Wahlkampfthema Ukraine
Im kommenden Januar beginnen die republikanischen Vorwahlen im Rennen um die US-Präsidentschaft. Zum ersten Mal spielt ein außenpolitisches Thema dabei eine zentrale Rolle: An der Militärhilfe für die Ukraine scheiden sich in der Partei die Geister.
von Serge Halimi
Geopolitische Themen spielten in den US-Präsidentschaftswahlen der vergangenen Jahrzehnte so gut wie keine Rolle. So hatte etwa der Sieg über den Irak im Golfkrieg von 1991 unter Führung der USA keinen Einfluss auf den Ausgang der Wahlen ein Jahr später, als George H. W. Bush von Bill Clinton geschlagen wurde, dem bis dahin weithin unbekannten und außenpolitisch damals noch völlig unbeleckten demokratischen Gouverneur aus Arkansas.
Heute jedoch nimmt der Krieg in der Ukraine vor allem in den Reden der republikanischen Präsidentschaftskandidaten einen großen Raum ein – obwohl nicht ein einziger US-Soldat direkt involviert ist. Im demokratischen Lager ist dies weniger der Fall. Erstens, weil Präsident Biden fest damit zu rechnen scheint, dass ihn seine Partei wieder nominiert, und zweitens, weil man sich hier ziemlich einig darüber ist, dass Präsident Selenski die volle Unterstützung der USA braucht.
Die ukrainische Führung geht davon aus, dass das Schicksal der Ukraine womöglich davon abhängt, ob Joe Biden wiedergewählt wird oder ein Republikaner gewinnt, und wenn ja, welcher: Donald Trump und sein ehemaliger Vize und nunmehriger Konkurrent Mike Pence vertreten nämlich in der Ukrainefrage von Grund auf verschiedene Positionen.
Die Differenzen traten am 14. Juli offen zutage, als auf dem evangelikalen Family-Leadership-Gipfel in Des Moines (Iowa) der berüchtigte ehemalige Fox-News-Moderator Tucker Carlson sechs republikanische Präsidentschaftsanwärter interviewen sollte. Carlson, der Selenski als „Diktator“ bezeichnet und der Meinung ist, dass der Krieg weitgehend von den USA verschuldet wurde, forderte hier zum wiederholten Mal, dass die USA die Ukraine nicht mehr unterstützen sollten.
Als Pence, der kurz zuvor in Kiew gewesen war, darüber klagte, dass die im Januar versprochenen „33 Abrams“ immer noch nicht in der Ukraine angekommen seien, bellte Carlson unter dem begeisterten Beifall des Publikums: „Ein Moment mal, Sie wollen Präsident werden und sind verzweifelt darüber, dass die Ukrainer nicht genügend amerikanische Panzer haben?“1 Er solle sich doch mal in seinem eigenen Land umschauen: „Die Wirtschaft liegt darnieder, die Selbstmordrate ist sprunghaft gestiegen, und dennoch ist Ihre einzige Sorge, dass die Ukrainer nicht genügend Panzer haben?“
Das Schlagwort „America first“ wird häufig Trump zugeschrieben, der 2016 unter anderem mit seiner Behauptung, Kriege und die Verlagerung der Industrieproduktion ins Ausland hätten in den USA ein „Gemetzel“ angerichtet, erfolgreich Wahlkampf gegen Hillary Clinton gemacht hat.
Tatsächlich war Trump nicht der erste Republikaner, der den Nationalismus dem Imperialismus vorgezogen hat. Bereits im September 1991, kurz vor der Auflösung der Sowjetunion, schrieb Pat Buchanan, der schon Präsident Richard Nixon beraten hatte und unter Ronald Reagan Kommunikationsdirektor im Weißen Haus gewesen war, eine Kolumne für die Washington Post, in der fast Wort für Wort vorweggenommen wird, was Carlson kürzlich vom Stapel gelassen hat:
„Die Amerikaner müssen sich erst einmal grundsätzliche Fragen stellen, bevor sie in die Gebiete anderer Leute eindringen und sich in die Streitigkeiten anderer Leute einmischen: Warum ist das unser Problem? Warum verteidigen wir 46 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg Deutschland und Japan, während die sich unsere Märkte unter den Nagel reißen? Warum müssen wir den Persischen Golf befrieden, während Frauen, die ihre Hunde im Central Park ausführen, von Pennern ermordet werden? ‚America first‘ ist in der Vorstellung der Gründerväter verwurzelt, dass Amerikaner nur dann ins Ausland geschickt werden sollten, um zu kämpfen, wenn Amerikaner – oder ihre ureigenen Interessen – in Gefahr sind. Unser Krieg, der Kalte Krieg, ist vorbei. Es ist Zeit, dass Amerika nach Hause kommt.“2
Buchanan forderte, dass die USA jegliche Militärhilfen aus dem Kalten Krieg aufkündigen sollten. Nachdem er 1992 bei den republikanischen Vorwahlen dem Amtsinhaber George Bush, dem „Sieger des Kalten Kriegs“, mit nur 23 Prozent der Stimmen unterlag, trug er nach Kräften zu dessen Niederlage bei den anschließenden Präsidentschaftswahlen bei.
Nach 9/11 dominierten allerdings die neokonservativen Verfechter des „Kriegs gegen den Terror“ die ideologische Bühne. Doch das Scheitern der US-Armee in Afghanistan und im Irak, die fortdauernde Standortverlagerung von Unternehmen ins Ausland und der allgemeine Vertrauensverlust in die Eliten verliehen dem konservativen Anti-Interventionismus und Isolationismus wieder Auftrieb.3 Barack Obama nutzte die sich daraus ergebende Chance, Hillary Clinton, eine Symbolfigur des arroganten Establishments, bei den Vorwahlen der Demokraten 2008 zu schlagen. Da Clinton acht Jahre später daraus immer noch nichts gelernt hatte, gewann dann Donald Trump das nächste Rennen.
Die Wahl Trumps bedeutete aber nicht automatisch, dass er sich auch ideologisch durchsetzen konnte, nicht einmal innerhalb seiner Partei. Auch wenn er die Neokonservativen an die Wand gedrückt hat, sind sie nach wie vor mächtig. Unterstützt werden sie von Medien, die sich nach dem Reagan-Imperialismus zurücksehnen – insbesondere Fox News und das Wall Street Journal, von der Mehrheit der republikanischen Kongressabgeordneten, von Thinktanks in Washington und von den Großspendern der Partei.
Trump selbst hat mit seinem impulsiven Größenwahn und seiner Inkompetenz das Problem noch vergrößert. Er holte die Falken in seine Regierung, die ihm einerseits schmeichelten, andererseits seine angekündigte Außenpolitik torpedierten. Sein Vizepräsident, seine Außen- und Verteidigungsminister, seine Sicherheitsberater und seine Botschafterin bei den Vereinten Nationen waren durch die Bank hartgesottene Neokonservative.
Sein Sicherheitsberater John Bolton war der reinste Berserker. Trump scherzte, dass er diesen „Idioten“, diesen „Irren“ immer mitnehme, wenn er einen ausländischen Staatschef einschüchtern wollte, um ihm Zugeständnisse abzuringen. Außerhalb des Oval Office konnte der militärisch-industrielle Komplex im Weißen Haus nach Belieben schalten und walten.
Das Ergebnis war, dass Trump mehrere Bombenangriffe auf Syrien befahl – bei denen US-Truppen übrigens dutzende Milizionäre der Wagner-Gruppe töteten (siehe nebenstehenden Beitrag) – und 2018 im Zusammenhang mit der Pipeline Nord Stream 2 Sanktionen gegen Moskau verhängte. Eine mächtige Fraktion der Republikaner, die ihn zu diesem Schritt genötigt hatten, sorgten für eine überwältigende Zustimmung im Kongress. 2019 lieferte Trump auch noch Javelin-Panzerabwehrwaffen an die Ukraine und prahlte sogar damit, dass kein anderer US-Präsident jemals „härter gegenüber Russland“ gewesen sei: „Ich gab der Ukraine Waffen, Obama gab ihnen Kissen.“4
Schon als seine Regierung im Dezember 2017 die neue Nationale Sicherheitsstrategie bekanntgab, schrieb die New York Times: „Vieles in diesem Bericht hätte auch von seinen Vorgängern stammen können.“ Diese Kontinuität könnte bei einer Wiederwahl Trumps allerdings infrage stehen. Im Wahlkampf 2016 spielte die Ukraine allenfalls eine periphere Rolle. Jetzt aber steht sie im Mittelpunkt eines sich verschärfenden Konflikts zwischen hochgerüsteten Mächten, als Kostenfaktor mit Ausgaben von rund 80 Milliarden US-Dollar und mithin als ein Wahlkampfthema, das weit über den Bereich der Außenpolitik hinausgeht.
Wie die meisten in seiner Partei ist Trump wütend auf diejenigen, die ihn einer Verschwörung mit dem Kreml beschuldigt haben. Seiner Meinung nach wurde er in seiner Amtsausübung durch Absprachen von CIA und FBI, den Massenmedien und der Demokratischen Partei massiv behindert. Die hätten die Ukraine zu ihrem zentralen Anliegen gemacht und ihn damit ihn in Verlegenheit bringen und unter Zugzwang setzen wollen.
Er wird gewiss nicht vergessen, dass der Anlass für den ersten Impeachment-Versuch gegen ihn 2019 ausgerechnet ein Telefonat mit Präsident Selenski war, dessen Inhalt er hatte geheim halten wollen. Darin hatte er offenkundig einen Deal vorgeschlagen: belastende Enthüllungen über Hunter Biden als Bedingung für die Unterstützung der USA für die Ukraine.
Nach Überzeugung der Trump-Anhänger hat Oberstleutnant Alexander Vindman, ein US-Amerikaner mit ukrainischen Wurzeln, der damals beim Nationalen Sicherheitsrat für Auslandstelefonate zuständig war, den Inhalt an die Demokraten durchgestochen. Für Trump wie für viele Republikaner liefert diese Affäre nun einen weiteren Grund, die Belange der Ukraine hintanzustellen.
In dieser Frage ist Trumps wichtigster Konkurrent Ron DeSantis weitgehend mit ihm einig: Der radikal-konservative Gouverneur von Florida betrachtet den gegenwärtigen Krieg nämlich als einen „Territorialkonflikt“ zwischen Russland und der Ukraine, der für die USA nicht von „vitalem nationalen Interesse“ sei und keineswegs vergleichbar mit der „Eindämmung Chinas“ oder dem „Schutz der US-Grenzen vor Migranten“.
Die republikanischen Nostalgiker, die dem Imperialismus à la Reagan und Bush senior nachtrauern, unterstützen die Ukraine auch nicht aus Solidarität mit der leidenden Bevölkerung. Nikki Haley, einst UN-Botschafterin unter Trump, glaubt, dass „China verliert, wenn die Ukraine gewinnt“, und Senator Tim Scott aus South Carolina ist überzeugt, dass die russische Armee in der Ukraine geschwächt wird, was mehr Sicherheit für die USA bedeute.5
Am Tag, als er das Weiße Haus verließ, erklärte Trump, der immerhin Militärschläge gegen Syrien und die Ermordung des iranischen Generals Qasem Soleimani angeordnet hat, er sei stolz darauf, „der erste Präsident seit Jahrzehnten gewesen zu sein, der keine neuen Kriege angezettelt hat“. Seine Wählerbasis dankt es ihm. Immerhin haben Millionen US-Veteranen der Kriege in Afghanistan und im Irak deren Sinnlosigkeit am eigenen Leib erfahren müssen.
Unter den gewählten Volksvertretern, die dem gigantischen Militärbudget von 877 Milliarden Dollar allein in diesem Jahr mit großer Mehrheit zustimmten (und von denen nicht wenige mit großzügigen Spenden von Rüstungsunternehmen bedacht werden), sticht der republikanische Senator Lindsay Graham aus South Carolina besonders hervor. Seit 2022 ist er bereits dreimal nach Kiew gereist, und er würde das ohnehin massive US-Engagement zugunsten der Ukraine gern noch ausweiten.
Gleichzeitig unterstützt er jedoch aus opportunistischen Erwägungen die Kandidatur von Trump. Am 2. Juli zahlte er den Preis für sein politisches Doppelspiel: Als er in seinem eigenen Bundesstaat auf einer riesigen Kundgebung zur Unterstützung des Ex-Präsidenten auftrat, wurde er ausgebuht. Dies ist ein weiteres Indiz dafür, dass inzwischen die Mehrheit in der republikanischen Partei nicht für mehr Unterstützung der Ukraine zu haben ist. Im März 2022 waren nur 9 Prozent dagegen.
Im demokratischen Lager hingegen stärkt Trumps Isolationismus die Befürworter der Ukraine-Hilfe. Falls der Krieg im nächsten Jahr weitergeht, wird er im Präsidentschaftswahlkampf ein wichtiges Thema sein. Und es sieht ganz danach aus, dass es noch einige überraschende Wendungen und Frontwechsel in dieser außenpolitischen Debatte geben wird.
3 Siehe Benoît Bréville, „Die Obama-Doktrin“, LMd, Juni 2016.
4 Interview auf Fox News, 16. Oktober 2018.
5 Interview auf NBC, 23.Mai 2023.
Aus dem Französischen von Nicola Liebert