13.07.2023

Südkoreanische Szenen

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Südkoreanische Szenen

Unterwegs im Wunderland des Kapitalismus

von Renaud Lambert

Elendsviertel Guryong LEE JIN-MAN/picture alliance/ap
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Wenn jemand in Südkorea die Werte liberaler westlicher Demokratien infrage stellt, heißt es oft: „Geh doch nach drüben!“ Im Norden werde man dann schon sehen, was es heißt, in einer rückständigen Diktatur zu leben, wo immer noch Menschen hungern.

Auch Südkorea war einmal sehr arm. In den 1950er Jahren gehörte es sogar zu den ärmsten Länder der Welt. Heute ist das Hightech-Land eine der großen Wirtschaftsmächte. Im Bloomberg Innovation Index stand es von 2014 und 2020 siebenmal an der Spitze.1

Doch Südkorea hat zwei Gesichter: Es ist einerseits ein Liebling der Medien, berühmt für seinen K-Pop, wegen dem Jugendliche auf der ganzen Welt Koreanisch lernen;2 auf der anderen Seite Zustände, die im Land unter dem Begriff „Joseon-Hölle“ zusammengefasst werden – in Anspielung auf die Dynastie, die auf der Halbinsel von 1392 bis 1910 herrschte.

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Seoul, 6.27 Uhr in der U-Bahn: Von den fünf Fahrgästen zu meiner Linken schlafen drei tief und fest, das Gesicht in die Hand gestützt oder den Kopf rückwärts ans Fenster gelehnt oder nach vorn zusammengesunken. In den Sitzen gegenüber das gleiche Bild. Keine Erschütterung stört sie, kein Halt weckt die Schläfer auf. Zu groß ist die Erschöpfung, die sicherlich nicht von einer leidenschaftlichen Liebesnacht herrührt: Laut einer Studie von 2021 hatte jeder dritte Hauptstadtbewohner seit mehr als einem Jahr keinen Sex.3

Ko­rea­ne­r:in­nen arbeiten durchschnittlich 1910 Stunden im Jahr – der OECD-Durchschnitt lag 2022 bei 1752 Stunden.4 Es gibt mittlerweile sogar ein eigenes Wort für den Tod durch Überlastung: gwarosa. Doch der Staatspräsident Yoon Suk-yeol ist der Meinung, dass man in Korea immer noch mehr arbeiten könnte. Er würde gern die heute erlaubten maximal 52 Wochenarbeitsstunden auf 69 ausdehnen: „Die Angestellten sollten 120 Stunden in der Woche arbeiten dürfen, danach ruhen sie sich halt aus“, erklärte er letztes Jahr im Wahlkampf.5

„Wenn sich Angestellte weigern zu arbeiten, können die Unternehmen die Nachfrage einfach nicht befriedigen“, klagt auch Kim Ki-moon, Präsident des Verbands der kleinen und mittleren Unternehmen Südkoreas.6 Die meisten Betriebe zahlen nur eine fixe Überstundenpauschale, unabhängig davon, wie viele Stunden jemand tatsächlich gearbeitet hat.

Längere Arbeitszeiten, das ist allen klar, werden sicher nicht mit einer spürbaren Erhöhung der Gehälter einhergehen. Und dass der Urlaub länger werden könnte, wenn die Wochenarbeitszeit höher ist, wie die Regierung behauptet, glaubt auch kaum jemand. Ohnehin lassen 60 Prozent der Ko­rea­ne­r:in­nen ihre Urlaubstage regelmäßig verfallen – meist aus Angst, den Arbeitsplatz zu verlieren.7 Eine der häufigsten Forderungen der koreanischen Arbeiterbewegung lautet: „Lasst uns schlafen!“

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Die Geschichte des Flugbegleiters Park Chang-jin hat Schlagzeilen gemacht, aber, so sagte er, sie sei nur eine unter vielen: „Wie viele erleben das Gleiche, ohne dass man je davon hört?“ Im Dezember 2014 war er Kabinenchef auf einem Flug der Korean Air von New York nach Seoul. Während das Flugzeug zur Startbahn rollte, hörte er Geschrei. Eine Passagierin der ersten Klasse beschimpfte eine Stewardess, weil sie fand, die Nüsse, die sie ihr gebracht hatte, müssten auf einem Teller serviert werden, nicht in der Verpackung.

Park kam der Stewardess zur Hilfe und erklärte der aufgebrachten Kundin, dass die Fluggesellschaften aus hygienischen Gründen dazu verpflichtet seien, Snacks eingepackt zu servieren. Doch die Frau gab keine Ruhe. Schließlich gab sie sich als Cho Hyun-ah, Tochter des Konzernchefs, zu erkennen. Sie verlangte von Park und der Stewardess zur Entschuldigung einen Kniefall, was die beiden tatsächlich befolgten. Aber das reichte ihr immer noch nicht. Sie erzwang, dass das Flugzeug umkehrte und Park durch einen anderen Kabinenchef ersetzt wurde.

Später wurde Frau Cho wegen des Verstoßes gegen das Luftsicherheitsgesetz zu fünf Monaten Gefängnis verurteilt. Doch Park wurde nach dieser Geschichte an seinem Arbeitsplatz so systematisch gemobbt, dass er nach ein paar Jahren kündigen musste. „Meine Geschichte verrät einiges darüber, wie die koreanische Gesellschaft und insbesondere die Wirtschaftselite tickt“, beendet er seinen Bericht.

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Es ist eine Demonstration, wie sie überall stattfinden könnte – nur dass die Protestierenden, anders als überall sonst auf der Welt, darauf achten, dass die unbeteiligten Fußgänger ungehindert die Straße überqueren können. Der Protest richtet sich gegen die geplante Erhöhung der maximalen Wochenarbeitszeit auf 69 Stunden. Neben der Rednerbühne steht ein Polizeitransporter, auf dessen Ladefläche ein riesiger Monitor die Dezibel des Verstärkers anzeigt: 85,9; 81,2; 92,7 und so weiter. Bis zu 95 Dezibel sind erlaubt. Verstöße können mit Haftstrafen von bis zu sechs Monaten bestraft werden.

Im Juni 2022 streikten Arbeiter verschiedener Subunternehmen auf einer Werft von Daewoo, einem der größten koreanischen Konzerne. Sie protestierten gegen die Lohnkürzung um 30 Prozent während der Pandemie. In Korea gilt mehr als die Hälfte der Arbeitskräfte als „irregulär“: prekär Beschäftigte, Scheinselbstständige, Papierlose (meist aus Südostasien und auf Werften besonders zahlreich) und solche, die für Subunternehmer arbeiten und von den Sozialversicherungsleistungen der großen Konzern ausgeschlossen sind.

Die Konzernleitung von Daewoo ging äußerst brutal gegen die Streikenden vor, die die Werft besetzt hatten. Präsident Yoon, für den „Menschen, die streiken, ebenso gefährlich sind wie die nordkoreanischen Atomsprengköpfe“8 , drohte mit dem Einsatz von Spezialeinheiten. „Er hat öffentlich die Frage gestellt, ob der Streik überhaupt legal sei“, erzählt der Gewerkschafter Chong Hye-won von der Koreanischen Metallarbeiter-Gewerkschaft (KMWU).

Tatsächlich schränken unzählige Vorschriften das Streikrecht in Korea ein. Neben dem Straftatbestand der „Geschäftsbehinderung“, die mit Haftstrafen geahndet werden kann, darf beispielsweise nur der eigene direkte Arbeitgeber bestreikt werden. Das heißt in der Praxis, dass Konzerne, die mit vielen Subunternehmern zusammenarbeiten, jeden Streit um Streiks vor Gericht gewinnen.

Früher oder später landet jeder Gewerkschaftsfunktionär einmal im Gefängnis, erklärt Yang Kyeung-so, Vorsitzender der Koreanischen Gewerkschaftsvereinigung (KCTU). Vor Kurzem war er zu einem Jahr Haft verurteilt worden, weil er während der Pandemie einen Streik organisiert hatte. Seit ihrer Gründung 1995 waren sämtliche zwölf Vorsitzenden der KCTU mindestens einmal im Gefängnis.

Diesmal wählte der stellvertretende Vorsitzende der Gewerkschaft der irregulär Beschäftigten in der Daewoo-Werft eine andere Protestform, deren lebensgefährlicher körperlicher Einsatz eine gewisse Tradition in koreanischen Arbeitskämpfen hat: Er ließ einen Käfig von einem Kubikmeter Größe schweißen und sich darin im Rumpf eines Supertankers einschließen.

Wie zu erwarten, setzte das Unternehmen die regulär Beschäftigten unter Druck, sich von den Prekären zu distanzieren, deren Forderungen das gesamte Unternehmen gefährden würden. Das Argument wog schwer, denn die staatliche Koreanische Entwicklungsbank hatte angekündigt, sie werde von Daewoo die Rückzahlung aller Kredite verlangen, sollte der Streik nicht umgehend beendet werden.

Die Arbeiter, die einen Ausgleich für die 30 Prozent Lohnverlust verlangt hatten, gaben sich schließlich mit einer Gehaltserhöhung von 4,5 Prozent und dem Versprechen zufrieden, es werde irgendwann eine Diskussion über das Subunternehmersystem geben.

Das Unternehmen klagte gegen sechs Gewerkschaftsführer und verlangte, sie sollten aus eigener Tasche die Verluste von 47 Milliarden Won (etwa 33 Millionen Euro) erstatten, die durch diverse Produktionsverzögerungen entstanden seien. Die Beklagten beziehen den monatlichen Mindestlohn von ungefähr 2 Millionen Won (1400 Euro). Die Entscheidung des Arbeitsgerichts über die Rechtmäßigkeit der Unternehmensklage steht noch aus. „Wahrscheinlich ­müssen unsere Kollegen bezahlen“, fürchtet Chong.

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Ich wurde öfter, insbesondere von Gewerkschaftern, gefragt, warum die Franzosen so früh in Rente gehen wollen. In Korea würden die Arbeiter das Rentenalter lieber erhöhen: „Am besten auf 73 Jahre.“ Tatsächlich unterscheidet sich das koreanische Rentensystem grundlegend von dem, was in Frankreich die Mehrheit verteidigt.

In Korea liegt das offizielle Renteneintrittsalter bei 60 Jahren. Die staatliche Rente bekommt man jedoch erst mit 65 Jahren. Sie beträgt bei vollem Anspruch 30 Prozent des letzten Arbeitseinkommens. Die meisten Empfänger landen damit in der Armut. Fast alle Koreaner müssen daher länger arbeiten und sind dann so prekär beschäftigt und schlecht bezahlt, dass die eheste Entsprechung für „Bullshit Job“ in Korea „Rentnerjob“ ist.

Nicht nur werden viele mit 60 unfreiwillig in den Ruhestand geschickt, seit Mitte der 2010er Jahre hat die Regierung zudem eine Regelung eingeführt, die das Leben der Älteren zusätzlich erschwert: Bis dahin war es üblich, dass das Gehalt mit der Dauer der Betriebszugehörigkeit steigt. Nun erlaubt der Staat den Unternehmen jedoch, die Gehälter älterer Mit­ar­bei­te­r:in­nen zu reduzieren, angeblich, um die Einstellung von jüngeren Leuten zu fördern. Dadurch sinkt in den letzten, für die Berechnung der Rente entscheidenden Arbeitsjahren der Lohn um bis zu einem Drittel. Die Folge: Mehr als die Hälfte der Armen in Korea ist über 65 Jahre alt.9

Die Selbstmordrate bei den über 80-Jährigen liegt bei erschreckenden 61,3 pro 100 000 Personen. (In Deutschland war diese Rate 2022 nur halb so hoch). Besonders gefährdet sind ältere Männer, die nicht arbeiten. Die Regierung hat darauf inzwischen mit einer merkwürdigen Kampagne reagiert: Auf einem Transparent, das am Rathaus des Stadtbezirks Seong-buk in Seoul hängt, werden die Menschen aufgefordert: „Wenn Sie einen alleinstehenden Mann über 50 kennen, informieren Sie Ihre Stadtverwaltung.“

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Südkorea pflegt sehr enge Beziehungen zu den USA. Mehrere Regierungsmitglieder haben dort ihre akademische Ausbildung abgeschlossen: Kim Sung-han, bis März 2023 Sicherheitsberater von Präsident Yoon, und der Stellvertreter für nationale Sicherheit, Kim Tae-hyo, haben in den USA Doktortitel in Politikwissenschaften erworben, der eine in Texas, der andere in Chicago; Wang Yun-jong, präsidialer Sekretär für Wirtschaftssicherheit, hat in Yale promoviert, und der Minister für Vereinigung, Kwon Young-se hat seinen Master in Business Administration an der Kennedy School in Harvard gemacht.

Am Flughafen Seoul gibt es einen gesonderten Schalter für Einreisende mit US-Staatsangehörigkeit. Der populäre US-Militärsender AFN The Eagle Yongsan ist überall zu empfangen – mitten in der Hauptstadt, im heute hippen Ausgehviertel Itaewon, lag bis 2018 ein wichtiger US-Militärstützpunkt. Heute begeben sich die meisten Reisenden aus den USA direkt nach Pyeong­taek ins Camp Humphreys, der größten Militärbasis außerhalb der USA.

Hier leben mehr als 28 000 Soldaten. Zusammen mit ihren Familien und den koreanischen Hausangestellten zählt die „Stadt in der Stadt“, in der es mehrere Grundschulen, eine Highschool, eine Universität, ein riesiges Spaßbad, ein Kino, einen Supermarkt und einen Golfplatz gibt, insgesamt rund 43 000 Einwohner. „Südkorea beteiligt sich jährlich mit einer Milliarde Dollar am Unterhalt“, erzählt Hyun Pilkyung, Direktor des Institute for Reappropriation of American Military Bases. „Das amerikanische Militär zahlt die niedrigsten Preise für Strom, Wasser und Gas im ganzen Land. Und wenn ein amerikanischer Soldat eine Straftat begeht, untersteht er der Militärgerichtsbarkeit auf dem Stützpunkt.“

In Camp Humphreys, dem China nächstgelegenen US-Stützpunkt, sind Patriot-Flugabwehrsysteme, Apache-Hubschrauber und Hochleistungsradaranlagen stationiert. Wenn ein U2-Überwachungsflugzeug von der wenige Kilometer entfernten Luftwaffenbasis startet, „wackeln bei uns die Wände“, sagt Hyun. Hier misst kein Polizeiwagen die Dezibel. Der Stützpunkt ist für die US-Armee von größter Bedeutung. Käme es zu einem Friedensschluss mit Nordkorea, gäbe es für den ganzen Aufwand allerdings keine Rechtfertigung mehr.

Ein weiteres Relikt aus dem Koreakrieg (1950–1953)10 : Im Fall eines bewaffneten Konflikts untersteht die südkoreanische Armee dem US-Generalstab. Kein Wunder, dass oft gesagt wird, Südkorea sei weniger ein Land mit einem US-Stützpunkt in der Mitte, sondern eher ein US-Stützpunkt mit einem Land.

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„Hier sehen Sie das koreanische Wunder.“ Yoon Yong-ju empfängt mich in seinem dreimal drei Meter großen Zimmer, das man durch eine 1,30 Meter hohe Tür betritt. „Ich habe Glück, ich wohne in einer der angenehmsten Wohnungen des Viertels. Sie ist hell, und das Zimmer ist ziemlich groß.“ In diesem Viertel in Bahnhofsnähe zählen die Mieten zu den höchsten in der Hauptstadt. Doch gewiss nicht hier, wo Yoon wohnt, dieser Ansammlung elender Häuser, in dem die Schiffbrüchigen des koreanischen Wirtschaftswunders gestrandet sind. Man mag es kaum glauben, aber Yoon hat recht: Seine Bleibe wirkt luxuriös im Vergleich zu den anderen Behausungen, die deren Eigentümer, die selbst im Luxusviertel Gangnam wohnen, für umgerechnet 130 Euro (190 000 Won) vermieten: ein Viertel der Sozialhilfe, die der koreanische Staat den Bedürftigsten zahlt. Dafür bekommt man ein Zimmer in einem heruntergekommenen Haus, anderthalb mal zwei Meter groß, ohne Fenster und ohne Heizung.

„Ich war Baggerfahrer, als 1997 die Asienkrise ausbrach“, erzählt Yoon. Damals zwang der Internationale Währungsfonds Korea zu einem rigorosen Sparkurs. Die Unternehmen nutzten die Situation, um festangestellte Mitarbeiter erst zu entlassen, um sie dann wieder prekär zu beschäftigen. „Meine Firma hat mich rausgeworfen. Und ich bin beim Alkohol und im Elend gelandet.“ Yoon ist Diabetiker und Alkoholiker. Irgendwann mussten ihm beide Beine amputiert werden. „Ich bin in dieses Viertel gekommen und dachte, ich würde nur ein paar Monate hierbleiben, um mich wieder zu berappeln. Jetzt sind es achtzehn Jahre.“

Rund 1000 Menschen wohnen hier. „Sie sind wie ich“, fährt Yoon fort. „Keine Außenseiter, sondern Leute, die hart gearbeitet haben, um das Land nach dem Krieg wieder aufzubauen. Leute, die sich aufgeopfert haben und die der Staat im Stich gelassen hat. Keiner von uns bekommt eine Rente, weil niemand lange genug eingezahlt hat.“ Inzwischen ist Yoon trocken, und er malt, unterstützt von einem befreundeten Fotografen. Außerdem ist er Präsident des Quartiervereins: „Wir kümmern uns darum, dass die Bewohner untereinander in Kontakt bleiben, damit sie nicht ihren Lebensmut verlieren. Hier gibt es viele Depressive.“

Während seiner Amtszeit zwischen 2017 und 2022 hat Präsident Moon die Unterstützung für die Ärmsten erhöht. „Sofort haben die Eigentümer unsere Miete entsprechend hochgesetzt.“

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Lee Yae-joung, ein ehemaliger Abgeordneter der konservativen People Power Party (PPP), konnte sich nicht mit mir im Stadtzentrum treffen und schlug einen weit entfernten Treffpunkt vor, was zeitlich nicht zu schaffen war. Ein Interview per E-Mail lehnte er jedoch ab und gab uns einen neuen Termin vor. Als ich der Übersetzerin sagte, dass ich da schon andere Verabredungen und keine Zeit hätte, riss sie erschrocken die Augen auf. Ich bat sie, Herrn Lee meine besten Grüße auszurichten und dass ich ihn gern bei meinem nächsten Besuch in Korea treffen würde. Die junge Frau gab die Nachricht weiter, die aber gar nicht gut ankam.

Nach meiner Absage teilte Lee dem Generaldirektor der Abteilung für internationale Beziehungen seiner Partei mit, dass ich der PPP gegenüber möglicherweise feindselig gesonnen sei. Daraufhin rief der Generaldirektor wiederum die Übersetzerin an und verlangte, dass ich mich schriftlich bei Lee entschuldigen sollte – was ich nicht tat. Aber ich dankte ihm für die erhellenden Einblicke in die Beziehung zwischen Medien und Politik in Korea.

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Ende 1945 schuf die koreanische Linke die ersten Grundlagen für einen souveränen und demokratischen Staat. Die Kapitulation Japans, das Korea seit 1910 besetzt und die Industrialisierung im Land vorangetrieben hatte, stärkte eine Linke, für die Antiimperialismus und soziale Frage untrennbar zusammengehörten. Das 1945 gegründete Komitee zur Vorbereitung der Unabhängigkeit Ko­reas wurde maßgeblich von Arbeitern geprägt, die gerade aus der japanischen Gefangenschaft zurückgekehrt waren.

1945 übertrugen die UN der Sowjetunion und den USA die treuhänderische Verwaltung des Landes, das in zwei Teile geteilt wurde. Südlich des 38. Breitengrads griff die Militärregierung der US-Armee in Korea (Usamgik) hart durch: Sie löste die Volksorganisationen auf, unterdrückte Streiks und überließ den einstigen Kollaborateuren der Japaner die Führung. Laut dem Historiker Choi Jang-jip wurde der Washingtoner Antikommunismus das „Leitprinzip bei der ideologischen Legitimation des südkoreanischen Staats“11 .

Zwischen 1948 und 1949 wurden auf der Insel Jeju 30 000 Menschen (ein Zehntel der Inselbevölkerung) getötet, nachdem es dort zum Aufstand gegen den von Washington eingesetzten Diktator Rhee Syng-man gekommen war.

Jahrelang waren die Kerker des Landes voll mit Partisanen, die im Koreakrieg zwischen dem Norden und dem Süden für die nationale Befreiung gekämpft hatten. Sie wurden gefoltert, damit sie ihre politischen Überzeugungen aufgeben. „Ich sollte eine Erklärung unterschreiben, in der ich mich verpflichte, an vorderster Front für die Ausrottung des Kommunismus zu kämpfen“, erzählt der 94-jährige Ahn Hak-sop, der fast 43 Jahre im Gefängnis saß. „Bei jedem Folterverhör verlor ich das Bewusstsein. Das Erste, was ich anschaute, wenn ich wieder zu mir kam, waren meine Hände: War Tinte dran? Hatten sie versucht, meinen Fingerabdruck unter eine falsche Loyalitätserklärung zu setzen? Dann hätte ich alles verloren.“ In den 1980er Jahren errichtete die Diktatur ein Netz von Umerziehungslagern, in denen mehr als 40 000 Menschen inhaftiert waren, meist wegen „kommunistischer Umtriebe“.

Mit dem Übergang zur Demokratie änderten sich ab 1987 zwar die Methoden, nicht aber das Ziel: „In meine Grundschule kamen regelmäßig Regierungsvertreter, Leute vom Geheimdienst oder sogar geflüchtete Nordkoreaner“, erzählt ein junger linker Aktivist, der anonym bleiben will. „Alle erklärten uns, dass der Kommunismus eine Bedrohung sei und wir alles tun müssten, um ihn zu vernichten.“

Ppalgaengi, kleiner Roter, ist das gängige Schimpfwort für Kritiker der herrschenden Wirtschaftsordnung. Seit der neoliberalen Wende, die dem Land nach der Asienkrise von 1997 aufgezwungen wurde, kann man dieses Etikett schon verpasst bekommen, wenn man für eine sozial gerechtere Gesellschaft eintritt – und dafür sogar ins Gefängnis kommen.

Die wichtigsten Artikel des Nationalen Sicherheitsgesetzes, das Präsident Rhee 1948 installiert hat, gelten bis heute. Laut Artikel 7 macht sich „jede Person, die die Aktivitäten von Antiregierungsorganisationen lobt, unterstützt oder bekanntmacht“ strafbar. Jedwede Kapitalismuskritik gilt in den Augen der südkoreanischen Behörden als Unterstützung Nordkoreas. Parteien, die sich selbst als kommunistisch bezeichnen, sind verboten, der Marxismus wird nur in der akademischen Lehre geduldet.

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Zwischen Oktober 2016 und März 2017 gingen die Süd­ko­rea­ne­r:in­nen immer wieder auf die Straße, wegen eines Korruptionsskandals um die amtierende Präsidentin Park Geun-hye. Diese „Kerzenrevolution“ erzwang Parks Rücktritt. Ihr Nachfolger wurde Moon Jae-in von der sozialliberalen Demokratischen Partei (Deobureo-minju-dang), die weniger rechts ist als Parks mittlerweile aufgelöste „Freiheitspartei“ (Jayu-hanguk-dang). Moon galt als Hoffnungsträger für die Demokratie – vor allem wegen seines Versprechens, die prekären Beschäftigungsverhältnisse im öffentlichen Dienst zu beseitigen.

„Im Koreanischen gibt es einen Ausdruck, der sich als ‚Qual der Hoffnung‘ übersetzen lässt“, erklärt uns Jin Young-ha, Gewerkschaftsfunktionär der KCTU. „Er bezieht sich auf ein Versprechen, von dem man weiß, dass es nicht gehalten wird. Und so ist es gekommen.“

Gleich nach seiner Amtseinführung im Mai 2017 besuchte Moon den Flughafen Incheo bei Seoul, um dort prekär Beschäftigte im öffentlichen Dienst zu treffen und zu zeigen, dass er Wort halte. „Wie so oft waren die meisten bei Subunternehmen angestellt, die befristete Verträge mit dem Staat abgeschlossen hatten“, so Jin. „Wenn ein Vertrag mit Subunternehmer A auslief, unterzeichnete der Staat einen neuen Vertrag mit Subunternehmer B, und die Beschäftigten von A wurden entlassen.“ Da Abfindungen erst nach mindestens zwölf Monaten gezahlt werden, endeten die meisten Verträge nach elf Monaten. „Bei Moons Besuch weinten manche Beschäftigte vor Freude“, erinnert sich Jin. „Und Moon versprach, die ‚Tränen der prekär Beschäftigten zu trocknen‘.“

Moon verpflichtete die Subunternehmer dazu, die Beschäftigten ihres Vorgängers zu übernehmen, aber die Arbeitsbedingungen änderten sich nicht. „Die Verträge sind meistens kürzer als zwölf Monate, und jede Verlängerung wird wie eine Neueinstellung behandelt: Die Beschäftigten erwerben also keinerlei Ansprüche. Moon hat zwar eine Form des Prekariats abgeschafft, aber die Hoffnung auf eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen zunichte gemacht. Ist das ein Fortschritt?“, fragt Jin.

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Sie sind da. Tag und Nacht sind sie da, vor der US-Botschaft. Egal ob es regnet, stürmt oder schneit. Manchmal bleiben Passanten stehen, die meisten gehen weiter. Mitglieder der 2016 gegründeten People’s Democracy Party lösen einander bei der Mahnwache vor der US-Botschaft ab. Sie fordern der Abzug der US-Truppen: „Solange die Amerikaner da sind, werden die Koreaner nicht frei sein.“ Ob das Leben im „Land des ruhigen Morgens“ danach leichter wird, ist allerdings fraglich – auffällig ist jedenfalls das Schwinden der Bevölkerung. Fast nirgendwo auf der Welt werden gerade so wenig Kinder geboren wie in Südkorea.12

1 Siehe Jacob Fohtung, „How South Korea became the most innovative country“ in the world“, Christensen Institute, 9. November 2021.

2 Siehe Maya Jaggi, „Die koreanische Welle“, LMd, Dezember 2022.

3 Yoon Ja-young, „One in three Seoulites have sexless life: Study“, The Korea Times, Seoul, 6. Juli 2021.

4 Siehe „Hours worked“, OECD Data. In der Schweiz waren es 2022 durchschnittlich 1529 Arbeitsstunden, in Frankreich 1490, in Österreich 1444 und in Deutschland 1349. Spitzenreiter sind allerdings Costa Rica (2149), Mexiko (2226) und Kolumbien (2405 Arbeitsstunden).

5 Zitiert von Nam Hyun-woo, „Workweek reform plan likely to fizzle out“, The Korea Times, Seoul, 25. März 2023.

6 Jun Ji-hye, „Korea pushes to raise cap on maximum weekly work hours“, The Korea Times, 6. März 2023.

7 „Return to overwork“, The Korea Times, 8. März 2023.

8 „Labor reform planW, The Korea Times, 14. Dezember 2022.

9 Korea Labor & Society Institute, „Korea Labor Policy Agenda 2020“, Friedrich Ebert Stiftung, Seoul, September 2020.

10 Siehe Bruce Cumings, „Napalm über Nordkorea“, LMd, Dezember 2004.

11 Zitiert von Lee Nam-hee, „The Making of Mijung. Democracy and the Politics of Representation in South Korea“, Ithaca (Cornell University Press) 2009.

12 Nur in Hongkong war 2022 die Geburtenrate (0,76) noch niedriger als in Südkorea (0,87).

Aus dem Französischen von Claudia Steinitz

Le Monde diplomatique vom 13.07.2023, von Renaud Lambert