Spaniens Rechte und das Erbe Francos
Eine kleine Geschichte des Partido Popular
von Maëlle Mariette
Mit ernster Miene kündigte Spaniens Regierungschef Pedro Sánchez Ende Mai in einer Fernsehansprache für den 23. Juli Neuwahlen an. Damit werden die ursprünglich zum Jahresende geplanten Parlamentswahlen vorgezogen. Der Grund: Am Tag vor dieser überraschenden Ankündigung hatte Sanchez’ Sozialistische Arbeiterpartei (Partido Socialista Obrero Español, PSOE) bei den Kommunal- und Regionalwahlen eine krachende Niederlage einstecken müssen.
Dagegen gewannen Spaniens Konservative mit ihrem Partido Popular (PP) die Wahlen in sechs der zehn Regionen, in denen bislang die Sozialisten allein oder in einer Koalition regiert hatten. In fünf der sechs Regionen ist die PP allerdings auf die Unterstützung der rechtsextremen Vox-Partei angewiesen. Der PP eroberte außerdem vier der fünf größten Städte, darunter Valencia und Sevilla, das bislang eine Hochburg der Sozialisten war. Nur in Barcelona siegte ein unabhängiger Kandidat.
Die Wurzeln des Partido Popular reichen in die Zeit des Franquismus zurück, den General Franco nach seinem Sieg im Spanischen Bürgerkrieg über die Republik 1939 etablierte. Die PP-Führungsriege besteht zum Teil aus den Kindern und Enkeln der franquistischen Politikerelite – speziell jener reformorientierten Kräfte, die unter Franco eine Randgruppe bildeten. 1975 starb der Diktator. Doch seine ehemaligen Minister und Funktionäre waren noch da und beteiligten sich auf die eine oder andere Weise an Spaniens „Transición“, wie die Periode des politischen Übergangs von 1975 bis 1982 genannt wird.
So gründete Manuel Fraga Iribarne (1922–2012), während der Diktatur Informations- und Tourismusminister, im Oktober 1976 die Alianza Popular (AP), aus der mehr als zehn Jahre später der Partido Popular hervorging. Konzipiert wurde die AP als Wahlbündnis aus sieben politischen Organisationen, angeführt von ehemaligen Franco-Ministern – den sogenannten glorreichen Sieben (los siete magnificos). Sie bildeten politisch das ganze Spektrum des faschistischen Regimes ab: Technokraten und Christdemokraten, Falangisten und die eng mit dem reaktionären Orden Opus Dei verbandelten katholisch-nationalistischen Traditionalisten.1
„Die AP wurde gegründet, um sich an dem politischen Prozess zu beteiligen, der nach dem Ende des Franquismus in Gang kam. Sie wollte den Wandel mitgestalten und das politische Vakuum füllen, das Franco hinterlassen hatte“, sagt der einstige AP-Generalsekretär Jorge Verstrynge. Um nicht „aus dem System ausgeschlossen zu werden“ ließen sich die Organisationen der Alianza Popular auf die Teilnahme an den ersten freien Wahlen ein, die am 6. September 1978 in die bis heute geltende Verfassung mündeten. Allerdings „weigerte sich die Hälfte der AP-Abgeordneten für die Verfassung zu stimmen. Sie störten sich hauptsächlich an der Autonomie, die den Regionen zugestanden wurde“, so Jorge Verstrynge.
Die Gräben zwischen den einzelnen Fraktionen und das schlechte Abschneiden bei den Parlamentswahlen 1982 und 1986, die der PSOE mit großem Vorsprung gewann, stürzten die AP in die Krise. Daraufhin verordnete Fraga der Partei weniger Demokratie und mehr Hierarchie. Aus der AP wurde der PP. 1989 übergab Fraga den Parteivorsitz an den ehrgeizigen und jungen José María Aznar, der seit 1987 Präsident der autonomen Region Castilla y Léon war.
Aznar baute mit seinem jungen Team effektive Parteistrukturen auf, die die landesweite Präsenz des PP stärken sollten. Sein erklärtes Ziel war eine große und geeinte rechte Partei, in der „liberale, konservative und christdemokratische Vorstellungen ohne Weiteres koexistieren können“. Doch die versprochene „Koexistenz“ hatte ihre Grenzen. 1996 stellte Aznar kurz vor dem 12. Parteitag klar: „Die Steckdose habe ich, und wer da seine Finger reinsteckt, fängt sich einen Stromschlag ein.“2
„Die Rechte hatte große Mühe, eine starke Partei aufzubauen, die es mit dem PSOE aufnehmen kann“, sagt der Politologe Pablo Simón von der Madrider Universität Carlos III. „Fast 20 Jahre waren sie in der Opposition.“ Deshalb habe Aznar der Partei eine sehr straffe, stark zentralisierte Hierarchie mit präsidialen Zügen verpasst. Der seit 2022 amtierende Parteichef Alberto Núñez Feijóo wurde von den Parteioberen nominiert und ohne Gegenkandidat gewählt: „Im Grunde wurde er kurzerhand von der Führungsspitze ernannt.“
Der Historiker Pablo Carmona sieht darin ein Indiz, dass die Partei nach wie vor autoritären Strukturen verhaftet ist. „Das ist eine ausgesprochen franquistische Tradition“, so Carmona. „Gegen Ende des Bürgerkriegs forderte Franco mit seinem berühmten ‚Vereinigungsdekret‘ quasi-militärischen und bedingungslosen Gehorsam gegenüber der Hierarchie. Es könne nicht mehrere politische Kräfte geben, sondern nur eine. Dementsprechend vereinte Franco die verschiedenen ‚Falangen‘ unter einem gemeinsamen Dach. Das war der Ursprung der in der AP und im PP verbreiteten Vorstellung, dass die Rechte gegen ihre Gegner Geschlossenheit zeigen müsse – gegen Regionalisten, Linke, Kommunisten, Freimauer und so weiter.“ Das Gleiche gelte für die kommunale Ebene: Die Parteizentrale hat fast alle lokalen und regionalen Parteichefs mehr oder weniger auf Linie gebracht. Mitunter zwingt die Zentrale den Parteivertretern vor Ort sogar ihre Kandidaten auf.
Eines der Hauptprobleme der spanischen Rechten besteht darin, dass sie im Gegensatz zu den konservativen Parteien in anderen europäischen Ländern an keine landestypische Tradition anknüpfen kann. Die britischen Tories zum Beispiel können sich auf eine illustre konservative Denkschule berufen, die demokratiekompatibel und der Allgemeinheit vermittelbar ist.
Mit dem Übergang zur Demokratie wurde die Legitimierung der AP (und später des PP) durch politisch korrekte historische Vorläufer zur Notwendigkeit. So berief sich die postfranquistische Rechte ideologisch auf einen Staatsmann der konstitutionellen Monarchie, Antonio Cánovas del Castillo (1828–1897). Sie versuchte sich als Cánovas demokratische „Enkel und nicht als Kinder Francos“ zu präsentieren.3 Einen zweiten Bezugspunkt lieferte die neoliberal-konservative Gegenrevolution der 1980er Jahre, angeführt von der britischen Premierministerin Margaret Thatcher (1979–1990) und US-Präsident Ronald Reagan (1981–1989).
Viele Mitglieder der jungen PP-Generation, die wie der frühere Falangist Aznar aus der traditionellen Rechten kamen, entwickelten sich zu Ultraliberalen, weil der Neoliberalismus „einen modernen theoretischen Rahmen lieferte, den sie gegen den Sozialismus ins Feld führen konnten, und zugleich anschlussfähig für die konservative Rechte ist“, erklärt Historiker Javier Tusell Gomez.4
„Die Idee war, den Diskurs der traditionellen Rechten zu erneuern und mit einer neoliberalen Logik zu unterfüttern, mit der man die Sozialisten vom Thron stoßen und an Popularität gewinnen konnte“, analysiert Pablo Carmona. „Man musste das Erbe des Franquismus und seiner stark interventionistischen Wirtschaftspolitik zum Teil über Bord werfen. Gefragt waren ein Konservatismus mit europäischerem Antlitz, eine doktrinärere Form von Liberalismus und eine stärker transatlantische Ausrichtung.“
Viele führende PP-Vertreter verfolgten mit Interesse die Wahlerfolge der „neuen“ Sozialdemokraten in Großbritannien und Deutschland und betonten, dass die pragmatische, transatlantische und neoliberale Politik, die Tony Blair und Gerhard Schröder vertraten, sehr nah dran sei an Aznars Ideologie der „reformorientierten Mitte“.
Nach 20 Jahren in der Opposition wurde der PP am 3. März 1996 von der klassischen Wählerklientel der europäischen Rechten an die Macht gewählt: „Männer, Besserverdienende, konservative Katholiken und Kleinunternehmer waren damals überrepräsentiert“, erzählt Guillermo Fernández Vázquez, Politologe an der Madrider Universität Carlos III. Die Wählerschaft war ziemlich gleichmäßig über das Land verteilt – Katalonien und das Baskenland ausgenommen.
Der Wahlsieg war allerdings knapp. Der PP entschärfte sein Programm, um in Zukunft für breitere Bevölkerungsgruppen wählbar zu werden und eine stabile Mehrheit im Parlament zusammenzubekommen: Er war auf die Unterstützung der beiden wichtigsten nationalistischen Parteien im Land angewiesen: die katalanische Convergència i Unió (CiU) und der baskische Partido Nacionalista Vasco (PNV), die sozial- und wirtschaftspolitisch ähnlich ausgerichtet sind wie der PP und denen Aznar offenbar nicht zutraute, dass sie mit ihrer konservativen Prominenz die Einheit des Landes ernsthaft gefährden würden.
Die erste Regierung Aznar fiel nicht durch besondere Kreativität auf. Sie setzte auf neoliberale Rezepte: Deregulierung, Steuersenkungen, Privatisierung, strenge Haushaltsdisziplin und Priorität für den Beitritt zur Europäischen Währungsunion. Überraschend war, dass die neue Regierung einen gewissen Abstand zur Kirche wahrte und aus taktischen Gründen die Legalisierung der Abtreibung nicht rückgängig machte. Als der PP jedoch im Jahr 2000 die absolute Mehrheit in den Cortes errungen hatte, reinstallierte er per Gesetz den obligatorischen Religionsunterricht an staatlichen Schulen. Aznar besann sich also wieder mehr auf die ideologischen Wurzeln seiner Partei.
In einem seiner Bücher forderte Aznar 1995 eine zweite Transición, in der Spanien sich von seinem „historischen Komplex“ befreien müsse: „Als Reaktion auf die franquistische Vergangenheit hat die Linke eine Attitüde entwickelt, die unsere Geschichte und unsere frühere Stellung in der Welt verleugnet oder sich ihrer schämt.“5
Während Aznars Regierungszeit trat der Geschichtsrevisionismus der Konservativen offen zutage.6 Die „neuen Historiker“, allen voran der Journalist und Schriftsteller Pío Moa, erklärten, der franquistische Aufstand gegen die Republik sei angesichts der „kommunistischen Bedrohung“ berechtigt gewesen. Nur eine Militärregierung habe „die Ordnung wiederherstellen können“. Franco habe in Spanien die Weichen auf Wohlstand und Demokratie gestellt. In einer Zeit der totalitären Gefahren in Europa sei der Franquismus in den „liberaleren“ konservativen Kreisen alternativlos gewesen.
Aznars Regierungen übernahmen zwar nicht die beliebtesten Behauptungen über das Caudillo-Regime, aber sehr wohl das ideologische Gedankengut, das von der Kirche und rechten Medien propagiert wurde (darunter die auflagenstärksten Tageszeitungen des Landes El Mundo, ABC und La Razón und die Radiosender der Cope-Gruppe, die der katholischen Kirche Spaniens gehört). Moa durfte zur besten Sendezeit im öffentlich-rechtlichen Fernsehen auftreten, und Aznar behauptete, eins von Moas Büchern sei seine Abendlektüre.
Auch sonst verwandte Aznar großen Eifer darauf, eine Neuinterpretation der spanischen Geschichte in Umlauf zu bringen. Beim XIV. Parteitag des PP im Januar 2002 in Madrid wurde explizit Bezug genommen auf ein Papier, das sich mit dem Verfassungspatriotismus im 21. Jahrhundert befasst. Spanien, hieß es da, sollte stolz sein auf seinen „Beitrag zur universellen Geschichte und Kultur “ und seine Verwurzelung in die beiden Welten Europas und Amerikas.7
Der Wunsch, an das siglo de oro anzuknüpfen, das Goldene Zeitalter im 16./17. Jahrhundert, als die kolonialen Eroberungen Spaniens sich über die ganze Welt erstreckten, ging beim PP Hand in Hand mit der Annäherung an die Vereinigten Staaten von Amerika, die mit dem Ende der Sowjetunion eine konkurrenzlose geopolitische Vormachtstellung erreicht hatte. Mit den USA hatte bereits Franco 1953 ein Abkommen geschlossen, um sein Regime aus der internationalen Isolation zu führen.
So beteiligte sich die Regierung Aznar im Frühjahr 2003 an der US-Invasion im Irak. Damit stellte sie sich gegen die öffentliche Meinung im Land und gegen sämtliche anderen spanischen Parteien. Sie verstieß auch gegen die Verfassung, nach der die Regierung vor einem Kriegseintritt die Zustimmung des Parlaments einholen muss. Während Frankreich unter Präsident Chirac8 und die rot-grüne Koalition in Berlin die US-Invasion vehement ablehnten, wollte Aznar Spanien zum Anführer eines „neuen“ und „starken“ Europas machen – auf der Basis der transatlantischen Verbundenheit und des wirtschaftspolitischen Liberalismus. Die Rechnung ging nicht auf: Im Jahr darauf kam der PSOE wieder an die Regierung.
Auf einem Foto vom Azoren-Gipfel im März 2003 steht der spanische Ministerpräsident glückstrahlend neben US-Präsident Bush und dem britischen Premier Tony Blair. „Wenige Jahre zuvor noch undenkbar“, bemerkte mit freudiger Genugtuung Ignacio Cosidó vom konservativen Thinktank Grupo de Estudios Estratégicos.9 Dieser gemeinsame Auftritt markierte den außenpolitischen Höhepunkt des PP unter Aznar.
Ein Jahr später, am 11. März 2004 – drei Tage vor den Parlamentswahlen, verübten islamistische Terroristen Anschläge auf mehrere Vorortzüge in Madrid mit zahlreichen Opfern. Der deutliche Vorsprung, den die meisten Umfragen dem PP bescheinigt hatten, ging verloren. Dass die Regierung bis kurz vor der Wahl wahrheitswidrig bei ihrer Behauptung blieb, die baskische Terrororganisation ETA sei für den Anschlag verantwortlich – obwohl die Beweise für das Gegenteil sich häuften – schwächte ihre Glaubwürdigkeit.
Der PP pflegt – trotz der beschworenen „konstitutiven Pluralität“ – eine nationale Gesinnung und einen spanischen Zentralismus; jede Form von regionaler Autonomie lehnt sie ab und bleibt damit der Linie der radikalnationalistischen postfranquistischen Rechten treu, die während der Transición an der Ausarbeitung der Verfassung beteiligt war.10 1979 schrieb der damals 26-jährige José María Aznar in der Tageszeitung La Nueva Rioja: „Man darf nicht vergessen, dass Spaniens Größe auch auf seiner Einheit beruht.“11
Manuel Milián, einer der Gründer der katalanischen PP und ein Vertrauter Manuel Fragas, saß von 1989 bis 2000 als Abgeordneter für Barcelona im Parlament und erinnert sich: „Als der PP 1989 gegründet wurde, habe ich mich vehement für die Regionalisierung der Partei eingesetzt, damit sie in jeder Region das für sie passende Personal und ihre jeweiligen Eigenarten entwickeln kann – ähnlich wie in einem Bundesstaat. Doch davon wollte Aznar nichts wissen. Er wollte seine ‚kastilische‘ Vision Spaniens durchsetzen. Für ihn ist Spanien absolut ‚eins‘. Die Vielfalt des Landes begreift er nicht.“
Fernando García de Cortázar, Historiker des neokonservativen Thinktanks Fundación para el Análisis y los Estudios Sociales (FAES), den Aznar 1989 ins Leben gerufen hat und dessen Vorsitzender er heute ist, begründet diese Politik mit der „moralischen Überlegenheit der spanischen Nation (…) über das provinzielle Stammesdenken der peripheren Nationalismen“.12
Als sich die sozialistische Regierung unter José Luis Rodríguez Zapatero 2005 an die Reform des Autonomiestatuts von Katalonien machte, die im Mai 2006 verabschiedet wurde, empörten sich der PP und die rechten Medien über die „sprachliche Diskriminierung“ des Kastilischen in Katalonien oder im Baskenland, riefen zum Boykott katalanischer Produkte auf und behaupteten fälschlicherweise, das neue katalanische Autonomiestatut erlaube Polygamie und Sterbehilfe.
Das Statut „zerstöre Spaniens Einheit“, schimpften sie, werde das Land „zersetzen“ und „balkanisieren“. So schürten sie erst recht die Polarisierung innerhalb der spanischen Gesellschaft. Laut Milián ist diese Haltung des PP der Grund für den „Hypernationalismus, den wir heute im Zusammenhang mit den Unabhängigkeitsforderungen Kataloniens beobachten“. Schon als Aznar 2000 die absolute Mehrheit gewann, war es zum Bruch mit den Katalanen gekommen: „Er war auf die Katalanen nicht mehr angewiesen und ignorierte sie vollständig.“ Mariano Rajoy, der 2004 die Parteiführung übernahm und von 2011 bis 2018 Regierungschef war, setzte Aznars Politik fort.
2010 wurde das katalanische Autonomiestatut vom Verfassungsgericht aufgehoben, nachdem der PP dagegen geklagt hatte. „Das war der Funke für das Pulverfass“, berichtet Milián. „Was folgte, ist bekannt: die einseitige Unabhängigkeitserklärung Kataloniens im Oktober 2017.“ Nach einem Referendum, das der spanische Staat für rechtswidrig erklärte und das von massiver Polizeigewalt überschattet wurde, votierte die Bevölkerung in der Region für die Unabhängigkeit.
Nach wochenlangen Spannungen, Protestkundgebungen und Streiks lehnte die Regierung Rajoy, obwohl Spanien in dieser Frage in zwei Lager gespalten war, selbstherrlich jede Vermittlung ab und wandte zum ersten Mal in der Geschichte des Landes den Artikel 155 der Verfassung an, der es ermöglicht, eine ganze Region unter Vormundschaft zu stellen. Es war ein Abdriften ins Autoritäre.
Aznar hatte Rajoy eigenmächtig zum Parteivorsitzenden bestimmt, weshalb seine Legitimität so lange in Frage gestellt wurde, bis er 2011 die Wahlen haushoch gewann. Das Rekordergebnis verdankte der PP der Finanzkrise von 2008, und der folgenden einschneidenden Wirtschaftskrise, die der sozialistischen Regierung von Rodríguez Zapatero massiv schadete.
Doch die Zwistigkeiten, die bis dahin stets parteiintern ausgetragen worden waren, traten jetzt auch außerhalb der Partei zutage: Der Aznar nahestehende neokonservative PP-Flügel warf Rajoy vor, in gesellschaftspolitischen Fragen wie der Verteidigung religiöser Werte, Abtreibung oder gleichgeschlechtlicher Ehe einen zu moderaten Kurs zu fahren. Rajoys politisches Markenzeichen war eine pragmatische Entideologisierung der Partei. Laut dem FAES-Direktor Javier Zarzalejos ist der PP damals „in Richtung reines Management, Common Sense, Pochen auf Gesetze und störungsfreie Parteitage abgebogen“.13
Zum Verhängnis wurde Rajoy die Katalonienfrage. Die Unzufriedenheit mit seinem Krisenmanagement führte zum Erstarken der neuen Parteien: der rechtsliberalen Ciudadanos und der rechtsextremen Vox. Die Befürchtung, die den PP seit seiner Gründung verfolgt hatte, wurde wahr: Die Rechte spaltete sich.
Die 2006 gegründeten Ciudadanos (Bürger) legten in Katalonien 2015 im Zuge der politischen Repräsentationskrise mächtig zu, die sich schon seit ein paar Jahren in der Bewegung der Indignados, der „Empörten“, niederschlug. Die mittlerweile bedeutungslosen Ciudadanos pflegten ein Image moderner Fortschrittlichkeit und damit einen Gegensatz zum PP, der noch dazu mit seinen gehäuften Korruptionsaffären in Verruf geraten war.
Nach sechs Jahren als Regierungschef wurde Rajoy im Juni 2018 durch ein Misstrauensvotum zu Fall gebracht, nachdem er und seine Partei – ein Novum in der spanischen Demokratiegeschichte – wegen institutionalisierter Korruption in der sogenannten Gürtel-Affäre14 verurteilt worden waren. Rajoys Nachfolger als Regierungschef wurde der Sozialist Pedro Sánchez.
Auch die 2013 gegründete Rechtsaußenpartei Vox erlebte einen rasanten Aufstieg und trat im Oktober 2017 im Kontext der Katalonienkrise prominent in Erscheinung, als deren Anhänger überall in Spanien bei den Kundgebungen für die Verteidigung der Nation in vorderster Reihe marschierten und dazu aufriefen, aus Protest gegen das katalanische Referendum spanische Flaggen an die Balkone zu hängen. Bei den Regional- und Kommunalwahlen vom 28. Mai 2023 wurde die Vox drittstärkste Kraft im Land. „Der PP war immer die Partei der spanischen Nationalisten. Viele fanden Rajoys Reaktion auf das katalanische Referendum zu lasch und warfen ihm vor, dass er den Katalanen nicht Einhalt geboten hat“, erklärt der Politologe Fernández Vázquez. „Vox rekrutiert sich aus ehemaligen PP-Kadern, die für sich in Anspruch nehmen, dass sie die DNA der Partei verkörpern – nämlich die des José María Aznar der Jahre 2002 und 2003.“
Inhaltlich seien „die Rechten sich in vielen Punkten einig: wirtschaftspolitischer Liberalismus, Einheit Spaniens und Ablehnung des baskischen und katalanischen Nationalismus“ meint der Historiker Carmona. Sie würden nur anders auftreten, wenn es um die Nationalismen und um gesellschaftspolitische Themen geht. Außerdem hebe sich die Vox, die insgesamt markiger auftritt, durch ihr „ziemlich nostalgisches Verhältnis zur franquistischen Vergangenheit ab.“
Im Übrigen haben viele führende Vertreter dieser drei Parteien im Laufe ihrer Karriere bei der FAES und bestimmten Medien Station gemacht: Eines der mächtigsten digitalen Mediennetzwerke Spaniens ist Intereconomía, gegründet um die Jahrtausendwende während Aznars zweiter Amtszeit, als die Rechte „komplexbefreit“ auftrat.
Das Netzwerk stärkte Ciudadanos und Vox, ihre Sprecher traten regelmäßig dort auf, Cuidadanos-Chef Albert Rivera sogar wöchentlich. Etliche Moderatoren und Journalisten von Intereconomía finden sich inzwischen auf den Wahllisten und an den ideologischen Schaltstellen von PP, Ciudadanos und Vox.
Diese Medien verbreiten den lieben langen Tag die Parolen der „komplexbefreiten“ Rechten, die heute von Figuren wie Isabel Díaz Ayuso verkörpert werden, der PP-Regionalpräsidentin von Madrid, das seit 20 Jahren als Hochburg des Neokonservatismus gilt. Dass diese Strömung überrepräsentiert ist und so viel Einfluss hat, erklärt der Politologe Fernández Vázquez unter anderem damit, dass „viele dieser Medien in Madrid sitzen und von der PP-geführten Regionalregierung finanziell massiv unterstützt werden“.
Auch Pablo Casado, der 2018 den PP-Vorsitz übernahm, ist aus dieser an Aznar orientierten neokonservativen Strömung hervorgegangen. Er war entschlossen, die Partei zu „reideologisieren“, musste aber 2022 nach heftigen parteiinternen Querelen seinen Hut nehmen. „Und was machen sie, wenn es schlecht läuft? Sie lassen das Pendel wieder zur anderen Seite ausschlagen und fangen von vorne an“, witzelt Pablo Simón von der Universität Carlos III über die Wahl von Núñez Feijóo, der 13 Jahre lang galizischer Regionalpräsident war, bevor er Casados Nachfolger wurde.
Núñez Feijóo setzt auf ein seriöses Image und ist vor allem darauf bedacht, sich als präsidentschaftstauglich zu profilieren. In gesellschaftspolitischen und moralischen Fragen hält er sich bedeckt, aber sein Konservatismus ist nach Pablo Simóns Einschätzung „realer, als es den Anschein hat“. Die strategische Rückbesinnung auf die politische Mitte, die der PP regelmäßig vollzieht, „gehört in dieser Partei beinahe zum Erbgut“, meint Pablo Simón, „und sie ist lebenswichtig, denn seit sie als Alianza Popular das Licht der Welt erblickte, muss sie immer wieder das Image der franquistischen Partei abschütteln.“
Alfonso Guerra aus der alten Garde der Sozialistischen Partei kommentierte dieses Phänomen mit dem berühmt gewordenen Ausspruch: „Sie sind seit Jahren auf dem Weg in die Mitte und immer noch nicht angekommen. Wo kommen sie eigentlich her, dass sie so lange brauchen?“
1 Vgl. Juan Goytisolo, „Und der Samen wird köstliche Früchte tragen“, LMd, Oktober 2002.
5 „España, la segunda transición“, Madrid (Espasa) 1995.
8 Siehe Serge Halimi, „Bush, Chirac und die Irak-Lüge“, LMd, Mai 2023.
11 Zitiert nach Javier Tusell Gómez, siehe Anmerkung 4.
Aus dem Französischen von Andreas Bredenfeld
Maëlle Mariette ist Journalistin.