13.07.2023

Böses Erwachen in der Türkei

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Böses Erwachen in der Türkei

von Günter Seufert

Erdoğan bei seiner Vereidigung am 3. Juni picture alliance/newscom/Turkish President Press Office
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Das Ergebnis der Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in der Türkei war für die Opposition ein ungeheurer Schock. Aber es enthielt auch eine dramatische Warnung an die Regierung. Bei der Stichwahl vom 28. Mai konnte Staatspräsident Recep Tay­yip Erdoğan mit knapp 52 Prozent der Stimmen sein Amt gegen den Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu verteidigen; zwei Wochen zuvor hatte sein Wahlbündnis aus rechtskonservativen, rechtsradikalen und islamistischen Parteien die absolute Mehrheit im Parlament behauptet.

Die Opposition war sich ihres Sieges sicher gewesen. Jetzt steht sie vor einem Scherbenhaufen. Wie nur konnte Erdoğan bei einer solchen Bilanz die Wahl gewinnen? Es herrscht eine schwere Wirtschaftskrise, die einen Großteil der Bevölkerung in Armut gestürzt hat.1 Er ist verantwortlich für das Missmanagement in Wohnungsbau und Katastrophenhilfe und trägt damit eine Mitschuld an den über 44 000 Todesopfern des verheerenden Erdbebens vom Februar 2023. Und gescheitert sind seine hochtrabenden Pläne, nach denen die Türkei 2023, im hundertsten Jubiläumsjahr der Republik, zu den zehn größten Volkswirtschaften der Welt gehören sollte. Zurzeit liegt sie auf Rang 19.

Dennoch war Erdoğans Strategie einer erbarmungslosen Polarisierung der Bevölkerung erneut erfolgreicher als die Wahlkampftaktik der Opposi­tion, die sich stärker auf Sachfragen konzentrierte. Der Präsident zeigt in jeglichen Reden und durch sein Handeln, dass für ihn die türkische Nation allein durch den frommen Teil der Bevölkerung verkörpert wird. Forderungen anderer Gruppen – ob Kurden, religiöse Minderheiten oder religiös indifferente Bürgerinnen und Bürger – nach Gleichberechtigung, politischer Teilhabe und dem Recht auf Differenz werden als Gefahr für den Bestand der türkischen Nation und ihres Staats denunziert.

Gegen diese extrem ausgrenzende Politik der Regierung brachte die Opposition ein Bündnis aus linkssäkularen, rechtsnationalen und proislamischen Parteien zustande, das sich auf die Hauptziele einer Redemokratisierung, einer verlässlichen Wirtschaftspolitik und der erneuten Hinwendung zur EU verständigte. Eine solche identitätenübergreifende Strategie war eine große Hoffnung, aber auch Neuland für die türkische Politik. Denn die ist seit Jahrzehnten von ethnisch-türkischem Nationalismus sowie vom Streit um Säkularismus und Islam geprägt.

Eine solche Politik des Ausgleichs steht in der Türkei jedoch auf tönernen Füßen. Das zeigte sich, als das Bündnis der Gegner Erdoğans gleich nach der Wahl wie ein Kartenhaus in sich zusammenfiel. Damit zerbrach auch die Hoffnung, der gemeinsame Einsatz für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, für funktionierende Institutionen, mehr Transparenz und gegen Korruption reiche aus, um die tiefen ideologischen und kulturellen Gräben zuzuschütten, die innerhalb der Bevölkerung wie zwischen den Oppositionsparteien verlaufen. Nach ihrer krachenden Wahlniederlage ziehen sich die früheren Bündnispartner in die sicheren Bastionen der jeweils eigenen Ideologie zurück.

Bei der größten Oppositionspartei, der Republikanischen Volkspartei (CHP), will eine starke Strömung zurück zu einer säkularistischen und linksnationalen Politik. Und bei der rechtsnationalen Guten Partei (İyi) gebärdete sich die Vorsitzende Meral Ak­şe­ner seit der Wahl genauso radikal wie die Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP), Erdoğans engste Verbündete. Mit dieser Taktik will Akşener ihre Partei zusammenhalten und Vorsitzende bleiben.

Auch die zwei kleinen proislamischen Parteien des zerfallenen Bündnisses, Zukunft (Gelecek) und Glückseligkeit (Saadet), besinnen sich auf ihre Wurzeln. Obwohl ihre Abgeordneten nur über die Listen der säkularen CHP ins Parlament kamen, wollen sie eine eigene religiös-konservative Fraktion gründen. Und auch die prokurdische Partei HDP, die zur Wahl von Kılıç­daroğlu aufgerufen hatte, will wieder eigene Wege gehen. Alle Politiker der Opposition haben dabei eines gemeinsam: Sie suchen die Schuld stets bei anderen, bei den früheren Bündnispartnern oder auch innerhalb der eigenen Partei.

Trotz seines Siegs hat der Wahlausgang das Regierungslager nervös gemacht. Denn obwohl Erdoğan alle Ins­tru­mente des Staats für seinen Wahlkampf eingesetzt hat, war sein Erfolg lange Zeit ungewiss. Tatsächlich kontrolliert der Präsident den weitaus größten Teil der türkischen Justiz und bringt prominente Gegner nach Belieben hinter Gitter – etwa Selahattin De­mir­taş, den früheren Co-Vorsitzenden der prokurdischen Partei HDP, und Osman Kavala, den bei der Regierung verhassten Mäzen der türkischen Zivilgesellschaft.

Über den Istanbuler Bürgermeister Ekrem İmamoğlu, den populärsten Politiker der Opposition, haben Erdoğans Richter bereits das Damoklesschwert des Politikverbots gehängt. Und sein Innenminister jagte reihenweise kurdische Bürgermeister und Stadträte aus dem Amt und ersetzt sie durch staatliche Beamte. Der Präsident entlässt und ernennt den Präsidenten der Zentralbank und reguliert damit den Geldfluss im eigenen Interesse. Auch der Direktor des Statistischen Amts ist von der Gunst des Präsidenten abhängig. Er kann sich seines Postens nur sicher sein, wenn er die Inflationszahlen beschönigt.

Die staatliche Religionsbehörde, die alle Imame und Prediger besoldet, ist ohnehin in der Hand von Erdoğans AKP. Und das gilt erst recht für den Staatssender TRT, der im Wahlkampf dem Regierungslager zehnmal mehr Sendezeit eingeräumt hat als den Parteien der Opposition. Aber auch 80 Prozent aller privaten Fernsehsender und Tageszeitungen sind eindeutig regierungsnah. Unabhängige Medien müssen ums Überleben kämpfen, weil die Regierung ihre Anzeigenkunden unter Druck setzt.

Wer die Gerichte, den Hohen Wahlrat und den größten Teil der Medien kontrolliert, für den ist es ein Leichtes, den Gegner mit Fake News und unbewiesenen Behauptungen in die Enge zu treiben. In den letzten beiden Wochen vor der Wahl wurde bei allen Reden Erdoğans auf einer Riesenleinwand ein Fake-Video gezeigt. Darin zu sehen: die Chefs der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), wie sie in den Wahlkampfsong von Erdoğans Herausforderer Kılıçdaroğlu einstimmen.

Die Szene beweise, so Erdoğan, dass die Opposition unter Führung der CHP gemeinsam Sache mit Terroristen mache. Das Staatsfernsehen sendete das Machwerk in Endlosschleife, um noch unentschlossene Wählergruppen zu beeinflussen. Weder der Hohe Wahlrat, noch die staatliche Medienaufsicht, noch die Gerichte schritten ein.

Trotz seiner geballten Macht und all seiner Manipulationsmöglichkeiten hat Er­do­ğan die Wahl nur denkbar knapp gewonnen. Genau das erklärt die Besorgnis im Regierungslager. Zumal der Zustand der AKP erhebliche Zweifel aufkommen lässt, dass ihm das Kunststück ein weiteres Mal gelingen kann. Denn Erdoğans Partei verliert seit Jahren in der Wählergunst.

Im Mai 2023 blieb die AKP mit 35,6 Prozent der Stimmen um knapp 7 Prozentpunkte hinter ihrem Ergebnis vom Juni 2018 zurück. Dabei hatte die Partei bei den Wahlen vom November 2015 mit 49,5 Prozent noch fast jede zweite Stimme geholt. Schon 2018 kam die AKP nur mit der Hilfe der rechtsradikalen MHP auf eine absolute parlamentarische Mehrheit; jetzt braucht sie dafür nicht nur die MHP, sondern auch noch die Abgeordneten von zwei kleinen, radikalislamistischen Parteien, die Erdoğan noch kurz vor der Wahl in sein Bündnis integriert hatte.

Das war ein äußerst kluger Schachzug. Denn damit bot sich konservativen Wählerinnen und Wählern, die der AKP die Gefolgschaft versagten, eine politische Alternative in den eigenen Reihen an. So konnte Erdoğan verhindern, dass sich der Unmut über die Teuerung und die Korruption, die auch unter den Frommen im Land herrscht, in Stimmen für die Opposition verwandelte.

Der Erfolg dieser Taktik zeigte sich in den AKP-Hochburgen in Zentralanatolien und am Schwarzen Meer, wo die Partei zwar massiv an Stimmen verlor, die Opposition jedoch nur marginal dazu gewann. Damit konnte der Präsident verhindern, dass die Schwäche seiner Partei seine eigene Stellung gefährdet. Freilich muss er jetzt im Regierungslager noch mehr Akteure unter einen Hut bekommen.

Eine der kleinen, islamistischen Parteien, die Neue Wohlfahrtspartei (YRP), spricht vornehmlich traditionell lebende Türken an. Ihr Markenzeichen ist eine extrem konservative Familienpolitik. Für die Unterstützung Er­do­ğans hat die YRP die Zusage erhalten, dass das Zivilgesetzbuch bei Unterhaltsfragen zum Nachteil der Frauen geändert wird und die Türkei aus internationalen Konventionen austritt, die den türkischen „nationalen und geistig-sittlichen Werten“ widersprechen.

Erdoğans zweiter islamistischer Bündnispartner ist die kurdische Partei der freien Sache (Hür Dava Partisi), deren Programm an der Abkürzung Hüda Par (Partei Gottes) abzulesen ist. Der Name erinnert an die kurdische Terrorgruppe Hizbullah (Partei Gottes auf Arabisch), die in den 1990er Jahren im mehrheitlich kurdisch besiedelten Südosten der Türkei zahlreiche politische Morde verübte.2

Der türkische Staat drückte damals jahrelang beide Augen zu, bevor er mit dem Spuk aufräumte. Denn die kurdische Hizbullah kämpfte nicht gegen den türkischen Staat, vielmehr suchte sie ihre Opfer unter linken, säkularen Kurden und PKK-Kämpfern. Mit ihrer islamistischen Orientierung und Symbolik tritt die Hüda Par wie die legale Fortsetzung der früheren Terrortruppe auf. Doch anders als diese verfolgt sie zugleich eine klare pro-kurdische Agenda: Sie fordert die Anerkennung von Kurdisch als zweiter Amtssprache, Schulunterricht auf Kurdisch sowie eine neue Verfassung, die keinen Bezug mehr auf ethnisch-türkischen Nationalismus nimmt.

Für die MHP, den wichtigsten Partner Erdoğans, müssen solche Forderungen ein politischer Gräuel sein. Jedoch gibt es im Regierungslager einen gemeinsamen Nenner, und Erdoğan ist fest entschlossen, ihn zu nutzen. Die Gefolgschaft des neuen und alten Präsidenten eint ihre Begeisterung für das, was sie die „nationalen und geistig-sittlichen Werte“ der türkischen Gesellschaft nennen.

Sie alle begrüßten den Austritt der Türkei aus der Konvention des Europarats zum Schutz der Frauen vor Gewalt und häuslicher Gewalt.3 Sie alle teilen die Meinung Erdoğans, das Übereinkommen fördere „die Homosexualität“, indem es nicht nur die Frauen, sondern auch die sexuelle Orientierung schützt. Damit werde das Fundament von Staat und Nation – die Familie – untergraben.

Im Übrigen glaubt die gesamte Er­do­ğan-Gemeinde, dass jeder kulturelle Einfluss des Westens das Werk von global agierenden Lobbygruppen, Imperialisten, Kolonialisten und anderen Feinden der Türkei sei. Dementsprechend wird jeder Türke und jede Türkin – ebenso wie eine politische Partei –, der oder die für die Rechte von Frauen und von Homosexuellen eintritt, als Agent des Auslands betrachtet und des Landesverrats verdächtig.

Bereits im Wahlkampf hat Erdoğan Stimmung gegen die LGBTQ+-Community gemacht – und sie in einem Atemzug mit linken, kurdischen und religiösen Gruppen genannt, die auf der türkischen Terrorliste stehen. Im Juni wurde in Istanbul und Izmir die Pride ­Parade verboten; und im Istanbuler Stadtbezirk Kadiköy nahm die Polizei sogar die Besucher einer nichtöffentlichen Filmvorführung fest.

Ganz offensichtlich will Erdoğan seine zunehmend diverse politische Front dadurch zusammen halten, dass er sie gegen den gemeinsamen Feind, die LGBT+-Community, in Stellung bringt. Für den „Schutz der türkischen Familie“, zum Kampf gegen „die Perversität“ und zur „Abwehr westlicher, imperialistischer Kultur“ lassen sich weit über die Parteigrenzen hinweg konservative und nationalistische Wähler mobilisieren. Laut Medienberichten will Erdoğan schon im Oktober dem Parlament eine Verfassungsänderung vorschlagen. Sie soll den Begriff „Familie“ als Ehe zwischen Mann und Frau definieren und das Recht der Frauen auf Verschleierung festschreiben, womit ein Kernelemente konservativer Sittlichkeit Verfassungsrang erhalten würden.

Der Zeitpunkt wäre günstig. Im März 2024 stehen Kommunalwahlen an. Die AKP wird alles daran setzten, die Rathäuser von Ankara, Istanbul und anderen Metropolen zu erobern, die sie vor fünf Jahren an die Opposition verloren hat. Sollte die Regierung die Kommunalwahlen und das Verfassungsreferendum am selben Tag abhalten, würde die Wahl der Bürgermeister zur Abstimmung über die traditionelle Sittlichkeit im Lande Erdoğans.

Wenn die innenpolitische Entwicklung in diese Richtung geht, wird das die Beziehungen der Türkei insbesondere zu Westeuropa vergiften – nicht aber unbedingt zu allen EU-Staaten. Wenn Erdoğan – statt auf einen kruden Islamismus zu setzen – den Angriff einer westlichen-imperialistischen Kultur auf den gesunden Volkskörper nichtwestlicher Nationen geißelt, ist ein solcher Diskurs auf internationaler Ebene durchaus anschlussfähig. Schon heute stößt diese Politik Erdoğans in Polen und in Ungarn, in Russland und am Golf, aber auch in vielen Staaten Afrikas auf große Sympathien.

1 Das Pro-Kopf-Einkommen liegt heute um circa 20 Prozent niedriger als vor zehn Jahren. Siehe die Website Macrotrends.net, Zugriff am 29. Juni 2023.

2 Siehe Adnan Çelik, „Hizbullah und Staatsraison, gestern und heute“ (auf Türkisch), Bir artı Bir, 24. Juni 2023.

3 Die sogenannte Istanbul-Konvention wurde am 11. Mai 2011 von 13 Mitgliedstaaten des Europarats unterzeichnet, zu denen auch die Türkei gehörte, die jedoch 2021 wieder ausgetreten ist.

Günter Seufert ist ehemaliger Leiter des Centrums für angewandte Türkeistudien bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin.

© LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 13.07.2023, von Günter Seufert