Ein Kommentator behauptet, Francisco Franco habe die Katalanen dreimal vor der Pleite bewahrt. Dafür habe Barça den Diktator mit zwei Medaillen und der Ehrenmitgliedschaft bedacht. Belegt wird das mit Archivmaterial und alten Zeitungsausschnitten.

Am Ende präsentieren sich die Madrilenen gar als Opfer der Franco-Diktatur – was ziemlich dreist ist, wenn man bedenkt, wie Real Madrid von seinen Beziehungen zu Granden des Regimes profitiert hat. Der Schlagabtausch ist ein weiterer Beleg dafür, wie präsent die Gespenster der Diktatur im heutigen Spanien immer noch sind.

Kurz darauf meldete sich die katalanische Generalitat zu Wort. Die höchste Institution, in der Parlament, Regierung und Präsident der Autonomen Gemeinschaft Kataloniens vertreten sind, forderte Real auf, das tendenziöse Video zurückzunehmen. Der Film sei ein „Affront und eine Beleidigung aller Menschen, die unter dem Franco-Regime gelitten haben, wie Josep Suñol, der ehemalige Barça-Präsident“.2

Suñol war Abgeordneter der Republikanischen Linken Kataloniens, der ERC (Esquerra Republicana de Catalunya), und Barça-Präsident, der zu Beginn des Spanischen Bürgerkriegs am 6. August 1936 von den Nationalisten verhaftet und erschossen wurde.

Bereits unter dem Regime von General Mi­guel Primo de Rivera (1923–1930) war der Verein „zwar untergründig, aber doch eindeutig erkennbar ein Träger katalanischen Bewusstseins“, erläutert der Historiker Benoît Pellistrandi.3 1925 verfügte die Madrider Regierung eine sechsmonatige Schließung des Klubs, nachdem Barça-Fans bei einem Freundschaftsspiel die spanische Nationalhymne ausgepfiffen hatten.4

Das Ende der Zweiten Spanischen Repu­blik (1931–1939) hätte fast auch das Ende des FC Barcelona bedeutet: Die Franquisten wollten den Klub zunächst auflösen, entschieden sich dann aber an­der­s: Er wurde „entkatalanisiert“ und bis 1946 der Oberhoheit des Spanischen Fußballbunds unterstellt. Barça musste sein Engagement für das 1932 eingeführte Autonomiestatut Kataloniens teuer bezahlen.

Wie unter Primo de Rivera war es auch unter Franco verboten, die katalanische Flagge öffentlich zu zeigen oder Katalanisch zu sprechen. Das Camp Nou wurde damals zu einer Art katalanischem Gallierdorf. „Bei Spielen gegen Real Madrid demonstrierten die Barça-Fans ihren Nationalstolz. Man ließ sie gewähren, denn der Sport war offiziell unpolitisch“, erinnert sich Xavier Antich von der NGO Òmnium Cultural, die sich für die katalanische Kultur einsetzt.

Während der Franco-Diktatur arbeitete Òmnium Cultural heimlich von Frankreich aus. Heute ist sie die bedeutendste katalanische Institution – neben Barça. Wobei der Klub dank seiner enormen Reichweite jedoch der mit Abstand wichtigste Träger des Katalanismus ist: Nach eigenen Angaben (vom Juni 2021) hat der FC Barcelona über die verschiedenen sozialen Medien insgesamt 400 Millionen Abon­nen­t:in­nen.

Franco wollte den Klub auflösen

Diesen einflussreichen Prestigeträger weiß die Region für sich zu nutzen. „Als renommierte private Institution verbreitet Barça ein modernes Katalonienbild“, sagt Francesc Xavier Vila, Sekretär für Sprachpolitik bei der Generalitat. Auch die Regionalregierung, Govern genannt, zählt auf den Klub bei ihrem Bemühen, das Katalanische im Rahmen des „Nationalen Pakts für die Sprache“ zu fördern.

Der Bekanntheitsgrad von Barça kompensiere zum Teil die Defizite bei der staatlichen Tourismuswerbung und -förderung, meint Narcis Ferrer, Leiter der katalanischen Tourismusbehörde. „Der Prado ist das meistbesuchte Museum Ma­drids, und in Katalonien steht Barça an erster Stelle“, erläutert dazu Pau Solanilla, der im Rathaus für die Promotion der „Marke Barcelona“ verantwortlich ist. Der Klub sei viel mehr als eine einfache Sportmarke. „Selbst bei den Olympischen Spielen von 1992 war der Fußballklub bekannter als der Austragungsort Barcelona.“

Anfang 2023 veröffentlichte Barça einen gemeinsam mit der katalanischen Tourismusbehörde realisierten Werbeclip unter dem Titel „Feel the Colours“ (Spüre die Farben), Untertitel: „Love FC Barcelona, Discover Catalonia“ (Liebe den FC Barcelona, entdecke Katalonien): Auf Sequenzen vom Camp Nou folgen Ansichten von Landschaften und baulichen Sehenswürdigkeiten. „Wir profitieren vom unglaublichen Resonanzraum, den Barças Kanäle bieten“, freut sich Ferrer.

Die privilegierte Beziehung des FC Barcelona zum katalanischen Establishment ist seinen regionalen Konkurrenten allerdings ein Dorn im Auge. Der Verein Espanyol Barcelona steht seit Jahrzehnten im Schatten Barças und kritisiert die Bevorzugung des Rivalen. Als Antwort auf den Barça-Werbeclip veröffentlichte Espanyol ein eigenes Video: „More than two colours“. Darin wird auf die tausende kleinen Fußballvereine in Katalonien verwiesen, die sich gleichfalls für die Erhaltung der katalanischen Kultur einsetzen.

„Auch wir sind Katalanen und stolz auf unsere Identität, aber in unserem Stadion wollen wir nur über Fußball sprechen“, erklärt Vereinshistoriker David Tolo. Espanyol Barcelona wurde im Jahr 1900 als Gegenpol zum FC gegründet, den der Schweizer Hans Gamper ein Jahr zuvor ins Leben gerufen hatte. Im Gegensatz zu Barça hielt Espanyol stets Distanz zu allen katalanischen Unabhängigkeitsbestrebungen.

Rechtfertigt diese unpolitische Haltung, dem Verein Sympathien für Real Madrid oder gar krypto­faschistische Tendenzen zu unterstellen? Manche Barça-Fans sind mit solchen Urteilen schnell bei der Hand. „Sie können uns leicht verunglimpfen, denn sie sind die Sieger, die die Geschichte schreiben“, meint der Philosoph Xavier Fina, ein glühender Fan der „Weiß-Blauen“.

Der Graben zwischen den beiden Klubs verläuft entlang sozialer Schichten und politischer Einstellungen. „Barça gehört der katalanischen Bourgeoisie“, sagt der Politologe Gabriel Colomé. Die Espanyol-Anhänger dagegen – ob in Katalonien geboren oder aus anderen Regionen zugezogen – halten Distanz zum ostentativen Katalanismus von Barça. Der britische Journalist Simon Kuper, der ein Buch über Barça geschrieben hat, stellt fest: „Espanyol wurde in Barcelona zum Klub der Leute, die zu Hause nicht Katalanisch sprachen.“5

Die Katalonien-Krise von 2017 hat die Gräben zwischen den beiden Vereinen, wie in der katalanischen Gesellschaft insgesamt, noch weiter vertieft. In der heißesten Phase der Krise im Herbst 2017 waren beide Lager – Befürworter und Gegner der Unabhängigkeit – gleich stark.6

Das Camp Nou war eine Hochburg der Separatisten. Bei jedem Spiel gab es das gleiche Ritual: Nach genau 17 Minuten und 14 Sekunden begannen tausende Barça-Fans „Independencia“ zu singen und katalanische Fahnen zu schwenken. 17 und 14 war eine Anspielung auf den 11. September 1714, als Barcelona nach 14-monatiger Belagerung von den spanischen Truppen eingenommen wurde. Der neue König, der aus der französischen Bourbonendynastie stammte, beendete die jahrhundertealte Selbstverwaltung Kataloniens innerhalb des Königreichs.

Dieses Datum wurde zum Nationalfeiertag (Diada Nacional de Catalunya), der seit 1980 auch offiziell begangen wird. Am 11. September 2017 forderten hunderttausende Demonstranten auf der Plaça de Catalunya in Barcelona die Unabhängigkeit Kataloniens. Kurz darauf organisierte die Generalitat ohne Genehmigung der spanischen Regierung ein Unabhängigkeitsreferendum für den 1. Oktober. Unter den Wählenden gab es eine deutliche Mehrheit für die Sezession von Spanien, allerdings blieben viele Menschen der Abstimmung fern, da die Parteien der Unabhängigkeitsgegner zum Wahlboykott aufgerufen hatten.

Die spanische Regierung unter dem konservativen Ministerpräsidenten Mariano Rajoy erklärte das Referendum für verfassungswidrig und kündigte die Entmachtung der Regionalregierung an. Daraufhin rief das katalanische Regionalparlament am 27. Oktober die Unabhängigkeit aus.

„Im Camp Nou oder auf der Straße schreien zwar die am lautesten, die für die Sezession eintreten, aber das bedeutet noch längst nicht, dass sie wirklich in der Mehrheit sind“, meint der Politologe Colomé. Nach einer Umfrage des Instituts für Politik- und Sozialwissenschaften der Autonomen Universität Barcelona (ICPS) würden heute 53,2 Prozent der Befragten bei einem Referendum mit „Nein“ stimmen und lediglich 39 Prozent mit „Ja“. Allerdings sind drei Viertel der Befragten weiterhin der Meinung, sie hätten ein Recht, per Volksabstimmung über ihre Zukunft zu entscheiden.7

Als im Vorfeld des Referendums ein ranghohes Mitglied der Regionalregierung auf Weisung Madrids verhaftet wurde, meldete sich Barça so zu Wort: „Der FC Barcelona steht treu zu seinem historischen Engagement für die Verteidigung des Landes, der Demokratie, der Meinungsfreiheit und des Rechts auf Selbstbestimmung und verurteilt jedes Vorgehen, das die volle Ausübung dieser Rechte einschränken könnte“, stand in einer Pressemitteilung vom 20. September 2017.

Dennoch stellte sich der Klub nicht eindeutig auf die Seite der Unabhängigkeitsbefürworter. „Barça ist nicht separatistisch und kann es auch gar nicht sein, denn der Klub muss weiterhin alle Fans willkommen heißen können, auch wenn sie in dieser Frage unterschiedlicher Ansicht sind“, meint Xavier Roig, Chef des katalanischen Online­mediums Politica i prosa.

Das ist auch der Grund, warum sich die Klubführung geweigert hat, den Forderungen der Separatisten nachzugeben und das Fußballspiel abzusagen, das am Tag des umstrittenen Referendums in Camp Nou stattfinden sollte. Allerdings fand das Spiel vor leeren Tribünen statt. Während Barça im Camp Nou gegen Union Las Palmas gewann, wurden vor dem Station bei gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Ordnungskräften 100 Personen verletzt. Daraufhin kritisierte selbst die treu katalanische Zeitung Sport die Haltung des Vereins: „Eine Schande“, stand auf der Titelseite am 2. Oktober 2017, und im Text hieß es, dieses Spiel „hätte niemals stattfinden sollen“.

Was ist die Haltung der 143 000 „Socis“, der Mitglieder des FC Barcelona? Als Inhaber des Vereins wählen sie den Präsidenten und entscheiden so über die strategische Ausrichtung des Klubs. Viele von ihnen fühlen sich der katalanischen Nation eng verbunden. Aber ist eine Mehrheit von ihnen – oder zumindest die 92 Prozent, die in Katalonien leben – tatsächlich für eine Sezes­sion von Spanien?8 Die katalanischen Separatisten gehen fest davon aus, doch der Verein will keine Umfrage durchführen, um keine Zwietracht unter seinen Fans zu säen.

In der Vergangenheit hat Barça den Kampf für die Unabhängigkeit Kataloniens eindeutig unterstützt. Im Juni 2013 fand im Camp Nou ein „Konzert für die Freiheit“ statt, bei dem die Fans auf den Rängen mittels hochgehaltener Plakate den Slogan „Freedom for Catalonia“ bildeten. Drei Monate später feierten 400 000 Menschen die „Dia­da“ mit einer „Via Catalana“: Die Menschenkette von der französischen Grenze im ­Norden bis zur Provinz Tarragona im Süden verlief auch durch das mit Senyeras geschmückte Camp Nou. Der damalige Barça-Präsident Sandro Rosell orien­tierte sich „an der Mehrheit der Mitglieder“, kommentiert der Ökonom Roger Winton.9

Der von 2010 bis 2014 amtierende Rosell ist der Sohn eines früheren Barça-Sekretärs, der zu den Gründern der konservativ-nationalistischen Partei Convergencia i Unio gehört, die heute für die Unabhängigkeit eintritt. Er gilt als „Culé“, als bedingungsloser Barça-Fan. Der Ausdruck bezieht sich auf das erste Barça-Stadion von 1909, das zu klein war, um alle Fans zu fassen. Deshalb erklommen viele von ihnen die Außenmauern des Stadions, sodass von der Straße aus nur ihre Hintern („cul“) zu sehen waren. Heute werden alle Spieler, Funktionäre und Mitglieder von Barça als „Culés“ bezeichnet.

Sandro Rosell arbeitete zunächst im Management des Sportartikelherstellers Nike in Spanien und Brasilien. An der Seite von Joan Laporta, der 2003 zum ersten Mal zum Vereinspräsidenten gewählt wurde, stieg er zur Nummer zwei des Klubs auf, um sechs Jahre später selbst das Ruder zu übernehmen. Die Ära des Tandems Laporta/Rosell markiert eine Wende in der politischen Geschichte Barças.

„Laporta öffnete den Klub für separatistische Einflüsse“, kritisiert Francesc Trillas, Wirtschaftsprofessor an der Autonomen Universität Barcelona: „Seitdem fühlen wir Sezessionsgegner uns an den Rand gedrängt.“ Die Barça-Fans, die an der Einheit Spaniens festhalten, hielten dem Team zwar die Treue, auf den Tribünen des Camp Nou aber ihren Mund.

Nachdem Laporta das Präsidentenamt 2010 an Rosell übergeben hatte, gründete er die Partei „Katalanische Solidarität für die Unabhängigkeit“, die er von 2010 bis 2012 als Abgeordneter im Regionalparlament vertrat. Die Herzen vieler Barça-Fans hatte Laporta schon Ende der 1990er Jahre gewonnen, als er die Initiative „Elefant blau“ startete, mit der die Umwandlung des Klubs in eine Aktiengesellschaft verhindert werden sollte.

Während der Präsidentschaft Laportas stärkten die Anhänger des „Blauen Elefanten“ zwar den katalanischen Nationalismus innerhalb des Klub, förderten zugleich aber genau den Typ von Vermarktungsstrategie, den sie ursprünglich bekämpfen wollten. Dabei orientierten sie sich am Geschäftsmodell von Manchester United, dem Vorreiter des Fußballkapitalismus.10 Aber auch an Barças ewigem Rivalen Real Madrid: „Die Mitarbeiter von Joan Laporta waren von den Fähigkeiten des Madrider Vereinspräsidenten Perez fasziniert“, berichtet Xavier Roig.

Nicht alle Barça-Fans sind Separatisten

2006 inszenierte der gewiefte Kommunikator Lapor­ta allerdings einen „alternativen“ Deal, als er eine Vereinbarung mit dem UN-Kinderhilfswerk Unicef schloss. Zum ersten Mal seit der Gründung des Vereins prangte ein Logo auf dem Barça-Trikot, das bis dahin ohne jede Werbung ausgekommen war. Doch anstatt von Unicef Geld zu kassieren, unterstützte der Klub die UN-Organisation mit jährlich 1,5 Millionen Euro für Hilfsprojekte.

Damit war allerdings das große Tabu der Trikotwerbung gebrochen. Die finanziellen Versuchungen ließen nicht auf sich warten. Seit 2010 prangte neben dem Unicef-Emblem das Logo der ­Qatar Foundation auf den Trikots der Spieler – und millionenfach auf den teuren Repikla-Trikots der Fans. Das brachte dem Verein über drei Spielzeiten 90 Millionen Euro ein.

Später kamen noch andere Unternehmen als Trikotsponsoren hinzu, die dem Klub weitere üppige Einnahmen verschafften. Die ungezügelte Jagd nach sportlichen Erfolgen rechtfertigte offensichtlich die Aufgabe aller Prinzipien. Barça verfolgte jetzt also dieselbe Fußballvision wie sein Rivale aus der Hauptstadt. Das demonstrierte der Verein auch, als er sich 2020 zusammen mit Real und Atlético Madrid für eine euro­päische „Superliga“ der reichsten Vereine einsetzte, die allein der Profitmaximierung dienen sollte.

In den letzten Jahren hat Barça Unmengen Geld ausgegeben, um auch nach den Einbußen der Corona-Jahre und dem Wechsel des Superstars Lionel Messi zu Paris Saint-Germain seinen Status als europäischer Großklub zu halten. Im Sommer 2022 verpflichtete der Verein trotz einer Rekordverschuldung von 1,35 Milliarden Euro eine Reihe teurer Spieler. Ende April 2023 verkündete das Präsidium zudem die Aufnahme eines 1,45-Milliarden-Euro-Kredits zur Finanzierung eines gigantischen Renovierungsplans für das Camp Nou. Deshalb wird die traditionelle Barça-Spielstätte in der Saison 2023/24 geschlossen bleiben. Nach dem Umbau soll das Stadion 105 000 Menschen Platz bieten. Zudem ist ein Dach geplant, das heute zum Standard aller großen Fußballstadien gehört.

Um die teuren Verpflichtungen der vergangenen Saison finanzieren zu können, hat der Verein bereits ein Viertel seiner TV-Rechte für die nächsten 25 Jahre an die US-Investorengruppe Sixth Street verkauft, was ihm 500 Millionen Euro einbrachte. Außerdem veräußerte der Klub 49 Prozent der Produktionsfirma Barça Studios, die alle audiovisuellen Inhalte des Klubs verwaltet, an die Fanplattform Socios.com und an Orpheus Media. Letztere Firma gehört dem Filmproduzenten und Medienmogul Jaume Roures, dessen internationaler Konzern Mediapro auch auf Übertragungsrechte spezialisiert ist. Beide Unternehmen erwarben je 24,5 Prozent der Anteile für jeweils 100 Millionen Euro.

Viele fragten sich allerdings, ob Barça damit nicht sein Tafelsilber verschleudert – und damit auch noch seine Einzigartigkeit zu verlieren droht. „Der Klub gibt eine wichtige Einkommensquelle für immer auf. Kein Spieler ist es wert, die Unabhängigkeit von Barça aufs Spiel zu setzen“, sorgt sich Marc Cornet, Sprecher der Fangruppe Seguiment FCB.

Der Ökonom Ivan Cabeza sieht es gelassener: „Die veräußerten Vermögenswerte entsprechen lediglich 7 bis 9 Prozent der gesamten Einkünfte des Vereins. Außerdem haben die Mitglieder die Entscheidungen in der Vollversammlung abgesegnet.“ Dem hält Cornet entgegen: „Das Eigen­tümer­modell von Barça ist bedroht. Der Klub ist jetzt der Willkür der Banken ausgeliefert. Ein findiger Investor könnte sich diese Situation zunutze machen.“

In der vergangenen Saison konnte Barça zwar erstmals seit vier Jahren wieder die spanische Meisterschaft gewinnen. Doch in der finanziell ungemein wichtigen Champions League schied die Mannschaft schon in der Gruppenphase aus. Der gewöhnlich gut informierte El-País-Journalist Ramon Besa schrieb im Juni sogar, Barça sei „technisch bankrott“.11

Cornet kritisiert zudem die Intransparenz bei einer wichtigen Entscheidung, die beispielhaft für die rasch fortschreitende Vermarktung des Klubs steht. Der hat seit einem Jahr einen neuen Hauptsponsor, den Musik-Streamingdienst Spotify. Dessen Logo prangt seit der vergangenen Saison nicht nur auf den blau-roten Trikots. Erstmals hat Barça auch den Beinamen seines Sta­dions verkauft. Der Verwaltungsrat verweigert die Auskunft, wie viel das schwedische Unternehmen für diesen Deal bezahlt hat. Zur Begründung beruft er sich auf die vereinbarte Vertraulichkeitsklausel.

„Die große Mehrheit der ‚Socis‘ interessiert sich relativ wenig für Finanzfragen. Sie wollen vor allem, dass ihre Mannschaft gewinnt. Von den 4000 Leuten, die jeweils per Los ausgewählt werden, um an den Vollversammlungen teilzunehmen, erscheint tatsächlich nicht mal ein Viertel“, erklärt Roures. Bei der Präsidentenwahl dürfen dagegen alle Mitglieder abstimmen.

Zurück zum „Clásico“ vom 19. März. Vor dem Anstoß und in der Halbzeitpause läuft das Lied „Despecha“ der katalanischen Sängerin Rosalía in Dauerschleife. Auf der Barça-Website steht der Hinweis: „2022 war Rosalía die meistgehörte Künstlerin“ in Spanien – auf dem Streamingdienst des neuen Hauptsponsors.

Bei diesem „Clásico“ tragen die Barça-Spieler ein spezielles Trikot mit einem Logo, das für das neueste Rosalía-Album wirbt. Bereits vor dem Match berichteten die barçatreuen Zeitungen Sport und El Mundo deportivo über den Verkauf der Sonderedition: Die erste Kollek­tion von 1899 Exemplaren wurde zum Stückpreis von 399,99 Euro verkauft. Die zweite limitierte Auflage von nur 22 Trikots ging für schlappe 1999,99 Euro über den Tisch.

Wer an jenem Märzsonntag den „Clásico“ von der Pressetribüne aus verfolgen durfte, erhielt eine Textnachricht, die eher einer Anordnung glich: Man solle auf keinen Fall den Namen des Streamingdienstes in der „korrekten Stadionbezeichnung“ weglassen. Was zahlreiche Barça-Fans mittlerweile empfinden, artikuliert Wirtschaftsprofessor Francesc Trillas mit dem Wortspiel: „Früher war Barça mehr als ein Klub, heute ist er lediglich ein Klub mehr.“

1 Siehe Manuel Vásquez Montalbán, „Die große Angst vor den Katalanen“, LMd, August 1996.

2 „El Govern de la Generalitat pide al Madrid ‚que retire su video manipulador‘“, El Mundo deportivo, 18. April 2023.

3 Benoît Pellistrandi, „Le Labyrinthe catalan“, Paris (Desclée de Brouwer) 2019.

4 Siehe Gabriel Colomé, „Conflits et identités en Catalogne“, in: Manière de voir, Nr. 38, LMd (Paris) Mai/Juni 1998.

5 Simon Kuper, „La complejidad del Barça. El ascenso y la caída del club que construyó el futbol moderno“, Barcelona (Córner) 2022.

6 Siehe Jose Rico, „El apoyo a la independencia de Catalunya baja del 40 %, según una encuesta del ICPS“, El Periódico, Barcelona, 13. Januar 2023.

7 Siehe Jose Rico, „El apoyo a la independencia de Catalunya …“ (Anm. 6).

8 Annual Report 2021/22.

9 Autor von „El Barça davant la crisi del segle“, Barcelona (Destino) 2021.

10 Siehe Niels Kadritzke, „Wo das Geld spielt“, LMd, Dezember 2012.

11 Tom Sanderson, „FC Barcelona Declared ‚Technically Bankrupt’ By Leading Catalan Journalist“, Forbes, 10. Juni 2023.

Aus dem Französischen von Sabine Jainski

David Garcia ist Journalist, Verfasser von „Histoire secrète de l’OM“, Paris (Flammarion) 2013; und Co-Autor von „JO 2024, miracle ou mirage“, Paris (Libre & Solidaire) 2018.

Klub der Wirtschaftselite

„Wer ‚Directiu‘ werden will, muss reich sein“, sagt Wirtschaftsprofessor Francesc Trillas. Alle sechs Jahre sind die Mitglieder des FC Barcelona, die „Socis“, aufgerufen, ihren Vereinspräsidenten und den Verwaltungsrat zu wählen, der aus 18 „Directius“ (Direktoren) besteht. Die Directius sind ehrenamtlich tätig, müssen aber für finanzielle Verluste des Klubs geradestehen, wenn anderen Einnahmequellen ausfallen.

Diese persönliche Haftungspflicht ist die Erklärung dafür, dass sämtliche Verwaltungsratsmitglieder aus betuchten Kreisen kommen, die besten Universitäten Barcelonas besucht haben und als Unternehmer oder Anwälte tätig sind. Mit Ausnahme eines Vizepräsidenten sind sie alle in Katalonien geboren. „Sie stammen aus Familien, die miteinander verflochten sind, und kennen sich schon seit Kindertagen“, schreibt der britische Journalist Simon Kuper.

Wenn die Führung des Klubs in den Händen eines derart eng verbandelten, exklusiven Zirkels liegt, kann das für die Interessen des Vereins durchaus schädlich sein. Das zeigte sich etwa bei überzogenen Ausgaben für Spielergehälter und Ablösesummen unter Vereinspräsident Josep Bartomeu (2014–2020), der wenig Ahnung von solchen Geschäften hatte.

„Präsident Laporta hat gesagt, Barça sei wie ein Fami­lien­unternehmen. Ich teile diese Ansicht nicht, denn wenn der Klub wieder sein früheres Prestige zurückgewinnen soll, muss er professionell geführt werden“, kommentierte Victor Font, der bei der Präsidentenwahl 2021 gegen Joan Laporta antrat.

Allerdings ist der Clancharakter bereits im Vereinsstatut angelegt. Jeder Barça-Präsident muss zu Beginn seiner Amtszeit eine Garantiesumme in Höhe von 15 Prozent des Jahreshaushalts hinterlegen, zuletzt waren das 121,5 Millionen Euro. Laporta konnte das Geld erst kurz vor dem Stichtag zusammenkratzen. 75 Millionen besorgte er sich bei José Elias, Chef eines Unternehmens für erneuerbare Energien namens Audax Renovables. Elias gewann damit Einfluss auf die mächtigste katalanische Institution neben der Regionalregierung.

Weitere 30 Millionen Euro steuerte Jaume Roures bei, der dem Medien- und Sportmarketing-Konzern Mediapro vorsteht. Über die Oligarchie im Verwaltungsrat möchte Roures nichts Schlechtes sagen. Er hält dieses Garantiesystem vielmehr für notwendig, „weil es die Vereinsführung in die Verantwortung nimmt“.

Die Wirtschaftselite Kataloniens stellte die Führung des FC Barcelona in erstaunlicher Kontinuität – von der Franco-Diktatur bis in die Demokratie. „Von 1946 bis 1968 standen große Baumwollfabrikanten an der Spitze“, sagt der Ökonom Roger Vinton. Der heutige Präsident Laporta stammt als Sohn eines Kinderarztes zwar nicht aus reicher Familie. Aber er hatte die finanzielle Unterstützung seines Schwiegervaters Juan Echevarría Puig, der früher der spanischen Nissan-Tochter vorstand. Dafür machte Laporta seinen Schwager zum Chef der Sicherheitsabteilung des Klubs, musste sich aber wieder von ihm trennen, als bekannt wurde, dass dieser Mitglied der „Nationalstiftung Francisco Franco“ war.

⇥D. G.

Le Monde diplomatique vom 10.08.2023, von David Garcia