07.09.2023

Erkaufte Freiheit

zurück

Erkaufte Freiheit

In den USA blüht das Geschäft mit Gerichtskautionen

von Charlotte Recoquillon

Chicago, 5. März 1940. 50 000 Dollar Kaution für den Glücksspielbaron picture alliance/ap
Audio: Artikel vorlesen lassen

Eine Szene wie diese kennt man aus unzähligen amerikanischen Filmen: „Ich gewähre Ihnen die Freiheit auf Kaution. Die Höhe wird auf 10 000 Dollar festgesetzt“, sagt der Richter zu der Flugbegleiterin Jackie Brown in dem gleichnamigen Film von Quentin Tarantino (1997), nachdem sie mit einer Tasche voller Geld und einem Tütchen Kokain erwischt wurde. Dem Publikum sind solche Szenen so vertraut, dass sich niemand mehr fragt, was es eigentlich mit dieser stattlichen Summe auf sich hat, die da ein Richter mit Hammer und schwarzer Robe festsetzt.

Auch in der realen Welt ist die Hinterlegung einer Kaution (Sicherheitsleistung) ein Element der Strafprozessordnung. Deren Handhabung in den USA vermehrt die ohnehin schon existierende Ungleichheit vor der Justiz. Und für manche ist das Kautionssystem ein lukratives Geschäft.

Im Prinzip soll die Kaution eigentlich nur gewährleisten, dass Beschuldigte auch tatsächlich zum Prozess erscheinen. Ist also das Gericht der Ansicht, dass keine Wiederholungsgefahr besteht, können Angeklagte ohne Auflagen oder gegen eine Kaution auf freien Fuß gesetzt werden. Deren Höhe hängt von der Art des Verstoßes und dem Vermögen des oder der Angeklagten ab.

Im derzeit wohl bekanntesten Fall der US-Justiz, dem jüngsten Verfahren gegen Donald Trump, geht es um versuchten Wahlbetrug: das zuständige Gericht im Bundesstaat Georgia hat die Kaution für den Ex-Präsidenten auf 200 000 US-Dollar festgesetzt. Wenn das Verfahren abgeschlossen ist und der Angeklagte bei allen Prozessterminen anwesend war, muss die gesamte Summe – und zwar unabhängig vom Urteil – erstattet werden.

In der Praxis haben die Richter in den USA jedoch einen großen Spielraum, wie sie mit dem Geld verfahren: Sie können damit die Opfer entschädigen oder die Kosten des Verfahrens einbehalten. Daher wird nur selten die gesamte Kaution erstattet.

Der 8. Zusatzartikel der US-Verfassung, die Bill of Rights, verbietet „unverhältnismäßig hohe Kautionen“. Tatsächlich sind die Summen aber meistens zu hoch. So kommt es, dass mittellose Angeklagte meistens bis Prozessbeginn in Untersuchungshaft bleiben müssen – ungeachtet der Unschuldsvermutung und der Schwere des ihnen zur Last gelegten Vergehens.

Das kann einige Tage oder Wochen dauern; manchmal vergehen aber auch Monate, oder sogar Jahre, wenn sich ein Verfahren hinzieht. Im Bundesstaat New York warteten Angeklagte durchschnittlich 147 Tage im Gefängnis auf ihre Verhandlung, bis eine Reform vom April 2019 schließlich mittellosen Angeklagten in Bagatellfällen die Untersuchungshaft ersparte.1

Laut dem Thinktank Prison Policy Initiative sitzen in den Vereinigten Staaten (im Jahr 2023) 1,9 Mil­lio­nen Menschen im Gefängnis2 , davon 427 000 in Untersuchungshaft, weil sie ihre Kaution nicht zahlen konnten. In Kalifornien, dem Staat mit den prozentual meisten Inhaftierten, sind drei Viertel aller Inhaftierten nicht rechtskräftig verurteilt.3

Profibürgen und Kopfgeldjäger

Seit 1980 hat sich die Anzahl der Untersuchungshäftlinge in den USA vervierfacht. Diese Angeklagten werden häufiger schuldig gesprochen als diejenigen, die als freie Menschen vor das Gericht treten, und sie erhalten schwerere Strafen, zumal wenn sie sich im Verfahren schuldig bekennen.4

Dieses System führt darüber hinaus zu Diskriminierung. Für vergleichbare Vergehen werden von Afro­ame­ri­ka­ne­r:in­nen 35 Prozent höhere Kautionen verlangt als von Weißen. Bei Hispanics sind es 19 Prozent mehr.5

Gewalterfahrung, soziale Stigmatisierung, posttraumatische Belastungsstörungen, Arbeitslosigkeit, Entzug des Sorgerechts für die eigenen Kinder, Verlust des Aufenthaltstitels: Die Folgen einer Haft sind bekanntlich katastrophal. Deshalb versucht natürlich jede und jeder möglichst die Kaution zu stellen, um sich zu Hause auf den Prozess vorbereiten zu können.

Wer nicht über die nötigen Mittel verfügt – und das trifft auf die meisten Angeklagten zu –, hat nur selten das Glück, dass ein Wohltäter einspringt. Solche wie der Schwarze Unternehmer Arthur George Gaston, der 1963 die 5000 Dollar Kaution für Martin Luther King und Ralph Abernathy in Birmingham bezahlt hat, als die beiden zusammen mit 50 weiteren friedlichen Demonstrierenden festgenommen wurden. Auch Beyoncé und Jay-Z übernahmen 2015 die Kaution für inhaftierte De­mons­tran­t:­in­nen, die gegen Polizeigewalt in Baltimore protestiert hatten.

Dergleichen Fälle sind allerdings extrem selten. Mangels großzügiger Spenden wenden sich mittellose Angeklagte daher in der Regel an Agenturen, sogenannte bail bondsmen, die auf die Bürgschaft für Gerichtskautionen spezialisiert sind.

Gegen eine festgelegte Gebühr, üblicherweise 10 bis 15 Prozent der Kau­tion, treten die Bondsmen vor Gericht als Bürgen auf und ermöglichen den Angeklagten, bis zu ihrem Prozess in Freiheit zu bleiben. Dabei gilt: je schwerer der Vorwurf, desto interessanter der Kunde. Die Kaution wird fällig, wenn der Angeklagte nicht vor Gericht erscheint. Für dieses Risiko sind die Bonds­men wiederum bei Finanzdienstleistern wie Fairfax Financial versichert.

Bail Bondsmen sind längst unverzichtbar geworden. Laut der Prison Policy Initiative liegt der Medianwert der Kautionen mittlerweile bei 10 000 Dollar – dabei verfügen die betroffenen Frauen und Männer in der Alterskohorte zwischen 23 bis 39 Jahren im Schnitt nur über ein Jahreseinkommen von 11 000 beziehungsweise 15 000 Dollar. Sie können also unmöglich aus eigenen Mitteln so große Summen aufbringen.

Mit dieser Notlage machen die etwa 15 000 Bail-Bonds-Agenturen in den USA ein Bombengeschäft. Jedes Jahr treiben sie etwa 15 Milliarden Dollar bei den Ärmsten im Land ein, darunter überproportional viele Angehörige ethnischer Minderheiten, die bekanntlich häufiger ins Visier von Polizei und Justiz geraten.

Allein in Los Angeles, wo 83 Prozent der Gefängnisinsassen Schwarze und Hispanics sind, beliefen sich die Gerichtskautionen 2017 auf fast 3,6 Milliarden Dollar. In diesem Jahr haben die ortsansässigen Agenturen für ihren Service insgesamt 41 Millionen Dollar in Rechnung gestellt.6

Tatsächlich müssen die Bondsmen nur selten für ihre Kunden einspringen, selbst wenn diese nicht vor Gericht erscheinen. Denn die Fristen sind oft so lang, dass den Beschuldigten am Ende doch noch der Prozess gemacht werden kann, entweder weil sie sich aus freien Stücken gestellt haben oder weil sie von der Polizei festgenommen wurden.

Wenn die Bondsmen allerdings eine Art Kopfgeldjäger einschalten oder andere Schritte unternehmen, um ihre Kunden zum Erscheinen vor Gericht zu zwingen, werden alle dabei anfallenden Kosten den Familien der Angeklagten in Rechnung gestellt. Bei Zahlungsverzug drohen exorbitant hohe Strafgebühren. Und wenn sich das Verfahren in die Länge zieht, fallen jährlich automatisch erneut Kosten an.

Der Bail-Bonds-Markt ist hart umkämpft und ungeregelt. Jenseits von Recht und Gesetz wird die Kun­dschaft überwacht, bedroht und misshandelt. In New York wurde 2021 die Agentur Libre angezeigt, von einem Ausländer, der drei Jahre lang gezwungen worden war, ein elektronisches Armband zu tragen, für das ihm monatlich 420 Dollar berechnet wurden. Am Ende hat der Mann insgesamt 17 000 Dollar an die Agentur gezahlt, während die ursprüngliche Kaution 10 000 Dollar betrug.

Manche Agenturen schrecken auch vor emotionaler Erpressung nicht zurück. Sie profitieren von den Ängsten und Nöten, die eine Gefängnishaft in den Familien auslöst. Insbesondere die Frauen, die Mütter und Part­ne­rin­nen werden zum Ziel, weil sie als finanziell zuverlässiger und loyaler gelten.

Der Soziologe Joshua Page arbeitete im Rahmen seiner Feldforschung an der Universität von Minnesota 18 Monate in einer Bail-Bond-Agentur.7 Er stellte dabei fest, dass Women of Color prinzipiell höhere Tarife in Rechnung gestellt wurden als weißen Frauen; auch die Zahlungskonditionen waren viel strenger und die verlangten Gegenleistungen härter.

In vielen Bundesstaaten versucht man allerdings schon, dem ausufernden Geschäft mit kommerziellen Bürgschaften einen Riegel vorzuschieben. In Philadelphia etwa wird bei geringfügigen Delikten keine Kaution mehr verlangt, im Bundesstaat New Jersey wird nur bei Gefahr im Verzug und Fluchtgefahr und weniger wegen Zahlungsunfähigkeit eine Untersuchungshaft angeordnet, und im Bundesstaat New York sollen Gerichte alternative Lösungen anordnen wie Freilassungen unter Aufsicht.

Drei Bundesstaaten (Illinois, Wisconsin und Kentucky) haben mittlerweile per Gesetz kommerzielle Bail-Bonds-Agenturen verboten; in Oregon und Massachusetts werden kommer­ziel­le Bürgschaften durch die Gerichte bereits effektiv bekämpft.8

In der Bewegung Black Lives Matter (BLM), der sich rund 50 Organisationen angeschlossen haben, spielt das Thema Gerichtskautionen eine zentrale Rolle. Das Projekt „The Na­tio­nal Bailout Collective“, das BLM unterstützt, sammelt beispielsweise gezielt Spenden für die Freilassung von so­zial benachteiligten Untersuchungshäftlingen. Mit dem nach der Urteilsverkündung zurückerstatteten Geld wird in der Regel die nächste Kaution bezahlt.

Außerdem knöpfen sich die beiden Initiativen Color of Change und American Civil Liberties Union (Aclu) die Versicherungskonzerne vor, die mit den Bondsmen zusammenarbeiten. Nachdem sich die Unternehmen Tokio Marine, Randall & Quilter und Endeavour Capital schon 2020 aus diesem Geschäftsfeld zurückgezogen haben, richtet sich die neue Kampagne der Initiativen gegen die kanadische Holding Fairfax Financial, die mit ihrem Quasimonopol 2022 einen Bruttoumsatz von insgesamt über 27 Milliarden Dollar gemacht hat.9

Laut der Ratingagentur AM Best lag die Bruttogewinnquote im Geschäft mit Kautionsversicherungen bei fast 83 Prozent, gegenüber 33 Prozent bei Gebäude- oder Kfz-Versicherungen.10 Kein Wunder, dass die Branche gegen die laufenden Reformbemühungen mobilmacht und Millionen in die Werbung steckt, Lobbyisten finanziert und bestimmte Wahlkampagnen unterstützt.

Die Reformen, die bislang auf den Weg gebracht wurden, tragen jedoch schon Früchte: Von 2015 bis 2022 ist in Houston, Texas, die Anzahl der Untersuchungshäftlinge, die innerhalb von 24 Stunden nach einem geringfügigen Vergehen wieder freigelassen wurden, um 13 Prozent gestiegen; die Rückfallquote von Straffälligen ist sogar gesunken. Und im Bundesstaat New York ist die Gesamtzahl der Untersuchungshäftlinge seit der oben genannten Reform von 2019 um 15 Prozent zurückgegangen.11

Während die Black-Lives-Matter-Bewegung auf die Abschaffung des Systems drängt, werden weiter Spenden für Kautionen gesammelt – mittlerweile müssen allerdings immer öfter auch die eigenen Aktivist:­in­nen freigekauft werden.

Nachdem zum Beispiel in Atlanta in den vergangenen Monaten nicht nur viele „Stop Cop City“-De­mons­tran­t:­in­nen verhaftet wurden, die gegen ein geplantes Polizei-Trainingszentrum im South River Forest protestiert haben, wurden auch noch diejenigen festgesetzt, die für deren Kaution Spenden sammelten.

1 Peter Mayer, „Justice, safety and prosperity: New York’s bail reform success story“, FWD.us, 27. Februar 2023.

2 Wendy Sawyer und Peter Wagner, „Mass incarceration: The whole pie 2023“, Prison Policy Initiative, 14. März 2023.

3 „California: The state of incarceration, explained“, Vera Institute of Justice, 7. März 2023.

4 Joshua Page, Victoria Piehowski und Joe Soss, „A debt of care: Commercial bail and the gendered logic of criminal justice predation“ (PDF), The Russell Sage Foundation Journal of the Social Sciences, New York, Februar 2019.

5 Adureh Onyekwere, „How cash bail works“, Brennan Center for Justice, 10. Dezember 2019; zuletzt aktualisiert am 24. Februar 2019.

6 „Million dollar hoods project“, University of California in Los Angeles, 2018.

7 Joshua Page, Victoria Piehowski und Joe Soss, „A debt of care …“ (siehe Anmerkung 4).

8 Siehe Allie Preston, „Fact Sheet: Profit Over People: Inside the Commercial Bail Bond Industry Fueling America’s Cash Bail Systems“, Center for American Progress (CAP), 6. Juli 2022.

9 „Financial results for the year ended December 31, 2022“, Pressemitteilung, 16. Februar 2023, fairfax.ca.

10 Alwyn Scott und Suzanne Barlyn, „US bail-bond insurers spend big to keep defendants paying“, Reuters, 26. März 2021.

11 Siehe Paul Heaton, „The effect of misdemeanor bail reform“, Quattrone Center for the Fair Administration of Justice, 16. August 2022.

Aus dem Französischen von Birgit Bayerlein

Charlotte Recoquillon ist Journalistin.

Le Monde diplomatique vom 07.09.2023, von Charlotte Recoquillon