08.06.2023

In French, please!

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In French, please!

Die Musikszene in Québec ist multilingual, aber die Regierung besteht auf Französisch

von Éric Delhaye

Dead Obies beim Festival d’été de Québec, 2017 AMY HARRIS/picture alliance/ap
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François Legault, Premierminister der kanadischen Provinz Québec und Vorsitzender der konservativ-nationalistischen Partei Coalition Avenir Québec (CAQ), macht sich Sorgen um die Zukunft des Französischen in seiner Provinz. Nur noch 48 Prozent der Bevölkerung auf der Île de Montréal, wo etwa ein Viertel der Québecer Bevölkerung lebt, sei noch frankofon, berichtete er auf dem letzten Gipfeltreffen französischsprachiger Staaten im November 2022 im tunesischen Djerba.

Bis 2026 sollen nur noch Migranten aufgenommen werden, die zu „100 Prozent“ entweder frankofon oder bilin­gual sind, erklärte Legault in Djerba. In diesem Jahr liegt die festgelegte Zuwanderungsrate bei 50 000 Menschen, von denen 66 Prozent französischsprachig sein müssen. Hauptherkunftsländer sind Marokko, Algerien, Frankreich und Haiti. Doch nur mit Gesetzen und Regelungen lasse sich der Trend nicht umkehren, meint Jean-François Ro­berge, der Minister für französische Sprache. Jede Québecerin und jeder Québecer sollte sich daher stets fragen: „Ist das Kulturgut, das ich gerade konsumiere, französischsprachig?“

Wenn Roberge von „französischsprachiger Kultur“ spricht, meint er damit vornehmlich die Chansons aus der Zeit der „Stillen Revolution“ (Révolu­tion tranquille) zwischen 1960 und 1966. Damals emanzipierte sich Québec, getragen von einer breiten sozialen Bewegung, von der übermächtigen katholischen Kirche und der anglofonen Elite und schuf einen säkularen Wohlfahrtsstaat.

Auch wenn die Lieder aus Québec von Chansons aus Frankreich und der nordamerikanischen Gegenkultur (Folk und Rock) inspiriert waren, wurden sie zum bevorzugten Kulturträger der damaligen Unabhängigkeitsbestrebungen. Gilles Vigneaults Chansons „Mon pays“ (1965) und „Gens du pays“ (1975) wurden praktisch zu Québecer Nationalhymnen. Als am 20. Mai 1980 das Referendum über die Abspaltung von Kanada scheiterte, sang Premierminister René Lévesque (1922–1987) am Abend mit seiner Anhängerschaft und großem Pathos „Gens du pays“.

Damals schossen in der Provinz überall kleine „Chansonlokale“ wie Pilze aus dem Boden. „Alle wollen Chansons machen – und die anderen wollen offenbar jede Menge davon hören“, notierte 1966 der Komponist und Autor Sté­phane Venne: „Doch man hat den Chansons hierzulande eine Last auferlegt, die so schwer wiegt wie die ganze Welt. Sie sollen nämlich für die Qué­becer noch mehr sein als das, was der Jazz für die Schwarzen Amerikas ist oder die Oper für die Italiener.“1

Diese Last bekamen jüngst auch die Kandidatinnen und Kandidaten einer Realityshow zu spüren. Bei der ersten Gala der Sendung „Star Académie“ im Januar 2022 waren 10 von 14 Songs noch englischsprachig. In den nächsten Sendungen kehrte sich das Verhältnis zwar um, aber da waren die Diskussionen schon in vollem Gang. Schließlich wurde die Show von der TVA-Gruppe produziert, deren Präsident Pierre Karl Péladeau ist, der ehemalige Chef der Unabhängigkeitspartei Parti Québec, die 1977 unter Premierminister Lévesque Französisch als einzige Amtssprache durchgesetzt hatte.

Es folgten emotionale Leitartikel in der französischsprachigen Presse, und einige prominente Köpfe der Musikindustrie fanden rasch einen Schuldigen für das Malheur: die bei dem jungen Publikum beliebten Streamingdienste wie Spotify, das auch den Québecer Markt dominiert. Laut einer aktuellen Umfrage unter Studierenden des Fachbereichs Kunst und Medientechnik der Hochschule Jonquière hören 51 Prozent von denen, die Musik online streamen, „mehrheitlich englische“ Songs und nur 3,6 Prozent „mehrheitlich französische“. 29,9 Prozent gaben an, dass sie beim Hören zwischen beiden Sprachen switchen.2

Franglais als Sprache des HipHop

Innerhalb eines Jahrzehnts haben Strea­ming­dienste das Hörverhalten revolutioniert, CDs überflüssig gemacht und die kriselnde Musikindustrie neu belebt. Zugleich sorgten sie für einen Einbruch der Hörerzahlen im Radio, vor allem bei den Musiksendern, die in der Kohorte der 12- bis 34-Jährigen die Hälfte ihrer Hörerschaft verloren haben. Radio und Streaming sind zwar Konkurrenten, spielen aber nicht nach denselben Regeln. In Québec sind die frankofonen Sender verpflichtet, unter der Woche zwischen 6 und 20 Uhr 65 Prozent französische Musik zu spielen (in Frankreich sind es 40 Prozent). Erst kürzlich hat der kanadische Rundfunkrat CRTC die Bitte der großen Radiosender, die Quote auf 35 Prozent zu senken, erneut abgelehnt.

Während viele Sender mit unterschiedlichen Strategien die Quotenvorgabe umgehen, gibt es für die Strea­ming­dienste bislang noch keinerlei Verpflichtung dieser Art. Auch wenn ihre Kun­d:in­nen ihre Playlists selbst zusammenstellen, beeinflussen die Plattformen doch deren Nutzungsverhalten, indem sie bestimmte Bands oder Titel bewerben und die Algorithmen für die automatischen Empfehlungen programmieren. Die Vorschläge orientieren sich vor allem an großen Labels und globalen Hits: Ob in New York, São Paulo, Tokio, Lagos oder Montréal – überall hört man dieselben Stars.

Nach Angaben der zehn größten Streamingdienste, zu denen Spotify, Deezer, Apple Music, Amazon Music und Youtube zählen, kamen Künst­le­r:in­nen aus Québec 2022 in der eigenen Provinz lediglich auf eine Quote von 8 Prozent (während sie bei den analog verkauften Alben 30 Prozent erzielten). Nur vier Chansons schafften es in die Top 100: „Copilote“ von den Rappern FouKi und Jay Scøtt (Platz 17), „L’Amérique pleure“ von der Band Les Cowboys Fringants (49), „Mean­ingless“ von Charlotte Cardin (66) und „Lullaby“ von Alicia Moffet (78) – wobei die beiden letzten Lieder auf Englisch sind. Zum Vergleich: In Frankreich waren neun der zehn meistgehörten Künstler auf Spotify 2022 französische Rapper, mit Ausnahme von The Weeknd, einem anglokanadischen Musiker.

Im Juni 2022 stand Premierminister Legault in Montréal an einem Rednerpult, an dem der Slogan „Unser Chanson – Unsere Musik – Unser Haus“ prangte, um ein lange geplantes Projekt wiederzubeleben: 2026 soll endlich das Maison de la chanson et de la musique eröffnet werden. Der mittlerweile 94-jährige Gilles Vigneault war ebenfalls dabei und Catherine Major, France D’Amour und Ilam traten auf. Die drei sind durchaus beliebt, doch bei den Streamingdiensten haben sie kaum eine Chance gegen die anglofone Konkurrenz: Während etwa Major durchschnittlich 12 624 Aufrufe pro Monat auf Spotify verzeichnet, erreicht der englischsprachige Rapper Drake aus Toronto 69 Millionen.

„Für eine große Plattform wie Spotify, die Milliarden Dollar wert ist, bedeutet der Québecer Markt nicht viel“, sagte Pierre Lapointe kürzlich in einem Interview mit Radio Canada. Der auch in Frankreich und Belgien populäre und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnete Chansonnier fordert Unterstützung von den staatlichen Medien, sonst „wird die frankofone Kultur untergehen“.

Die kanadische Bundesregierung unter Premierminister Justin Trudeau hat ein Gesetzesvorhaben vorgelegt, das demnächst im Parlament diskutiert werden soll. Die Regeln des Rundfunkrats sollen fortan auch für die Strea­mingdienste gelten, um eine bessere „Auffindbarkeit“ kanadischer Inhalte zu gewährleisten. Ähnlich wie für Radiosender sollen daher auch für die Algorithmen verpflichtende Quoten gelten: für englischsprachige, französischsprachige sowie indigene Musik.

Québec hat sich immer als gallisches Dorf in Nordamerika betrachtet. Jetzt fürchtet es gleich an zwei Fronten zu verlieren – bei der Jugend und bei der Musik – und reagiert mit Restriktionen. So sollen beispielsweise in öffentlichen Einrichtungen und auf deren Anrufbeantwortern nur französische Musik aus Québec laufen. Fördermittel sollen nur noch an Künst­le­r:in­nen vergeben werden, die ihre Songtexte auf Französisch schreiben. Das ist vor allem im HipHop absurd.

So mussten die Dead Obies ein Stipendium der Stiftung Musicaction zurückzahlen, weil sie auf ihrem Album „Gesamtkunstwerk“ statt der vorgeschriebenen 70 Prozent nur zu 55 Prozent französische Wörter verwendet hatten. Wie viele HipHop-Bands schrei­ben die Dead Obies ihre Texte in ­Franglais: „J’suis tellement plus about being felt que famous / Que même moi, j’sais plus what the hell my name is“ (Do 2 Get). Die Musiker gehören zu einer Generation, die mehrheitlich zweisprachig (65 Prozent der 20- bis 29-Jährigen) beziehungsweise mehrsprachig ist – so auch der Künstler Loud. Dieser verwendet auch den Québecer Volks­dia­lekt Joual und sagt: „Ich bin nur ein Rapper, nicht der Retter der französischen Sprache.“

Unterdessen geht der Kulturkrampf weiter: Im März 2022 schloss das Internationale Chanson-Festival von Granby den Rapper Samian aus, weil er nicht auf Französisch singen wollte. Auf seinem neuesten Album textet er in der indigenen Sprache Anishinaabemowin. Und im August löschte der Betreiber des neuen Schienenverkehrssystems REM, das gerade in der Metropolre­gion Montréal gebaut wird, ein Werbevideo von seinem Tiktok-Account, nachdem sich User beschwert hatten, dass dort ein englischsprachiger Rapper zu hören war.

Eine Marktregulierung durch Quoten und Subventionen könnte die sprachliche Festung stärken, die die nationalistische Koalition unter Pre­mier Le­gault errichtet hat, dessen Regierung im Oktober 2022 im Amt bestätigt wurde. Doch sie wäre vor allem ein Instrument, um die Québecer Musikszene und deren ethnische Diversität zu fördern. Québec wird komplexe Lösungen finden müssen, ist es doch an Paradoxe gewöhnt: Seine bekannteste französischsprachige Botschafterin, Céline Dion, stieg in den 1990er Jahren mit englischen Texten zum Weltstar auf.

1 Stéphane Venne, „Notre chanson en quête de hauteurs“, Liberté, Nr. 46, Montréal, Juli 1966.

2 Caroline Savard und Audrey Perron, „Portrait des habitudes médiatiques des étudiantes et étudiants en Art et technologie des médias du Cégep de Jon­quière“, Ècole supérieure en Art et technologie des médias, Jonquière, September 2022.

Aus dem Französischen von Sabine Jainski

Éric Delhaye ist Journalist.

Le Monde diplomatique vom 08.06.2023, von Éric Delhaye