08.06.2023

Gestrandet in Assamaka

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Gestrandet in Assamaka

Ein kleines nigrisches Dorf ist Anlaufstelle für tausende Geflüchtete, die aus Algerien abgeschoben wurden

von Shaï Pauset

Im algerisch-nigrischen Grenzgebiet  JEROME DELAY/picture alliance/ap
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Die Warteschlange vor der Polizeistation von Assamaka ist über einhundert Meter lang. Seit ungefähr zehn Jahren ist das Dorf in der nigrischen Wüste unweit der algerischen Grenze Auffangort für Migranten aus Subsahara-Afrika, die aus Algerien ausgewiesen wurden. Manche der Geflüchteten sehen keine andere Lösung, als einfach hier auszuharren – ohne Ziel und Plan, wie es weitergehen könnte.

Die NGO Alarme Phone Sahara (APS), die sich für Migranten in der Sahelzone einsetzt, zählte zwischen dem 1. Januar und dem 1. April dieses Jahres 11 336 Menschen, die von Algerien nach Niger abgeschoben wurden. Nach Angaben der nigrischen Behörden saßen Anfang Mai mehr als 5000 von ihnen in Assamaka fest.

Seit 2014 hat Algerien die Abschiebungen massiv ausgeweitet.1 Der größte Staat Afrikas ist ein Einwanderungsland für viele Menschen aus den Staaten südlich der Sahara. Lange Zeit hat man sich nicht groß dafür interessiert; wohl auch weil der Umstand vielen gelegen kam: Die Zugewanderten verrichteten die Arbeiten, die die jungen Algerier nicht mehr machen wollten.

Das änderte sich nach einem dramatischen Ereignis: Am 2. Oktober 2013 wurden wenige Kilometer von der algerisch-nigrischen Grenze entfernt 92 Leichen aufgefunden. Sie gehörten zu einem Konvoi mit 112 Menschen, hauptsächlich Frauen und Kinder aus der Region Zinder.2

Nach diesem grauenhaften Fund haben beide Staaten ihre Straßen­kon­trol­len ausgeweitet. Im Dezember 2014 trafen Algier und Niamey schließlich ein Abkommen, das es Algerien ermöglicht, illegal ins Land eingereiste ni­grische Frauen und Kinder auszuweisen.

Doch die Wirklichkeit sieht mittlerweile anders aus. Während in den ersten Jahren nach der Unterzeichnung des Abkommens vor allem Frauen und Kinder – darunter viele aus der Region Zinder – abgeschoben wurden, nahm die algerische Polizei im Laufe der Zeit immer mehr nigrische Männer ins Visier.

Ab 2017 wurden dann auch nichtnigrische Migranten ausgewiesen. Sie kamen hauptsächlich aus Westafrika, aber auch aus Syrien, Palästina und Bangladesch. Viele von ihnen sind jung oder sogar minderjährig3 , und einige hätten nicht abgeschoben werden dürfen – entweder weil sie sich legal in Algerien aufhielten oder weil sie vom Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) als Geflüchtete anerkannt waren.

Seit 2018 findet in algerischen Städten „eine wahre Jagd auf schwarze Menschen“ statt, so ein Verantwortlicher der Internationalen Organisation für Migration (IOM), der damals in Niamey arbeitete. Auch der UN-Sonderberichterstatter zu den Menschenrechten von Migranten, Felipe González Morales, äußerte sich sehr besorgt.

Nach Abschluss einer Mission in Niger im Oktober 2018 verurteilte er die „Vorgehensweise“ der algerischen Behörden und stellte fest: „Die kollektiven Abschiebungen nach Niger stellen eine offensichtliche Verletzung des internationalen Rechts dar, insbesondere des Grundsatzes der Nichtzurückweisung und des Rechts auf ein ordnungsgemäßes rechtsstaatliches Verfahren. Sie müssen sofort eingestellt werden.“

An der Situation selbst hat sich danach nichts geändert. Die nigrischen Behörden kritisierten Algeriens Abschiebepraxis vergeblich. Im Februar 2017 forderte der nigrische Innenminister Mohamed Bazoum die algerische Regierung auf, die Abschiebungen auszusetzen. Ebenfalls ohne Erfolg.

Am 12. Februar 2023 erreichte ein weiterer Abschiebekonvoi den „Point Zero“, das Niemandsland im Grenzgebiet zwischen Algerien und Niger, wo die algerischen Behörden die Menschen in der Wüste aussetzen. 899 Personen dokumentierte Alarme Phone Sahara an diesem Tag, die meisten von ihnen stammten aus Guinea oder Mali – aus Niger kam nur eine einzige Person.

Unter den Abgeschobenen waren zahlreiche Männer, aber auch Frauen, darunter mehrere Schwangere, Kinder und alte Menschen. Einigen war bei ihrer Verhaftung ihr Besitz abgenommen worden.

Und jedes Mal werden die Menschen mitten in der Wüste allein gelassen, manchmal auch nachts. Ohne Wasser und Nahrung müssen sie die 15 Kilometer bis ins Dorf Assamaka zu Fuß zurücklegen. Doch auf dem Weg dahin kann man sich leicht in der Wüste verlaufen. So nimmt die algerische Regierung bewusst in Kauf, dass hier Menschen in Lebensgefahr geraten.

Wie kann es aber sein, dass die algerischen Behörden das mit der nigrischen Regierung getroffene Rückführungsabkommen ungehindert missbrauchen können, um Menschen aus allen Staaten südlich der Sahara abzuschieben? Selbst in der Afrikanischen Union findet sich niemand, der dagegen etwas tut, sagt Moctar Dan Yaye von Alarme Phone Sahara: „Algerien macht weiterhin, was es will.“

Yaye verurteilt die „rassistische Politik“ der algerischen Regierung, die „die schwarzen Menschen im Land loswerden“ wolle.4 Die Zahl der Abschiebungen nehme laufend zu. Nach den Daten von Alarme Phone Sahara, die sich auf die Anrufe von Hinweisgebern stützen, wurden 2022 „mindestens 24 250 Menschen in offiziellen und inoffiziellen Konvois von Algerien nach Niger abgeschoben, berichtet die NGO.

Das Aufnahmezentrum nimmt niemanden mehr auf

Nach Angaben des UN-Büros für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten in Niger sind die Hilfsanfragen 2022 um 35 Prozent gestiegen. Die Organisationen sind heillos überfordert und die IOM ist wie gelähmt. Moctar Dan Yaye berichtet, dass die IOM alle Neuankömmlinge abweist, weil sie immer noch damit beschäftigt ist, die Anträge von Migranten zu bearbeiten, die bereits vor Ort sind.

Dabei sind alle aus Algerien Abgeschobenen dazu verpflichtet, sich nach ihrer Ankunft in Assamaka zuerst bei der IOM zu melden. Die Menschen können dann erneut versuchen, nach Algerien (oder Libyen) einzureisen, in Niger Asyl beantragen oder in ihr Herkunftsland zurückkehren.

Wenn sie sich für die zweite Op­tion entscheiden, müssen sie im IOM-Aufnahmezentrum in Assamaka einen Asylantrag stellen. Das Zentrum ist aber wegen Überlastung für neue Antragsteller derzeit geschlossen. „Seit Anfang des Jahres bemerken wir, dass es auch bei der Organisation der Konvois, mit denen die Menschen in ihre Heimatländer zurückgebracht werden, zu Verzögerungen kommt“, berichtet Boulama Elhadji Gori, der stellvertretende Leiter des Niger-Programms von Ärzte ohne Grenzen (Médecins Sans Frontières, MSF).

Dadurch seien die Menschen länger vor Ort geblieben, während gleichzeitig immer mehr Menschen dazukamen, die aus Algerien abgeschoben worden waren. Das habe zu Überfüllung geführt. Über einen längeren Zeitraum hatten weder die IOM noch die nigrische Regierung Transportmittel zur Verfügung gestellt, mit denen die Menschen Assamaka hätten verlassen können. Eine Anfrage zu diesem Problem blieb unbeantwortet.

Viele Migranten sind also dazu verdammt, in Assamaka auszuharren. Boulama Elhadji Gori schätzt die Einwohnerzahl des Dorfs heute auf 6000, vor einigen Jahren waren es noch 1000. „Das Dorf platzt aus allen Nähten“, sagt Gori und bezeichnet die Situation als „humanitäre Krise“: „Die Migranten werden meist im Gesundheitszentrum untergebracht oder in dessen unmittelbarer Umgebung. Die hygienischen Bedingungen dort sind unzumutbar. Das Zentrum ist nicht für einen solchen Ansturm ausgelegt.“

Die öffentliche Gesundheitsversorgung im Norden Nigers war schon vorher unzureichend. Die Menschen ­seien verzweifelt, berichtet Gori: „Sie sind verschiedenen Risiken ausgesetzt, werden zum Beispiel erpresst oder müssen sich prostituieren. Außerdem leben sie unter hygienischen Bedingungen, die geradezu gesundheitsgefährdend sind.“

Moctar Dan Yaye steht mit vielen Leuten vor Ort in Kontakt. Ihnen zufolge ist die Lage unhaltbar geworden. „Um zu überleben, haben die in Assamaka festsitzenden Migranten keine andere Wahl, als den ganzen Tag betteln zu gehen und auf der Straße zu übernachten. Sie stehlen auch und schlachten Tiere, um sich zu ernähren. Das erzeugt natürlich noch zusätzliche Spannungen und Konflikte.“

Die nigrischen Behörden sind ebenfalls gut informiert. Der Gouverneur der Region Agadez, Elhadj Magagi Maman Dada, sprach im April von einer „humanitären und sozialen Krise“, als er Behördenleiter und Repräsentanten der Zivilgesellschaft zu einer Versammlung einberief.

Danach gründeten sie eine Arbeitsgruppe, die sich mit den katastrophalen Lebensbedingungen der Migranten vor Ort beschäftigen soll. Auch der nigrische Innenminister Hamadou Ademou Souley hat das IOM-Aufnahmezentrum in Agadez, der größten Stadt im Norden des Landes, besucht. Er fuhr sogar noch weiter bis nach Assamaka, das etwa 350 Kilometer nördlich von Agadez liegt.

Trotz dieser Initiativen konnte ­Alarme Phone Sahara bisher keine Veränderungen bei der Flüchtlingsaufnahme feststellen. Vielmehr kritisiert die NGO das Verhalten der IOM, die immer noch keine Neuankömmlinge aufnehmen würde.

Man sehe bewusst weg, sagt Moctar Dan Yaye. Am 20. März veröffentlichte Ärzte ohne Grenzen eine Pressemitteilung, in der die Organisation die dramatische Lage schildert und die Wirtschaftsgemeinschaft Westafrikanischer Staaten (Ecowas) dazu aufruft, die in der Wüste ausgesetzten Migranten endlich wirksam zu schützen.

„Die Situation ist beispiellos. Die Temperaturen in Assamaka können bis zu 48 Grad Celsius erreichen, so dass die Menschen Zuflucht vor der Hitze suchen, wo immer sie sie finden können. Dies hat dazu geführt, dass die Menschen auch in sehr unhygienischen Bereichen wie etwa auf Müllplätzen schlafen.“5

„Algerien sollte mit internationalen Sanktionen belegt werden, damit es aufhört, sich wie ein Schurkenstaat zu verhalten“, meint Moctar Dan Yaye, der allerdings nicht wirklich daran glaubt, wenn man sich die Politik auf der anderen Seite des Mittelmeers anschaut: „Der Westen wird mehr und mehr zu einer Festung und vergisst dabei, dass seine eigene Geschichte eine Geschichte der Migration ist.“

1 Siehe Raouf Farrah, „Algeria’s migration dilemma. Migration and human smuggling in southern Algeria“, Global Initiative Against Transnational Organized Crime, 10. Dezember 2020.

2 Zu diesem Thema siehe den Bericht: „Des femmes et des enfants de Kantché sur la route de l’Algérie. Analyse socio-anthropologique d’un phénomène mal connu“, OIM, Juli 2016.

3 Siehe den Bericht: „Algérie: Des migrants et demandeurs d’asile forcés à quitter le pays“, Human Rights Watch, 9. Oktober 2020.

4 Auch in Tunesien nehmen die rassistisch motivierten Angriffe auf Geflüchtete aus Subsahara-Afrika zu, siehe Thierry Brésillon, „Unerwünscht in Tunesien“, LMd, Mai 2023.

5 Siehe die Pressemitteilung von Ärzte ohne Grenzen vom 20. März 2023: „Niger: Ärzte ohne Grenzen fordert Schutz für tausende Geflüchtete in Assamaka.“

Aus dem Französischen von Heike Maillard

Shaï Pauset ist Journalistin.

© Afrique XXI; für die deutsche Übersetzung LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 08.06.2023, von Shaï Pauset