13.07.2023

Die Legende vom Gaucho

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Die Legende vom Gaucho

Argentiniens postkoloniale Selbsterzählung

von Fabien Palem

Patagonien 1903 Mary Evans/picture library
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Nach ihrem Sieg gegen Argentinien bei der Fußball-WM 2014 ließ sich das deutsche Nationalteam in Berlin feiern. Auf den Youtube-Videos sieht man, wie die Spieler gebückt über die Bühne laufen und aus vollem Hals singen: „So gehn die Gauchos, die Gauchos, die gehen so!“ Dann, wieder aufgerichtet: „So gehn die Deutschen, die Deutschen, die gehen so!“ Das Publikum grölte begeistert mit.

In Buenos Aires brach daraufhin eine Welle der Empörung los. Man wagte es, sich über die Gauchos lustig zu machen! Massen gingen auf der Straße, um gegen den Affront zu demonstrieren, es dauerte nicht lange, bis der unvermeidliche Vergleich fiel: Der Journalist Víctor Hugo Morales schrieb, die deutschen Spieler seien eben „dreckige Nazis“.

Aber wer sind diese Gauchos überhaupt, deren Ehre da verteidigt werden musste?

Für die deutschen Fußballer waren sie einfach ein Synonym für „Argenti­nier“. In Wahrheit ist der Gaucho die südamerikanische Erscheinungsform des Cowboys, der einsam und halbnomadisch lebt. Er ist eine traditionelle Figur der Region, vor allem aber Argentiniens und Uruguays, die mit der Steppe und den Viehherden, mit gesungener Poesie, mit Mate, Alkohol und Schlä­ge­reien assoziiert wird.

Der Gaucho Martín Fierro ist der Held des gleichnamigen argentinischen Nationalepos von José Hernández, das 1872 erschien.1 Dieser Figur huldigen alle Argentinier, ob links oder rechts, in den entlegensten Regionen oder im Herzen der Hauptstadt. Sein Name taucht regelmäßig in politischen Reden auf, seine Geschichte ist immer wieder Gegenstand literarischer und filmischer Neuinterpretationen. Martín Fierro hat sogar einen eigenen Feier­tag, den „Gauchotag“ am 6. Dezember.

Hernández’ Epos war schon direkt nach seiner Veröffentlichung ein großer Erfolg. Es wurde an Lagerfeuern vorgetragen, wodurch es sich auch unter Analphabeten verbreitete. Das Gedicht erzählt vom Schicksal eines Mannes, der von der Armee zwangsrekrutiert wird, um in einem militärischen Feldzug gegen die „Indios“ das argentinische Territorium zu erobern.

Fierro, der die brutale Behandlung durch seine Vorgesetzten leid und von seiner patriotischen Mission ohnehin nicht überzeugt ist, desertiert. Er findet seine Ranch verlassen und verwüstet vor, seine Frau und seine Söhne sind verschwunden. Nun zieht er allein durch die Gegend, allerlei Widrigkeiten ausgesetzt, rechtlos.

Als „Martín Fierro“ erschien, war Argentinien politisch gespalten in Unitarier und Föderalisten. Erstere entstammten der Aristokratie von Bue­nos Aires, die die Zentralisierung der ­politischen Macht in der Hauptstadt und ein einheitliches Zollgebiet anstrebten, die Federales wollten die Eigenständigkeit der Provinzen erhalten, auch hinsichtlich der Erhebung von Zöllen. Für die Unitarier war der Konflikt ein Kampf zwischen Zivilisation und Barbarei.

Während „Martín Fierro“ zum ikonischen Text der Federales wurde, beriefen sich die Unitarier auf einen 1845 erschienenen Essay von Domingo Faustino Sarmiento (der später argentinischer Präsident wurde): „Facundo o Civilización y barbarie en las pampas argentinas“2 . Mit diesem Text wollte Sarmiento ein Zeichen setzen für die zivilisatorische Verbindung zwischen Argentinien und Europa.

Für den argentinischen Historiker Ezequiel Adamovsky entspricht die Argumentation der Unitarier jener „der Europäer in Bezug auf ihre Kolonien“3 . Sarmiento schlage vor, die argentinische Geschichte durch ein bestimmtes Prisma zu lesen: „die zugrunde liegende Idee, dass es zwei Länder gibt, die im Kampf gegeneinander stehen. Eines, das durch die städtischen, europäischen, gebildeten Weißen repräsentiert wird, und das andere, das für die ländliche, kreolische, plebejische, nicht-weiße Welt steht“.

Der Gaucho allerdings ist ein Criollo, also ein Einheimischer, der aus der Vermischung von spanischen Kolonialherren, Indigenen und afrikanischen Sklaven hervorgegangen ist.

Sieben Jahre nach dem Erscheinen von „El Gaucho Martín Fierro“ veröffentlichte Hernández „La vuelta de Mar­tín Fierro“ („Die Rückkehr des Martín Fierro“). In diesem zweiten Epos, das länger und mehrdeutiger ist als das erste, hat sich der rebellische Charakter des Gauchos gelegt, er hat sich mit der Macht versöhnt. Diese Wendung spiegelt die persönliche Entwicklung des Autors: Er war etabliert, verkehrte in den besten Kreisen und wurde – im selben Jahr, als „La vuelta“ erschien – Parlamentsabgeordneter der Unitarier.

Der gefügig gewordene Gaucho arrangiert sich nun mit den Menschen in der Stadt. Die Indios hingegen werden als barbarisch und grausam geschildert. 1878 hatte die sogenannte Eroberung der Wüste begonnen, ein militärischer Feldzug zur Ausrottung der indigenen Bevölkerung.

Der Schriftsteller Carlos ­Gamerro schreibt dazu: „Fast ungewollt versöhnt Hernández die verschiedenen politischen Narrative und überwindet die von Sarmiento dargestellte Dichotomie durch einen ideologischen Spagat“, der in den Unterschiedenen zwischen dem ersten und dem zweiten Teil des Epos zum Ausdruck kommt. „Es gibt allerdings einen Punkt, in dem beide Epen übereinstimmen, nämlich die Unmöglichkeit einer Integration der ­Indios.“4

„Martín Fierro“ spielte in der politischen Debatte eine immer wichtigere Rolle. 1904 rief die anarchistische Zeitung La Protesta eine Feuilleton­bei­la­ge ins Leben, die den Namen des Berühmtesten aller Gauchos trug. „Martín Fierro ist das Symbol einer bestimmten Epoche unserer Geschichte, die Verkörperung unserer Bräuche, Ins­titu­tio­nen, Überzeugungen, Laster und Tugenden. Er ist der Schrei einer Klasse, die gegen die sie unterdrückenden oberen Schichten der Gesellschaft kämpft, er ist der Protest gegen die Ungerechtigkeit“, hieß es in der Ausgabe vom 3. März 1904.

Die Anarchisten des frühen 20. Jahrhunderts waren fast alle im Zuge der „großen Immigration“ nach Argentinien gekommen. In das Land, das 1870 gerade einmal 1,88 Millionen Einwohner zählte, wanderten zwischen 1860 und 1930 etwa 6 Millionen Menschen ein. Die meisten der europäischen Einwanderungsgruppen übersetzten das Epos in ihre Sprache, als Zeichen der Integration und des guten Willens gegenüber der Gesellschaft, die sie aufnahm.

Der konservative und nationalistische Schriftsteller Leopoldo Lugones instrumentalisierte den „Martín Fierro“ ein Jahrzehnt später für den entgegengesetzten Zweck. Er machte den Gaucho zu einem identitätspolitischen Bollwerk gegen die Wellen der großen Immigration und gegen alles, was diese Leute seiner Meinung nach an Subversivem mitbrachten, wie kosmopolitische Ideen, Sozialprogramme, Anarchismus und Verweiblichung.

In mehreren Vorträgen, die er 1913 im Odeón-Theater von Buenos Aires vor Vertretern der Oberschicht hielt, erhob er den Criollo zur Säule der „Argentinität“ gegenüber den Gringos, den Ausländern, die hier an Land gingen. „­Martín Fierro“ sollte für die Argentinier das sein, was das mittelalterliche „Rolandslied“ für die Franzosen oder das Epos „El Cid“ für die Spanier ist, befand der Schriftsteller Ricardo Rojas. So wurde der Gaucho, der bis vor Kurzem noch den Widerstand gegen die Homogenisierung der Nation repräsentierte, auf einmal zur Verkörperung einer durch das Fremde bedrohten Reinheit.

In der Folgezeit bezogen sich die unterschiedlichsten politisch-ideologischen Strömungen in Argentinien auf das Gaucho-Epos. So hatte 1939 der Gouverneur der Provinz Buenos Aires, der Nationalist Manuel Fresco, sämtliche Abgeordneten der Provinz hinter sich, als er den 10. November, den Geburtstag von José Hernández, zum „Tag der Tradition“ erklärte.

Antiheld aus der Pampa

Unter der Präsidentschaft von Juan Pe­rón (1946–1955 und 1973–1974) wurde das Datum zehn Jahre später landesweit festgelegt und das Gedicht selbst per Dekret zum „höchsten Ausdruck des Argentiniertums“ erklärt.

1993 führte Präsident Carlos Menem dann den „Tag des Gauchos“ am 6. Dezember ein – womit sich der für seine Privatisierungspolitik berüchtigte Neoliberale gewissermaßen selbst zum Criollo-Helden ernannte.

An der ambivalenten und schwer fassbaren Figur des Martín Fierro treffen sich die Ideologien und entzünden sich die Konflikte. Am größten wurde seine Bedeutung für die nationale Politik, als er zum Symbol der wohl mächtigsten und vielgestaltigsten politischen Strömung des Landes wurde: dem Peronismus.

Juan Domingo Perón führte 1944, als Arbeitsminister einer Militärregierung, das Statut der Landarbeiter ein, wodurch diese erstmals Rechte gegenüber den Großgrundbesitzern erhielten. Er bezog sich dabei explizit auf den „Martín Fierro“ und schrieb damit eines der folgenreichsten Kapitel in der Geschichte des Gauchomythos. Unter der Militärdiktatur von 1976 bis 1983 wurde das Landarbeiterstatut abgeschafft; 2011 setzte es die linksperonistische Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner wieder in Kraft.

„Martín Fierro begleitet den Peronismus von Anfang an“, sagt der Historiker Matías Emiliano Casas5 über das Epos. „Im Laufe des 20. Jahrhunderts sehen wir drei Ebenen dieser Aneignung: Persönlich zitierte Juan Perón ganze Passagen aus dem Gedicht, wobei er Verse dazu erfand. Auf Regierungsebene förderte der Peronismus zwischen 1946 und 1955 kulturelle Veranstaltungen zur Verbreitung des Textes. Und schließlich begleitete die peronistische Bewegung die Veröffentlichung von Dutzenden Büchern, in denen die Gedankenwelt des Gauchos verherrlicht wird.“

Perón baute seine persönliche Legende auf einer Identifikation mit dem beliebtesten Kind des Landes auf. Angeblich hat ihm sein Vater Hernández’ Buch 1913 geschenkt – das Jahr, in dem er die Militärschule verließ, und, welch Zufall, auch das Jahr der Quasi-Heiligsprechung des Gauchos durch den Nationalisten Lugones.

Ob in der Regierung oder in der Opposition, der Peronismus pflegte den Gaucho-Mythos. Während der Fußballweltmeisterschaft 1978 etwa wählte das Militärregime den Gauchito (kleinen Gaucho) als Maskottchen. Während die Montoneros, peronistische Guerillakämpfer, die der Militärdiktatur Widerstand leisteten, den Gaucho in seiner Rolle als Held der Unterdrückten ebenfalls für sich beanspruchten. Ihren Namen leiteten sie von den Montoneras ab, den paramilitärischen Verbänden während der Unabhängigkeitskriege, die im Wesentlichen aus Gauchos bestanden.

In jüngerer Zeit hat ein anderes in Argentinien geborenes Staatsoberhaupt dem Antihelden aus der Pampa internationale Bedeutung verschafft: In einer Rede vor den Vereinten Nationen 2015 zitierte Papst Franziskus das oberste Gebot des Epos: den Aufruf an „die Brüder, vereint zu bleiben“.

Als einer, der sowohl Spaltung wie Einheit schaffen kann, ist der Gaucho oft mit der peronistischen Bewegung zusammengedacht worden. Jorge ­Luis Borges, ein erklärter Gegner des Peronismus, bedauerte,6 dass nicht „Facundo“ anstelle von „Martín Fierro“ zum nationalen Beispieltext wurde: „Ich behaupte, dass unsere Geschichte anders und besser aussehen würde, wenn wir es als unser exemplarisches Buch kanonisiert hätten.“

Diese alte Debatte ist auch nach 150 Jahren noch nicht abgeschlossen. Der Schriftsteller Alberto Manguel, ehemaliger Leiter der Nationalbibliothek, schloss sich Borges an und sorgte für heftige Reaktionen der Peronisten, die „ihr“ nationales Emblem verteidigten. Und jenseits der Bibliotheken nutzen selbst die Agrarunternehmer den Gaucho-Mythos für ihre Zwecke, wenn sie gegen Exportbeschränkungen auf die Straße gehen.

An „Martín Fierro“ komme niemand vorbei, stellt der Historiker Ma­tías Casas fest: „Keine politische Gruppe, kein Regime, weder die Linke noch die Rechte, weder die Demokratie noch die Diktatur. Früher oder später trifft die Politik auf den Gaucho und muss mit diesem Erbe zurechtkommen.“

1 José Hernández, „Der Gaucho Martín Fierro“, Spanisch und Deutsch, Stuttgart und Córdoba (Abrazos) 2020.

2 Domingo Faustino Sarmiento, „Barbarei und Zivilisation. Das Leben des Facundo Quiroga“, Frankfurt am Main (Die Andere Bibliothek) 2007.

3 Ezequiel Adamovsky, „El gaucho indómito, de Martín Fierro a Perón, el emblema imposible de una nación desgarrada“, Buenos Aires (Siglo XXI) 2019.

4 Carlos Gamerro, „Facundo o Martín Fierro. Los li­bros que inventaron la Argentina“, Buenos Aires (Sud­americana) 2015.

5 Matías Emiliano Casas, „Como dijo Martin Fierro. Interpretaciones y usos del poema durante el siglo XX“, Buenos Aires (Prometeo) 2022.

6 Vorwort zu Sarmiento, „Facundo o Civilización y barbarie en las pampas argentinas“, Buenos Aires (El Ateneo), 1974.

Aus dem Französischen von Nicola Liebert

Fabien Palem ist Journalist.

Le Monde diplomatique vom 13.07.2023, von Fabien Palem