Angst und Wut an der Narva
Estland in Zeiten des Krieges
von Damien Lefauconnier
Am 9. Mai wurde überall in Russland der Jahrestag des Siegs über Nazideutschland gefeiert, auch in Iwangorod an der Grenze zu Estland, mit Open-Air-Konzerten und Großbildleinwand. Von der estnischen Stadt Narva, auf der anderen Seite des gleichnamigen Grenzflusses, konnte man alles gut sehen.
Auf dem estnischen Ufer des Narva-Flusses schwenkte ein Mann demonstrativ die ukrainische Fahne, so dass sie vom russichen Ufer aus zu sehen war. Später ging ein Video in den sozialen Netzwerken viral, aufgenommen von den hohen Mauern der mittelalterlichen Hermannsfeste von Narva. Der Clip zeigt, wie ein Mann mittleren Alters den Demonstranten mit der Fahne angreift. „Tu die weg, tu die weg!“, schimpft der Aggressor auf Russisch und versetzt dann dem jungen Mann einen heftigen Stoß, so dass der eine niedrige Mauer hinunterfällt.
„Die meisten Umstehenden haben Partei für den Mann ergriffen, der auf mich losgegangen ist“, erzählte das Opfer des Angriffs, Daniil Kurakin, später in mehreren Interviews. Kurakin, selbst russischsprachig, ist Mitglied der estnischen NGO Avatud Vabariik („Offene Republik“), die sich für die Integration von Jugendlichen aus der russischen Minderheit einsetzt. Von dem Angriff trug er Prellungen davon, der Täter wurde zu einer Gefängnisstrafe auf Bewährung verurteilt.
In Narva gehören 90 Prozent der Bevölkerung der russischen Minderheit an, die insgesamt ein Viertel der estnischen Bevölkerung ausmacht. Nach Angaben der offiziellen Statistikbehörde Estlands sprachen 31,5 Prozent der Einwohner:innen im Jahr 2022 zu Hause Russisch.
Am 9. Mai kam es zu einem weiteren Vorfall mit sehr viel gravierenderen Folgen: Das Stadtmuseum von Narva, das in der Festung untergebracht ist, hatte ein riesiges Plakat mit dem blutbefleckten Konterfei Putins und der Aufschrift „Kriegsverbrecher“ an die Außenmauer gehängt. Russische Grenzschutzbeamte forderten die estnische Polizei auf, das Plakat zu entfernen. Die estnischen Beamten weigerten sich.
Beide Ereignisse zeugen von der aufgeladenen Stimmung, die seit der russischen Invasion der Ukraine in Estland herrscht. Estlands Premierministerin Kaja Kallas erklärt wieder und wieder, welch existenzielle Bedeutung der Ausgang des Kriegs in der Ukraine für ihr Land hat.
Die Regierung in Tallinn gibt mehr als 1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für die Unterstützung des ukrainischen Militärs aus, seit Kriegsbeginn sind das rund 400 Millionen Euro. Gemessen am BIP leistet das Land also weltweit einen der höchsten Beiträge zur Verteidigung der Ukraine, an zweiter Stelle hinter Lettland und noch vor Litauen.1 Das kleine, nur 1,3 Millionen Einwohner:innen zählende Land fürchtet, selbst angegriffen zu werden; seine Verteidigung ist in höchstem Maß von der Nato abhängig.
Diese verbreitet seit Februar 2022 auf allen Kanälen die Nachricht, dass ihre Ostflanke verstärkt wird. So geschah es auch am 16. März in Tapa, einem ehemaligen sowjetischen Militärstützpunkt, 70 Kilometer südlich von Tallinn: Vor laufenden Kameras führte ein Soldat der französischen Fremdenlegion die Wendigkeit des Spähpanzers AMX-10 RC vor. Drei dieser Panzer waren – zusammen mit 18 Truppentransportfahrzeugen vom Typ Griffon – nach Estland verlegt worden. Von dem 21-jährigen Panzerfahrer schauen nur Kopf und Schultern aus seinem Gefährt, während er erklärt, seine Aufgabe sei es, „das Material zu erproben und seine Kältetauglichkeit zu testen“. Der Zweck der Vorführung: Demonstrieren, dass die Nato im Falle eines russischen Angriffs sehr schnell eingreifen kann.
Estland trat 2004 der Nato bei. Nach einer Welle von Cyberattacken auf öffentliche und private Institutionen des Landes schuf die Nato 2008 in Tallinn das Exzellenzzentrum für Cyberabwehr. Nach der Annexion der Krim durch Russland 2014 begann die Nato die Präsenz an ihrer Ostflanke zu verstärken, seit 2017 sind ständig rotierende multinationale Kampfverbände in Estland, Lettland, Litauen und Polen stationiert (seit 2022 gibt es solche „Battlegroups“ auch in Ungarn, Rumänien, Bulgarien und der Slowakei).
Waffenkäufe und Fluchtpläne
Wie die beiden anderen baltischen Staaten delegiert die Regierung in Tallinn die Luftraumüberwachung an ihre Bündnispartner. „Russland verletzt unseren Luftraum fast jeden Monat“, erklärt die Unterstaatssekretärin im estnischen Verteidigungsministerium, Tuulii Duneton. Dies finde immer über Vaindloo statt, einer Insel, die etwa 20 Kilometer nördlich der Küste im Finnischen Meerbusen liegt.
Im vergangenen September erreichte der Ukrainekonflikt die Ostsee, als die Gaspipelines Nord Stream I und II gesprengt wurden. Weder die deutschen noch die dänischen Ermittlungen haben die Sabotageakte bisher aufgeklärt. Seither kontrolliert der estnische Küstenschutz russische Schiffe auf ihrer Fahrt durch Estlands Hoheitsgewässer. Denn die Regierung in Tallinn ist überzeugt, „dass die russische Armee zivile Schiffe zu anderen Zwecken missbraucht“, wie Duneton erklärt.
Beweise gibt es dafür nicht. Dennoch kündigte die Regierung in Tallinn im Januar 2023 an, sie wolle auf Grundlage des Internationalen Seerechts russische Schiffsladungen nicht nur in ihren Hoheitsgewässern, sondern auch in der Anschlusszone2 verstärkt kontrollieren – was der russische Botschafter in Estland als „Behinderung der freien Schifffahrt“ bezeichnete. Mit dem Beitritt Finnlands – und bald Schwedens – zur Nato wird diese an beiden Ufern des Finnischen Meerbusens vor Sankt Petersburg präsent sein.
Estland hat begonnen, massiv aufzurüsten. Die Regierung hat den Verteidigungshaushalt 2023 verdoppelt und mit 1,2 Milliarden Euro mehr Geld denn je für die Anschaffung von Artilleriegeschützen bereitgestellt. Im Dezember kaufte Tallinn für 200 Millionen Euro sechs Himars-Raketenwerfer von den USA und Anfang Mai kündigte man an, gemeinsam mit Lettland das Iris-T-SLM-Luftabwehrsystem des deutschen Unternehmens Diehl Defence erwerben zu wollen. Im Februar erklärte der estnische Verteidigungsminister Hanno Peykur, er wolle die Truppenstärke der Landstreitkräfte bis Ende 2024 von 9500 auf 20 000 mehr als verdoppeln.
Junge Est:innen lernen bereits in der Schule, Russland zu fürchten; die Älteren erinnern sich noch an die Sowjetzeit. In seiner jüngeren Geschichte war das Land nur insgesamt 52 Jahre unabhängig: 1710 entriss Russland dem Königreich Schweden seine baltischen Randgebiete und behielt sie für die nächsten 200 Jahre. Nach einer kurzen Zeit der Autonomie (1920–1939) wurde Estland im Gefolge des Hitler-Stalin-Pakts von der Sowjetunion annektiert. Ab 1941 war es von der Deutschen Wehrmacht besetzt, bis 1944 die sowjetischen Truppen zurückkehrten und bis zum 20. August 1991 blieben, dem Tag, an dem Estland zum zweiten Mal seine Unabhängigkeit erklärte.
Die meisten Est:innen äußern im Gespräch ihre Angst vor einem erneuten russischen Einmarsch. Vitali Kozeratski, ein 40-jähriger Designer aus Tallinn, den wir in einem Einkaufszentrum in Narva ansprechen, ist in der Ukraine geboren, sein Bruder lebt in Russland. Er sagt, er wolle eine Schusswaffe kaufen, um seine Familie im Falle eines Angriffs verteidigen zu können. Seit Februar ist es Bürgern aus Nicht-EU- und Nicht-Nato-Staaten in Estland verboten, Schusswaffen zu besitzen. 1300 Angehörige der russischen Minderheit mussten daraufhin ihre Waffen abgeben.
„Meine Frau und ich sprechen oft darüber“, sagt Vitali. Die beiden haben eine kleine Tochter. „Wir haben uns einen Plan zurechtgelegt, wie wir innerhalb einer Stunde verschwinden können, nur mit dem Nötigsten. Das Land ist so winzig. Wenn Putin kommen will, wird er kommen. Und die Nato wird es nicht verhindern können.“
Laut Artikel 5 des Nordatlantikvertrags würden die Nato-Staaten allerdings bei einem solchen Angriff gemeinsam reagieren. Ihre Militärbudgets im Jahr 2023 sind zusammengerechnet 17-mal so hoch wie das Militärbudget Russlands; ohne die USA ist es immerhin noch das Fünffache.3
Bei den Russischsprachigen hört man diese Befürchtung seltener. Trotz des Verbots von russischen Staatsmedien in der EU seit März 2022 informieren sich viele weiterhin im Internet bei den offiziellen russischen Sendern. Und manche vertrauen noch immer Wladimir Putin.
„Warum sollte er hierher kommen?“, meint eine ältere Dame, die gerade mit zwei Einkaufstaschen aus Iwangorod zurückkehrt. Sie hat auf der russischen Seite Lebensmittel eingekauft, wo alles billiger ist. Russisch-estnische Doppelstaater:innen, die 5 Prozent der estnischen Bevölkerung ausmachen, und Inhaberinnen eines „grauen“ Passes,4 den etwa 6 Prozent besitzen, können weiterhin visafrei in beide Länder reisen. Unter der Bedingung, dass sie anonym bleibt, ist sie bereit ein paar Worte mit uns zu wechseln: „Ich spüre, dass es Druck gibt. Wenn ich einer Zeitung sage, was ich denke, dann werde ich zu hören bekommen, ‚geh doch rüber nach Russland‘.“
Zur Verteidigung des Landes verfügt Estland zusätzlich zur regulären Armee über den sogenannten Kaitseliit (Verteidigungsbund), einen militärischen Freiwilligenverband, dem fast 30 000 Zivilist:innen angehören. Er entstand erstmals 1918 kurz vor dem Beginn des Unabhängigkeitskriegs, einer der Mitbegründer war der Urgroßvater der derzeitigen Premierministerin.
Roger Vinni, 40, Betreiber und Besitzer einer Autowaschanlage und Familienvater, leitet die Kaitseliit-Einheit von Narva: „Wir trainieren einmal im Monat, mit scharfer Munition, erzählt er. „Wir sind ausgerüstet mit Sturmgewehren vom Typ R20 Rahe, Kaliber 5.56 und 7.26, und mit 9-Millimeter-Maschinenpistolen.“ Vinni schätzt, dass die Anzahl der Kaitseliit-Mitglieder seit Beginn des Ukrainekriegs um 20 Prozent gestiegen ist.
Am 1. April 2022, einen guten Monat nach Beginn der russischen Invasion, kündigten die drei baltischen Staaten gemeinsam einen Einfuhrstopp für russisches Gas an. Für Estland, das seinen Bedarf zu 90 Prozent aus russischen Importen deckte, war das eine drastische Entscheidung. Als Übergangslösung konnte das 2014 in Betrieb genommene Flüssiggasterminal in Klaipėda, im benachbarten Litauen, genutzt werden, über das vor allem LNG (Liquefied Natural Gas) aus Norwegen und den USA angeliefert wird. Derzeit baut Estland in aller Eile in Paldiski das erste eigene LNG-Terminal.
Im August 2022 verzeichnete Estland mit 25 Prozent die höchste Inflationsrate der Eurozone. Sie wurde hauptsächlich durch den explosionsartigen Anstieg der Energiepreise verursacht. Im Juli 2022 waren die Erdgaspreise im Vergleich zum Vorjahr um 235 Prozent und die Strompreise für Privathaushalte um 143 Prozent gestiegen. Obwohl die Inflation im April 2023 wieder auf 13,5 Prozent gedrückt werden konnte, sind Lebensmittel mit einer Preissteigerung von 23 Prozent und Wohnen mit einem Anstieg von 32 Prozent immer noch sehr teuer.5
Trotz der sozialen Krise konnte die Estnische Reformpartei von Premierministerin Kaja Kallas am 5. März 2023 erneut die Parlamentswahl gewinnen. Vor dem Hintergrund des Ukrainekriegs konnte sie zudem ihren ehemaligen Koalitionspartner, die Estnische Zentrumspartei, ausbooten, indem sie dieser Illoyalität vorwarf; die Zentrumspartei hatte 2007 ein Kooperationsabkommen mit der russischen Regierungspartei „Einiges Russland“ geschlossen.
In Tallinn wird schon seit Längerem ein wirtschaftlich klar neoliberaler Kurs gefahren. Davon zeugt etwa der einheitliche, nicht progressive Einkommensteuersatz von 20 Prozent, auch „flat tax“ genannt. Kallas selbst wird mittlerweile auch die „eiserne Lady des Baltikums“ genannt. Sie versprach, das Haushaltsdefizit, das wohl zum Ende des Jahres 5 Prozent erreichen wird, schon 2024 wieder unter 3 Prozent zu bringen und so die Maastricht-Kriterien zu erfüllen. Zusätzlich zu Einschnitten bei den Sozialausgaben kündigte ihre Regierung eine Anhebung der Mehrwertsteuer an – ungeachtet der Inflation, die die Haushalte jetzt schon trifft.
1 „Ukraine support tracker“, Institut für Weltwirtschaft Kiel, wird regelmäßig aktualisiert.
3 „Sipri Military Expenditure Database“, Stockholm International Peace Research Institute.
5 Zentralbank der Republik Estland, 2023.
Aus dem Französischen von Heike Maillard
Damien Lefauconnier ist Journalist.