13.07.2023

Charity statt Fortschritt

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Charity statt Fortschritt

Einst wurde die Bekämpfung der Armut im Globalen Süden als Teil einer umfassenden Entwicklungspolitik gesehen. Heute gibt es immer mehr Projekte, die auf Direkthilfen für die Betroffenen setzen – mit zweifelhaften Folgen.

von Anton Jäger und Daniel Zamora

Navot Miller, Selbstporträt, 2023, Öl auf Leinwand, 40 × 30 cm
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Als Chris Hughes, der Mitbegründer von Facebook, das Unternehmen 2007 verließ, wollte er einen Teil seines Vermögens dafür einsetzen, die Welt zu verändern. Wie viele Philanthropen vor ihm, hatte er sein Ziel schnell ausgemacht: „die extreme Armut beenden“.1 Um die Zauberformel zu finden, mit der dieses Ziel erreichen konnte, musste Hughes aber erst den Bestseller „Das Ende der Armut“ von Jeffrey Sachs lesen und dessen kenianisches Pilotdorf besuchen.2

Nachdem Sachs Anfang der 1990er Jahre zum Vordenker der Schocktherapie für die Länder des ehemaligen Ostblocks avanciert war, wandelte er sich später zum Papst der Armutsbekämpfung. „Dieses Dorf wird die extreme Armut beenden“, verkündete er 2005 in der MTV-Sendung „The Diary of Angelina Jolie and Dr. Jeffrey Sachs in Africa“. Doch als Hughes das kleine kenianische Dorf besuchte, verschlug es ihm die Sprache. Denn in der Schule gab es weder Kreide noch Papier – dafür PCs ohne Internetanschluss.

Sachs räumte ein, dass sein 120 Millionen US-Dollar teures „Mil­len­nium Vil­lages“-Projekt nur mäßig erfolgreich war. Sein Fazit: Trotz der Verbesserungen in den Bereichen Gesundheit und Landwirtschaft gab es „keine spürbaren Auswirkungen“ auf die Armut.3 Hughes schloss daraus, dass es besser sei, sein Geld nicht in Projekte stecken, sondern für Direkttransfers an die Armen einzusetzen. Ganz im Sinne seiner „liberalen, marktorientierten Strategie“.

Der Menschenfreund aus dem Silicon Valley stieg in den Verwaltungsrat von GiveDirectly ein, eine NGO, die auf Geldüberweisungen zur Armutsbekämpfung setzt. Das kleine Start-up war 2008 von vier jungen Absolventen der Harvard University und des Massachussets Institute of Technology (MIT) gegründet worden.

GiveDirectly spezialisierte sich auf die Zahlung bedingungsloser Grundeinkommen zur Armutsbekämpfung und zog schon bald die Aufmerksamkeit von Twitter und Google auf sich. Während das Projekt von Jeffrey Sachs in Vergessenheit geriet, machte sich Give­Directly ab 2017 daran, regelmäßig Geld direkt per Handy an mehr als 20 000 Begünstigte zu überweisen, die nach dem Zufallsprinzip in 197 kenianischen Dörfern ausgewählt wurden.

Zwischen 2015 und 2020 stieg das Budget der NGO von 14,5 Millionen auf mehr als 300 Millionen US-Dollar. Bis heute hat GiveDirectly rund um den Globus mehr als 550 Millionen US-Dollar verteilt.

Dahinter steht viel Geld aus dem Silicon Valley. Tech-Größen wie Elon Musk, Twitter-Gründer Jack Dorsey und Sam Bankman-Fried, der gefallenen Star aus der Welt der Kryptowährungen, haben dazu beigetragen. Man könnte es die „Monetarisierung“ der Armut nennen: Anstatt sich bei der Armutsbekämpfung auf bürokratische Institutionen und lange politische Verhandlungen einzulassen, wird bei dieser Art der Entwicklungshilfe auf jegliche Vermittler verzichtet.

Der Erfolg von GiveDirectly hat auch mit einem Phänomen zu tun, das Entwicklungsökonomen seit 20 Jahren kennen und als „Revolution der Geldtransfers“ bezeichnen. Nachdem der Internationale Währungsfonds (IWF) und die Weltbank in den 1980er Jahren verschiedenen Staaten Strukturanpassungsmaßnahmen verordnet hatten, reagierten viele Länder des Globalen Südens. Sie entschieden sich für ein Entwicklungsmodell, das statt auf öffentliche Investitionspolitik auf direkte Geldzuwendungen in unterschiedlicher Form setzte.

Im Bereich der Armutsbekämpfung wurde dieses Konzept vor allem durch das 1997 eingeführte „Progresa“-Programm in Mexiko bekannt. Es sollte den massiven Anstieg der Armut stoppen, die sich vor dem Hintergrund der Austeritätspolitik binnen eines Jahrzehnts fast verdoppelt hatte. Konzipiert hatte die Reform größtenteils der mexikanische Wirtschaftswissenschaftler Santiago Levy. Ihr Ziel bestand darin, die Reste der alten Armutspolitik – etwa Preiskontrollen und die Subventionierung von Gütern des Grundbedarfs – durch ein Gesamtpaket von direkten Transfers zu ersetzen.

2007 erreichte Progresa ein Drittel der mexikanischen Haushalte und war damit das größte Armutsbekämpfungsprogramm des Landes. Dutzenden Ländern in Lateinamerika und Afrika, die durch die Liberalisierung unter die Räder geraten waren, diente es als Vorbild.

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Diese „stille Revolution“, wie die Forscher Armando Barrientos und David Hulme4 sie nannten, nahm vor allem in Subsahara-Afrika ihren Lauf. Seit den 2000er Jahren wurden mehr als 100 Programme aufgelegt, die Familienbeihilfen, Steuergutschriften sowie bedingungslose Geldtransfers zum Gegenstand hatten. Außerdem finanzierten etliche Wohltätigkeitsorganisationen aus Namibia, Kenia und Uganda eine Vielzahl von Studien zum bedingungslosen Grundeinkommen.

Der IWF, die Weltbank und die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) unterstützten die Strategie ebenfalls. Und im Juli 2020 kündigte UN-Generalsekretär António Guterres persönlich „einen neuen Gesellschaftsvertrag für eine neue Ära“ an, einschließlich „der Möglichkeit eines bedingungslosen Grundeinkommens“.5 Die „Neuheit“ dieses Modells wird vor allem dann deutlich, wenn man sich den zuvor verfolgten Ansatz vor Augen führt: „Die armen Nationen können ihre Armut nicht ohne Industrialisierung überwinden“, hatte der tansanische Präsident Julius Nyerere 1977 gesagt. Diese Überzeugung teilte damals die große Mehrheit der postkolonialen Eliten. Die meisten Theoretiker maßen der Armutsverringerung als solches nur wenig Bedeutung bei.

Vor der neoliberalen Wende Mitte der 1970er Jahre „gab es einen allgemeinen Konsens darüber, dass Entwicklung größtenteils darin besteht, die Produktionsstrukturen zu transformieren“, so der Entwicklungsökonom Ha-Joon Chang.6 Die Armutsfrage wurde im Kontext der internationalen Arbeitsteilung betrachtet und mit den übergeordneten makroökonomischen und institutionellen Problemen verknüpft.

Zur Überwindung der Stagnation setzten die jungen, vom Kolonialismus befreiten Staaten meist auf Theorien für eine geplante Industrialisierung. Staatslenker wie Nyerere, der ghanaische Präsident Kwame Nkrumah oder der indische Ministerpräsident Jawaharlal Nehru konzipierten ihre sozialistischen Entwicklungsstrategien explizit als Alternative zu Wirtschaftsliberalismus und Imperialismus.

Dieser Ansatz, der Ende der 1940er Jahre unter anderem vom argentinischen Ökonomen Raúl Prebisch ausgearbeitet wurde, beruhte auf der These, dass der Welthandel die Ungleichheit zwischen Globalem Norden und Süden verstärke. Ohne Zollschranken, Preiskontrollen und staatlich gesteuerte Industrialisierung würde es den Ländern des Südens nicht gelingen, den Rückstand zu den Industriestaaten aufzuholen.

Fortan erschien die Armutsfrage als Teil eines übergeordneten Problems: der Ungleichheit zwischen den Staaten. Der Fokus wurde daher mehr auf die Armut verursachenden Strukturen als auf die Hilfe für die notleidenden Menschen gelegt.

Vor diesem Hintergrund formulierte die internationale Gemeinschaft eine Agenda, die auf eine radikale Umgestaltung des Welthandels abzielte. In der Schlussakte der UN-Konferenz für Handel und Entwicklung (Unctad) von 1964 wurde das Ziel definiert, „zu einer veränderten internationalen Arbeitsteilung zu gelangen, die vernünftiger und gerechter ist und mit den erforderlichen Anpassungen in der weltweiten Produktion und im Welthandel einhergeht.“7

Zehn Jahre später erreichte dieses Entwicklungsprogramm seinen Höhepunkt, als die UN-Generalversammlung eine „neue internationale Wirtschaftsordnung“ beschloss, wie der algerische Staatschef Houari Boumediene sagte. Die Internationalisierung des Handels sollte nicht ausgesetzt, aber durch einen Rechtsrahmen so gelenkt werden, dass sie den Ländern des Südens besser gerecht wird.

Doch Ende der 1970er Jahre erlahmte der Elan. Der Grund dafür waren veränderte ideologische Kräfteverhältnisse und die Korruption innerhalb der aus der Entkolonialisierung hervorgegangenen Eliten. So entkoppelte sich das Armutsthema nach und nach von der Debatte um die internationalen Machtverhältnisse.

Armut wurde zunehmend als individuelles Phänomen verstanden und an einer abstrakten Einkommensschwelle festgemacht. Die Weltbank trieb diese Wende unter Robert McNamara voran, der von 1968 bis 1981 ihr Präsident war. Der frühere US-Verteidigungsminister und „Architekt des Vietnamkriegs“, avancierte zu einem der wichtigsten Fürsprecher für Finanzhilfen an die Entwicklungsländer. Allerdings vor allem deshalb, weil man so den Forderungen der armen Länder nach einer Reform des Welthandels ausweichen konnte.

Ab 1979 begann die Weltbank ihre Kreditvergabe an die Durchführung konkreter Reformen (Strukturanpassung) zu knüpfen. Durch die Schuldenkrise, die viele Länder Anfang der 1980er Jahre heimsuchte, wurden diese Darlehen zum Schlüsselinstrument der globalen neoliberalen Wende.

In diesem für staatliche Entwicklungsprojekte feindlichen Umfeld erschienen Geldtransfers schließlich als attraktive Ergänzung der Reformen zur Wirtschafts- und Arbeitsmarktliberalisierung. Die Armutsbekämpfung konzentrierte sich so vor allem auf die Verbesserung der „Lebensbedingungen der als arm definierten Personen“ und nicht auf die Transformation der „Volkswirtschaften, in denen sie ­leben“.8

Mittlerweile sind die Länder des Globalen Südens immer weniger in der Lage, den Arbeitsmarkt zu regulieren, Investitionen in eine bestimmte Richtung zu lenken oder ihre Ressourcen zu vergesellschaften. Der „Transferstaat“, der sich ausschließlich auf die Einkommensverteilung konzentriert, erscheint alternativlos.

Der Boom der Geldtransfers bedeutet somit keine Abkehr vom Neoliberalismus, sondern ist die Voraussetzung für dessen Fortbestand. Laut dem Anthropologen James Ferguson haben viele Länder die Umsetzung eines „neoliberalen Privatisierungs- und Vermarktungsprogramms“ mit „einer deutlichen Ausweitung der Programme zum Direkttransfer von Geldern verbunden, die zunehmend von Arbeitsfragen abgekoppelt sind“9 .

Es kündigt sich ein Triumph dessen an, was Ha-Joon Chang „Entwicklung ohne Entwicklung“ genannt hat: ein Konzept, in dem die Entwicklung von der Veränderung der internationalen Arbeitsteilung und der Ausweitung öffentlicher Dienstleistungen abgekoppelt ist.

An die Stelle der ehrgeizigen Pläne aus der postkolonialen Ära, gemeinsam eine gerechtere Globalisierung zu gestalten, ist ein gezielter Kampf gegen die Armut getreten, der sich damit begnügt, die Unterschreitung einer vermeintlich erträglichen Untergrenze zu verhindern. Auf dem Weg dorthin haben sich unsere Definitionen von Entwicklung und Ungleichheit selbst grundlegend verändert.

1 Chris Hughes, „Fair Shot: Rethinking Inequality and How We Earn“, New York (St. Martin’s Press) 2018.

2 Jeffrey Sachs, „Das Ende der Armut: Ein ökonomisches Programm für eine gerechtere Welt“, München (Pantheon) 2006.

3 Jeffrey Sachs, „Lessons from the Millennium Vil­lages Project: A Personal Perspective“, in: The Lancet, Bd. 6, Nr. 5, 2018.

4 Armando Barrientos und David Hulme, „Social Protection for the Poor and Poorest in Developing Countries: Reflections on a Quiet Revolution“, Brooks World Poverty Institute Working Paper, Nr. 30, Manchester, März 2008.

5 António Guterres, „Tackling the Inequality Pandemic: A New Social Contract for a New Era“, 18. Juli 2020.

6 Ha-Joon Chang, „Hamlet without the Prince of Denmark: How Development Has Disappeared from Today’s,Development‘ Discourse“, in: Shahrukh Khan und Jens Christiansen (Hg.), „Towards New Developmentalism. Market as Means Rather Than Master“, London (Routledge) 2010.

7 „Proceedings of the United Nations Conference on Trade and Development: I. Volume, Final Act and Report“, Unctad, Genf 1964.

8 Erik Reinert, Jayati Ghosh und Rainer Kattel, „Handbook of Alternative Theories of Economic Development“, Cheltenham (Edward Elgar Publishing) 2016.

9 James Ferguson, „Give a Man a Fish. Reflections on the New Politics of Distribution“, Durhame (Duke University Press) 2015.

Aus dem Französischen von Markus Greiß

Anton Jäger ist Historiker für politische Ideengeschichte an der katholischen Universität Leuven. Daniel Zamora ist Professor für Soziologie an der Université Libre de Bruxelles.

Le Monde diplomatique vom 13.07.2023, von Anton Jäger und Daniel Zamora