08.06.2023

Sauberes Wasser, dreckige Chips

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Sauberes Wasser, dreckige Chips

Grenoble ist berühmt für seine gute Wasserqualität. Ein Halbleiterkonzern bedroht die kostbare Ressource – mit dem Segen der Grünen

von Vincent Peyret und Raúl Guillén

Der Präsident und die Halbleiterfabrik, Crolles, 12. Juli 2022  ROMAIN DOUCELIN/picture alliance/abaca
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Rund tausend Demonstranten stehen am 1. April 2023 in Crolles vor der jüngsten Baustelle des Halbleiterkonzerns STMicroelectronics (ST) und skandieren: „Wasser statt Mikrochips!“ Seit 1992 betreibt der französisch-italienische Multi im Grésivaudan-Tal, 15 Kilometer nördlich von Grenoble, einen Produktionsstandort, der stetig erweitert wird.

Seit Jacques Chirac wird jede neue Produktionseinheit von ST in der 8000-Seelen-Gemeinde im Département Isère vom französischen Staatspräsidenten persönlich eröffnet, der bei dieser Gelegenheit jedes Mal Staatshilfen in dreistelliger Millionenhöhe verkündet.

„Hier findet Frankreichs Reindus­tria­lisierung statt!“, rief Präsident Macron, der am 12. Juli 2022 mit vier Ministern im Schlepptau angereist war. Diesmal wird der Staat 2,3 Milliarden Euro zu den 5 bis 7 Milliarden Euro beitragen, die die jüngste Erweiterung des Standorts voraussichtlich kosten wird.

STMicroelectronics, an dem auch die französische Investitionsbank Bpi­france und das italienische Wirtschaftsministerium Anteile halten, hat sich für die neuen Anlagen diesmal mit dem US-Konzern Globalfoundries (GF) zusammengetan, einem anderen Halbleiter- und Chip-Giganten mit Sitz auf den Kaimaninseln, zu dessen Hauptaktionären unter anderem der Mubadala-Konzern gehört, ein Staatsfonds der Vereinigten Arabischen Emirate.

Obwohl der französische Staat sich so großzügig zeigt, hat ST seine Hauptverwaltung in der Schweiz und seine Holding in den Niederlanden angesiedelt – nach Einschätzung der Zeitschrift Challenges das „Steueroptimierungsland der Multinationalen“.1

Als die Standorterweiterung im Juli 2022 bekanntgegeben wurde, war in der Region gerade die zweithöchste von vier Alarmstufen für Trockenheit ausgerufen worden. Mitte August wurde sie auf Alarmstufe Rot („Dürrekrise“) heraufgesetzt. Die Mikrochip-Indus­trie ist besonders wasserintensiv. Nach dem bis 2026 geplanten Kapazitätsausbau werden die ST-Fabrik und das benachbarte Werk des Halbleiterkonzerns Soitec voraussichtlich zusammen rund 29 000 Kubikmeter Wasser pro Tag verbrauchen – was dem Gesamtbedarf von ganz Grenoble entspricht.

In jenem Sommer gründete sich in Grenoble die Bürgerinitiative Stop Mi­cro, die seitdem regelmäßig „gegen den Ausverkauf von Ressourcen und die durch die lokale Industrie – insbesondere die Mikroelektronik – verursachten Umweltschäden“2 demons­triert. Die Initiative in Crolles erklärte sich solidarisch mit den Protesten gegen gigantische Wasserbecken (méga­bassines) für die Landwirtschaft in Sainte-Soline, wo sich seit Monaten Gewerkschaften, Grüne und Umwelt­or­ga­ni­sa­tio­nen einen regelrechten „Wasserkrieg“ mit der Polizei liefern.3 Warum aber hielten sich insbesondere die lokalen Abgeordneten von den Grünen (Europe Écologie-Les Verts, EÉLV) mit ihrer Kritik in Crolles zurück? Immerhin stellt die Partei in dem Département zwei Abgeordnete, einen Senator und mit Éric ­Piolle in Grenoble einen grünen Bürgermeister.4

Tatsächlich begrüßt Piolle den Ausbau des ST-Werks sogar: „Aus meiner Sicht ist die Mikroelektronik der erste Bereich, in dem eine europäische Industriestrategie erkennbar wird“, antwortet er uns. Schließlich sei es zu riskant, „nur auf Asien als Beschaffungsquelle zu setzen“. So ähnlich argumentiert auch die EÉLV-Abgeordnete Cyrielle Chatelain, die für das Dé­parte­ment Isère in der Nationalversammlung sitzt und dort die grüne Fraktion (Groupe écologiste) anführt: „Bei der Reindustrialisierung kann man nicht auf der einen Seite sagen ‚Wir wollen kurze Wege und vorteilhafte Rahmenbedingungen‘ und sich andererseits dagegen wehren, dass die Produktion bei uns stattfindet. Produziert wird auf jeden Fall – die Frage ist nur, wo und unter welchen Rahmenbedingungen.“

Den Vergleich mit den Megabassins in Sainte-Soline, von denen mit den lokalen Agrarbetrieben nur „ein kleiner Personenkreis“ profitieren würde, lassen Piolle und Chatelain in Crolles nicht gelten. Schließlich kämen die Produkte der Halbleiterfabrik „allen zugute“.

Die Isère muss viel verkraften

Allen? Die in Crolles hergestellten Mikrochips finden sich in den Starlink-Satelliten von Elon Musk, in selbstfahrenden Autos, in den Smartphones der neuesten Generation und auch in vielen hochentwickelten Waffensystemen – wie etwa in den von Russland aus abgeschossenen Drohnen, die in der Ukraine gefunden wurden. Darauf angesprochen, erklärte der Konzern lediglich, er habe seine Aktivitäten in Russland eingestellt.5 Die Chips, die es für einfache Computer oder die 3G-Telefonie braucht, werden hingegen nicht in Europa produziert.

Die Betriebe von ST und Soitec haben zusammen einen Wasserverbrauch von 29 000 Kubikmetern pro Tag. Zudem muss das Wasser, mit dem die Leiterplatten gereinigt werden und das 75 Prozent des Gesamtverbrauchs ausmacht – das übrige Viertel fließt in die Klimatisierung – ultrasauber sein. Die exzellente Wasserqualität in Grenoble ist daher einer der Hauptgründe, warum sich Industriebetriebe in der Schwemmlandebene der Isère gern ansiedeln. Denn wenn das Wasser von vornherein schon relativ sauber ist, ist die Aufbereitung weniger energieintensiv und kostspielig.

Es gibt dabei allerdings ein Pro­blem: Die Gewinnungsgebiete der Flüsse Romanche und Drac, die dieses Wasser liefern, liegen südlich der Stadt – rund 30 Kilometer von Crolles entfernt. Als die erste Halbleiterfabrik vor 30 Jahren hier errichtet wurde, legten die Kommunen eine eigene Leitung. In den vergangenen Jahren investierten die Gemeinden außerdem in Druckerhöhungsanlagen und eine zweite Leitung im letzten Teilstück, um den Durchfluss zu beschleunigen.

Doch nun stößt dieses System allmählich an seine Grenzen, so dass man in der Lokalpolitik überlegt, wie die Wasserfördermenge noch weiter gesteigert werden kann. Während sich der Bürgermeister von Crolles, Phi­lippe Lorimier, für eine durchgehende Leitungsdoppelung einsetzt, glaubt Anne-Sophie Olmos, die Vizepräsidentin des Gemeindeverbands Grenoble-Alpes-Métropole, der die Wassergewinnungsgebiete verwaltet, nicht an diese Möglichkeit. Mit 29 000 Kubikmetern sei das Ende der Fahnenstange erreicht, erklärt sie: „Weiter darf man nicht gehen, denn wenn es zu einem Rohrbruch oder einer massiven Verunreinigung kommt, muss ein Gewinnungsgebiet das andere kompensieren.“

In Grenoble dachte man lange, dass man dank der gebirgigen Umgebung vor Wasserproblemen gefeit sei. Die Gefahren durch die Industrie wurden lange unterschätzt. Dabei werden im Süden des Großraums Grenoble in zwei Chemiefabriken seit Jahrzehnten Chlor, Phosgen, Bleichmittel, Natron, Wasserstoffperoxid und Polyurethane produziert. Nun heißt es, dass die üppigen Grundwasservorräte unter Grenoble „in den bodennahen und in den tiefen Schichten aufgrund der intensiven Industrietätigkeit chemisch belastet“ sind, wie eine von der Stadt in Auftrag gegebene Untersuchung festgestellt hat.6 Die vielen chemischen Inhaltsstoffe machen dieses Grundwasser selbst für die landwirtschaftliche Bewässerung unbrauchbar.

Hauptverantwortliche sind die Chemiekonzerne Arkema und Vencorex sowie Framatome, ein Unternehmen für Nukleartechnik – aber auch die Behörden, die die Schadstoffeinleitungen genehmigen. Die betroffenen Grundwasserzonen liegen flussabwärts der Trinkwassergewinnungsgebiete, doch Verschmutzungsspuren finden sich auch dort. Der Förderbrunnen Puits des Mollots ist keine 100 Meter von der durch die Präfektur abgesegneten Einleitungsstelle entfernt. Wegen der Trinkwassergefährdung hat Anne-Sophie Olmos bereits die Staatsanwaltschaft eingeschaltet.

Auch die Abwässer der Chipfabriken enthalten Verunreinigungen. Die Chemikalien, die ST einsetzt – 2021 waren es 21 Tonnen –, gelangen zu einem großen Teil in den Fluss. Die Isère ist zwar ein Aufnahmemilieu mit hohem Absorptions- und Dispersionsvermögen, sie muss aber jeden Tag (unter anderem) 15 Kilogramm Phosphor, 120 Kilogramm Ammoniumstickstoff, 70 Kilogramm Fluoride oder 150 Kilogramm Stickstoff verkraften.7 Proportional zum angekündigten Ausbau der Aktivitäten dürften diese Verunreinigungen noch zunehmen.8

Hinzu kommt, dass die Einleitungen nicht von unabhängiger Stelle kontrolliert werden. ST muss lediglich die „Basisindikatoren“ melden, die „nach seinem Ermessen für seine Tätigkeit am repräsentativsten sind“ – getreu dem Grundsatz der „ökologischen Verantwortung“, der im Europäischen Gemeinschaftssystem für das Umweltmanagement und die Umweltbetriebsprüfung (Emas) verankert wurde.

In welchen Mengen andere am Standort eingesetzte Stoffe wie Wolfram, Kobalt, Titan oder Tantal jeden Tag in der Isère landen, lässt sich deshalb nicht ermitteln. ST versichert, dass sein „Abwasser vorschriftsmäßig aufbereitet“ wird. Heißt das genauso vorschriftsmäßig wie die Abwässer der Chemieindustrie, die Grenobles Grundwasser komplett kontaminiert haben?

Das Unternehmen verweist mit Nachdruck auf seine Anstrengungen, „die Wasserrecyclingquote zu erhöhen“, und bekommt dabei Rückendeckung von den Mandatsträgern, mit denen wir gesprochen haben. Sie sind vom guten Willen des Konzerns überzeugt. Die angekündigten Zahlen (40, 50 oder 60 Prozent Rückgewinnungsanteil) sind allerdings höchst unrealistisch und vertragen sich nicht mit den Mengen, die die entsprechenden industriellen Prozesse zwangsläufig verschlingen.

Dank der ausgezeichneten Wasserqualität in Grenoble zählt die Halbleiterfabrik in Crolles zudem schon jetzt zu den Standorten mit dem geringsten Wasserverbrauch, nämlich 1,7 Kubikmeter pro hergestelltem Wafer – der Halbleiterplatte, auf die später die integrierten Schaltungen aufgebracht werden. Trotz seiner Recyclingversprechen will ST den Wasserverbrauch um 190 Prozent gegenüber 2021 erhöhen.

Am 17. Februar 2023 legte die Umweltbehörde Mission régionale d’autorité environnementale (MRAe) Auvergne-Rhône-Alpes ein Gutachten vor, das den Standortausbau ausgesprochen kritisch beurteilt und „zahlreiche Lücken“ in den vom Konzern eingereichten Unterlagen moniert. So reiche die Beschreibung des Vorhabens nicht aus, um eine solide Einschätzung der Umweltauswirkungen zu bekommen: „Es fehlen Angaben zu den Ausgangswerten des Wasserverbrauchs, zum Zustand der Wasserressourcen und zu den Wasser- und Luftemissionen.“9

Warum zeigt der Staat so viel Nachsicht gegenüber den Forderungen der Industrie und den Schäden, die sie anrichtet? Eine Erklärung liefert der Historiker Jean-Baptiste Fressoz, der 2012 ein Buch über die Geschichte der französischen Industrievorschriften veröffentlicht hat („L’Apocalypse joyeuse“, Seuil): 1810 wurde ein kaiserliches Dekret erlassen, das die Verfolgung von Umweltschäden den örtlichen Polizeibehörden entzog. Zuständig waren fortan Behörden, die sich auf Experten stützten.

Die treibende Kraft hinter dem Dekret war der Industrielle und Chemiker Jean-Antoine Chaptal (1756–1832), der den Vorteil der neuen Regelung klar benannte: „Bisher waren die Fabriken gewissermaßen der Willkür eines besorgten Anwohners ausgeliefert.“ Doch dank des Dekrets habe die Regierung nun eine Schutzpflicht gegenüber den Unternehmen. Heute muss jede Umweltschutzbestimmung den Obersten Rat für technologische Risikoprä­ven­tion (Conseil supérieur de la prévention des risques technologiques) passieren, in dem vor allem Technokraten und Vertreter der Industrie sitzen.

Falls diese Art der Reindustrialisierung überhaupt einen positiven Nebeneffekt hat, dann diesen: Sie erinnert die Verbraucherinnen und Verbraucher im reichen Norden daran, dass die Digitalwirtschaft alles andere als sauber ist. Auch wenn die Umwelt- und Gesundheitsschäden, die dieser Sektor verursacht – vom Abbau seltener Erden bis zu den Müllcontainern mit Elektroschrott –, in allererster Linie und zum größten Teil zulasten der Länder des Globalen Südens gehen und auch weiterhin gehen werden.

1 „Les Pays-Bas, le pays de l’optimisation fiscale des multinationales“, Challenges, Paris, 30. November 2019.

2 Siehe www.stopmicro38.noblogs.org.

3 Siehe etwa Rudolf Balmer, „Der Wasserkrieg der Deux Sèvres“, taz, 30. Oktober 2022.

4 Der grüne Bürgermeister Piolle steht allerdings schon länger in der Kritik, siehe Philippe Descamps, „Greenwashing in Grenoble“, LMd, Dezember 2021.

5 „Violation d’embargo sur la Russie: STMicroelectronics refuse de répondre à nos questions“, Observatoire des armements, Pressemitteilung vom 6. April 2023.

6 „Réalisation d’un état des lieux sur la qualité des eaux souterraines des masses d’eau alluviales FRDG372 et FRDG371 de l’agglomération grenobloise (38)“, Antea Group, 2022.

7 Unsere Berechnungen stützen sich auf die Umwelterklärung 2021 für den Standort 2021, STMicroelec­tronics, März 2022.

8 „Comment STMicro pollue l’eau“, Le Postillon, Nr. 68, Grenoble, Frühjahr 2023.

9 Avis délibéré Nr. 2022-ARA-AP-1475, Stellungnahme der Mission régionale d’autorité environnementale (MRAe) Auvergne-Rhône-Alpes, 17. Februar 2023.

Aus dem Französischen von Andreas Bredenfeld

Raúl Guillen ist Journalist. Vincent Peyret ist Journalist und Chefredakteur der Monatszeitung Le Postillon.

Le Monde diplomatique vom 08.06.2023, von Vincent Peyret und Raúl Guillén