Von Tottenham bis Nanterre
Bei den Unruhen in englischen Städten im Sommer 2011 gingen Polizei und Justiz mit aller Härte gegen die meist jugendlichen Randalierer vor. Im Juni 2023 begingen die französischen Behörden den gleichen Fehler.
von Tristan de Bourbon-Parme
Der Verteidiger setzt zum Plädoyer an: „Mein Mandant studiert Ingenieurwesen, in zehn Tagen findet sein Examen statt. Er ist nicht vorbestraft und bereit, eine elektronische Fußfessel zu tragen. Er würde jede Bedingung akzeptieren, um an den Prüfungen teilnehmen zu können.“ Als das Gericht die nächste Sache aufruft, klingt der Anwalt nicht anders: „Mein Mandant schämt sich. Er möchte das geschehene Unrecht durch gemeinnützige Arbeit wiedergutmachen. Er arbeitet in einem Kaufhaus und ist im zweiten Studienjahr an der Universität eingeschrieben. Er möchte weiter studieren.“
Doch das Gericht lehnt die Anträge ab. Die Untersuchungshaft wird in beiden Fällen verlängert. Einer der beiden Männer lässt den Kopf sinken, sein Blick ist leer. Seine Mutter fährt sich mit den Händen durchs Gesicht, um nicht in Tränen auszubrechen. „Sie wollen ein Exempel statuieren“, empört sich der Vater des anderen Angeklagten, „sie gehen mit größter Härte vor.“
Man könnte annehmen, diese Szene spiele sich vor einem französischen Gericht im Frühsommer 2023 ab. Die Beschuldigten: Randalierer aus der Banlieue. Doch die Szene ereignete sich 2011 in England, wo damals beschleunigte Strafverfahren wegen „Störung der öffentlichen Ordnung“ durchgeführt wurden.
Am 4. August 2011 erschoss die Polizei den 29-jährigen Mark Duggan im Nordlondoner Stadtteil Tottenham, nachdem sie das Taxi, in dem er gesessen hatte, angehalten hatte. Duggan stand unter Polizeibeobachtung und trug zum Zeitpunkt seines Todes eine Waffe mit sich.
Zwei Tage später versammelten sich Freunde und Angehörige vor der örtlichen Polizeiwache. Gegen Abend schlugen Polizisten mit Schlagstöcken auf eine 16-Jährige ein, die angeblich einen Stein geworfen hatte. Die Situation eskalierte. Zwei Polizeiwagen wurden in Brand gesteckt. In den folgenden Tagen griffen die Krawalle auch auf andere Teile Londons und Städte wie Birmingham, Liverpool und Manchester über.
England 2011, Frankreich 2023: Die Gemeinsamkeiten sind frappierend. Der französische Staatspräsident Emmanuel Macron verurteilte am 30. Juni 2023 die „Instrumentalisierung des Todes eines Jugendlichen“, um „Chaos anzurichten und unsere Institutionen anzugreifen“. Die Eltern rief er auf, „Verantwortung“ zu übernehmen. Drei Tage später sagte der französische Innenminister Gérald Darmanin,: „Wir müssen hart sein mit den Rabauken und keine sozialen Ausreden suchen, wo es keine gibt.“
Zwölf Jahre zuvor klang der britische Premierminister David Cameron ganz ähnlich: Am 15. August 2011 beklagte er einen „moralischen Zusammenbruch in Zeitlupe“, der „Verantwortungslosigkeit, Egoismus, Kinder ohne Väter, Schulen ohne Disziplin, ungeahndete Verbrechen und Communitys außer Kontrolle“ nach sich gezogen habe.
Sechs Monate für eine geklaute Wasserflasche
Anfang Oktober 2011 legte die damalige Innen- und spätere Premierministerin Theresa May nach: „Die Unruhen in diesem Sommer hatten nichts mit Armut oder politischem Protest zu tun. Es waren Gier und Kriminalität, die durch eine Kultur der Verweigerung jeder Verantwortung befeuert wurden.“
Der stellvertretende Premierminister Nicholas Clegg, ein Liberaldemokrat, schlug vor, dass diejenigen, die zu gemeinnütziger Arbeit verurteilt wurden, diese in orangefarbenen Overalls ableisten sollten; zweifellos in der Absicht, dass sie in ihren eigenen Stadtvierteln für immer als Aussätzige abgestempelt würden.
Die Idee der öffentlichen Erniedrigung erinnert an die Initiative, die kürzlich der Bürgermeister von Le Blanc-Mesnil, einer Stadt nordöstlich von Paris, ergriffen hat. „Diese Lümmel haben nichts im Hirn, sie werden bezahlen, ihre Familien müssen zahlen.“ Danach ließ er überall in der Stadt die Werbeplakate für den Stadtstrand Beach Mesnil mit gelben Streifen überkleben: „Abgesagt – mit dem eingesparten Geld werden die von den Randalierern verursachten Schäden repariert.“ Die beabsichtigte Reaktion ließ nicht lange auf sich warten: „Das ist ungerecht. Alle müssen ausbaden, was einige wenige angerichtet haben.“1
Die Zusammenstöße zwischen den Jugendlichen und der Polizei und die gesellschaftlichen Debatten darüber, tragen dazu bei, die Wahrnehmung der unteren Gesellschaftsschichten zu verändern, ebenso wie deren Selbstwahrnehmung. Das Beratungsunternehmen BritainThinks veröffentlicht seit vielen Jahren Studien zur sozialen Selbstidentifikation in Großbritannien. Deborah Mattinson, die Mitgründerin des Unternehmens, stellte schon 2011 fest, dass die Bezeichnung „Arbeiterklasse“ zunehmend als Beleidigung aufgefasst werde.2
Arme Leute gegen andere arme Leute – die Kommentare von Behörden oder Experten zur aufflammenden Gewalt in benachteiligten Stadtvierteln fördern diese Sicht auf das Problem. „Gewöhnlich reagieren Politiker auf Krawalle, indem sie versuchen, die beteiligten Personen als ‚anders‘ darzustellen“, erklärten drei britische Wissenschaftler 2018: „Die aufrührerischen Ansammlungen werden als irrationaler Mob dargestellt oder als Gruppen, die ausschließlich kriminelle Absichten verfolgen.“3
In Frankreich wurden die Randalierer als bedrohliche „Fremde“ dargestellt, indem man die Herkunft ihrer Familien in den Vordergrund stellte. Im Juli 2023 veröffentlichten Medien wie der Fernsehsender BFM oder die Tageszeitung L’Opinion Listen mit den häufigsten Vornamen der Festgenommenen. Auf den ersten Plätzen: Mohammed, Yanis, Enzo, Maxime.4 Solche Kommentare sind Wasser auf die Mühlen von rechten und rechtsextremen Politikern wie François-Xavier Bellamy (Les Républicains) und Éric Zemmour (Reconquête).
In Großbritannien tauchten dagegen schnell abweichende Analysen der Ereignisse auf, auch in einer konservativen Zeitung wie The Daily Telegraph. Am 12. August 2011 kommentierte der Journalist Peter Oborne dort in einem Leitartikel, dass die Randalierer „ganz einfach dem Beispiel älterer und gesellschaftlich respektierter Persönlichkeiten“ gefolgt seien. Er brandmarkte den „erschreckenden Niedergang der britischen Regierungseliten“, in deren Kreisen es mittlerweile komplett akzeptabel sei, zu lügen und zu betrügen.5
Als 2009 im britischen „Spesenskandal“ herauskam, dass Abgeordnete öffentliche Gelder veruntreut hatten, wurden nur drei Gefängnisstrafen verhängt. Der Labour-Abgeordnete Gerald Kaufman musste lediglich den Preis für den Luxusfernseher zurückzahlen, den er auf Kosten der Steuerzahler für umgerechnet etwa 10 000 Euro gekauft hatte. Zwei Jahre später wurde der 23-jährige, nicht vorbestrafte Nicolas Robinson zu sechs Monate Gefängnis verurteilt, weil er eine Mineralwasserflasche im Wert von 3,70 Euro aus einem Lidl geklaut hatte, nachdem der Supermarkt einige Stunden zuvor geplündert worden war.
Der Guardian und die London School of Economics erstellten im Dezember 2011 eine eigene Studie auf der Grundlage von 270 Interviews mit jungen Randalierern.6 Der Bericht betont „die weit verbreitete Wut gegenüber der Polizei und den Frust über alltägliche Schikanen“. Von den befragten Personen waren 73 Prozent im Verlauf der zwölf vorangegangenen Monate von Sicherheitskräften durchsucht worden. Nur 7 Prozent von ihnen schätzten die Arbeit der Polizei als „gut“ oder „sehr gut“ ein, im Gegensatz zu 56 Prozent in der britischen Gesamtbevölkerung.
Die Studie zeigte auch, dass nur 51 Prozent der Befragten sich als Teil der britischen Gesellschaft betrachteten, während dieser Anteil in der Gesamtbevölkerung bei 92 Prozent lag. Und während David Cameron im August 2011 in einer Rede behauptet hatte, kriminelle Gangs hätten im „Zentrum der Gewalttaten gestanden“ und „die Angriffe auf die Polizei und die Plünderungen koordiniert“, ergaben journalistische und wissenschaftliche Recherchen, dass Gangs nur eine marginale Rolle gespielt hatten.
Eine weitere Studie, die im Oktober 2011 vom unabhängigen Thinktank National Center for Social Research im Auftrag der Regierung erstellt wurde, ergab, das für die Randalierer die Krawalle „ein aufregendes Ereignis“ waren, „eine Möglichkeit, kostenlos an Sachen zu kommen“, und „eine Gelegenheit, es der Polizei heimzuzahlen“.7
Das nach den Krawallen von Regierung und Opposition eingesetzte Riots Communities and Victims Panel befand in seinem Bericht vom März 2012: „Die allermeisten dieser Jugendlichen wurden von den lokalen Behörden nicht als potenzielle Straftäter eingestuft. Das deutet darauf hin, dass viele von ihnen einfach unüberlegte Entscheidungen trafen, nachdem sie sich von der Situation hatten mitreißen lassen.“8 Ähnliches lässt sich für Frankreich feststellen: Innenminister Darmanin gab an, 60 Prozent der während der Krawalle festgenommenen Personen seien nicht vorbestraft.
Die Anwältin Elsa Marcel vom Collectif d’action judiciaire berichtete im Juli 2023, dass nicht nur Bilder von Überwachungskameras, sondern auch Posts in sozialen Medien als Grundlage für Festnahmen gedient hätten. In den Pariser Vororten Sarcelles und Saint-Denis seien derartige Informationen als Belastungsmaterial gegen sehr junge Leute gesammelt worden und hätten als Begründung für früh-morgendliche Hausdurchsuchungen bei den Familien gedient.
Diese Strategie der Einschüchterung zeigt sich auch in den Strafen, die in Eilverfahren verhängt wurden. Ein Gericht in Lyon verhängte gegen vier junge Leute im Alter von 18 und 19 Jahren Gefängnisstrafen von bis zu vier Monaten für den Diebstahl von Bonbons, Fruchtsaft und Cornflakes. Und in Nanterre handelte sich ein 20-Jähriger zwölf Monate Gefängnis auf Bewährung ein, weil er auf Tiktok der Polizei gedroht hatte: „Morgen löschen wir sie aus, verspeisen sie wie mafé, trinken sie wie bissap.“9
Zudem waren die Beklagten immer wieder Demütigungen ausgesetzt. „Glauben Sie, dass Ihre Eltern stolz auf Sie sind? Vielleicht schämen sie sich?“, fragte ein Richter im Pariser Vorort Bobigny. Einem Angeklagten wurde gesagt: „Ihre mangelnde Intelligenz macht eine Freiheitsstrafe notwendig.“10
Auch in Großbritannien verhängte die Justiz in beschleunigten Verfahren Strafen, deren Härte abschreckend wirken sollte. Der Soziologe Matteo Tiratelli vom University College London erinnert daran, dass die britische Staatsanwaltschaft, damals unter Leitung des aktuellen Labour-Chefs Keir Starmer, sofort die Schwelle für eine Strafverfolgung heruntersetzte: „Die Empfehlung, unter 18-Jährige nicht für geringfügige Delikte zu verurteilen, wurde ausgesetzt. Handlungen, die normalerweise als Diebstähle eingestuft werden, wurden wie Einbrüche behandelt, um eine härtere Bestrafung zu ermöglichen.“
Die offiziellen Statistiken bestätigen das härtere Vorgehen: Während der Unruhen wurden 86 Prozent der wegen Einbruch oder Diebstahl verurteilten Personen umgehend inhaftiert. Im Jahr zuvor, 2010, lag diese Quote bei Einbruch nur bei 68 Prozent beziehungsweise 41 Prozent bei Diebstahl. Insgesamt verhängte die britische Justiz 1800 Jahre Haft gegen Randalierer, wobei die Durchschnittsstrafe bei 17 Monaten lag.11
Bis August 2011 hatte die Londoner Polizei 3914 Personen angeklagt oder verwarnt. Bis Februar 2015 waren 1593 von ihnen erneut verurteilt worden.12 Es ist die Bestätigung des bekannten Grundsatzes, dass Gefängnisse Straftäter produzieren, den auch die französischen Behörden im Sommer 2023 hätten bedenken sollen, bevor sie mit aller Härte gegen die Randalierer vorgingen.
8 „After the riots. The final report of the Riots Communities and Victims Panel“, 1. März 2012.
11 Ed Davey, „England riots one year on: Culprits jailed for 1,800 years“, BBC News, 6. August 2012.
Aus dem Französischen von Heike Maillard
Tristan de Bourbon-Parme ist Journalist.