Die Erfindung des Robocops
Bei den Rentenprotesten in Frankreich wurden tausende Demonstranten verletzt. Angesichts der massiven Polizeigewalt fürchten viele einen Rückfall in alte Zeiten.
von Laurent Bonelli
Am 4. Mai 1891 verurteilte der sozialistische Abgeordnete Ernest Roche in der Nationalversammlung die Gewalt, mit der die Ordnungskräfte ein paar Tage zuvor in Fourmies, einer Kleinstadt im Norden Frankreichs, gegen Protestierende vorgegangen waren. Am 1. Mai hatten sich Arbeiter vor einer Fabrik versammelt, um den 8-Stunden-Tag und die Einführung eines Feiertags zu fordern.
Roche erzählte, dass die Gendarmen gegen 9 Uhr den Befehl erhielten, anzugreifen, „ohne dass es vorher eine Provokation gegeben hätte. Ein Mann wurde verletzt, ein Kind verlor ein halbes Ohr. Daraufhin geriet die Menge in Wut und warf Steine.“ Nachdem die Situation sich zwischendurch etwas beruhigt hatte, spitzte sie sich am Nachmittag wieder zu: „Gegen 15 Uhr kam es erneut zu Auseinandersetzungen, und die Zahl der Demonstranten wuchs an.“1
Die Situation eskalierte: „Die Gendarmen schlugen wild um sich. Frauen, Kinder und Alte wurden niedergeknüppelt. Viele Bürger reagierten mit Steinwürfen.“
Es herrschte ein großes Durcheinander, und plötzlich, „ohne dass man wusste, wer den Befehl dazu gegeben hatte, eröffnete die Truppe das Feuer auf die Menschenmenge. Der Platz war übersät mit Verletzten und Toten.“ Neun Menschen kostete die Schießerei von Fourmies das Leben (darunter zwei Kinder), 35 wurden durch Kugeln verletzt.
Roche forderte damals Innenminister Jean Antoine Ernest Constans zu einer Stellungsnahme auf. Doch der war unnachgiebig: „Wir haben den Befehl gegeben, für öffentliche Ruhe zu sorgen. Darin waren wir klar, entschieden und umsichtig.“ Constans gab an, dass „die örtliche Gendarmerie in der Menge die übliche Klientel aus Schmugglern und zwielichtigen Gestalten ausmachen konnte, schätzungsweise 500 oder 600 Personen, darunter mehr als ein Viertel Ausländer“. Den ganzen Tag über seien Polizei und Armee zunehmend gewaltsamen Beleidigungen, Provokationen und Aggressionen ausgesetzt gewesen. Erst als letztes Mittel sei von der Waffe Gebrauch gemacht worden. Zum Schluss sprach Constans den Ordnungskräften, die er als „mutige Männer“ bezeichnete, seinen Dank aus. Der Abgeordnete Roche war so erzürnt, dass er den Innenminister zweimal als „Mörder“ bezeichnete und daraufhin vorübergehend aus der Nationalversammlung ausgeschlossen wurde.
Die Behauptung, der Staat handle „maßvoll, entschieden und umsichtig“, der Streit darüber, wer die Verantwortung für die Eskalation der Gewalt trägt und welche Rolle „Unruhestifter“ spielen, ebenso wie der bedingungslose Rückhalt der Regierung für die Ordnungskräfte – all dies erinnert an die Debatten, die in den letzten Monaten in Frankreich geführt wurden, nachdem die Polizei teils mit massiver Gewalt gegen Proteste vorgegangen war; im Kontext der Rentenreform ebenso wie bei Demonstrationen gegen den Bau von Wasserreservoirs im Westen des Landes.
Das die Debatten sich so ähneln, überrascht, hat sich doch seit Ende des 19. Jahrhunderts in Sachen staatlicher Ordnungswahrung einiges verändert. Sie fällt mittlerweile nicht mehr in die Zuständigkeit der Armee, die sich damals um die sogenannte Volksstimmung zu kümmern hatte. Sobald die örtliche Polizei oder die Gendarmerie überfordert war, wurde die Armee hinzugezogen, so wie 1891 das 145. Infanterieregiment in Fourmies. Von der Julirevolution 1830 über die Straßenkämpfe im Juni 1848 bis zur „Blutwoche“ 1871 führten Staatskrisen und die Niederschlagung sozialer Proteste zu tausenden Toten und zehntausenden Verletzten.
Dies wurde allerdings nicht als politisches Problem betrachtet, nicht einmal als moralisches. Für die damaligen Eliten war das Volk einfach nur eine Masse ohne individuellen Willen, die blindlings bereit war, sich ein paar Rädelsführern anzuschließen. Anne Robert Jacques Turgot, Generalkontrolleur der Finanzen unter Ludwig XVI., fasste diese Vorstellung in einem Brief vom 18. April 1775 an die Vertreter der Generalstände von Burgund zusammen.
Nachdem wütende Bauern aus Protest gegen die Getreidepreise eine Mühle zerstört und geplündert hatten, schrieb Turgot: „Vor allem gilt es sich gegenüber dem Pöbel durchzusetzen und der Stärkere zu sein.“ Dann müssten die leicht zu ermittelnden Anführer der Meute festgenommen werden, denn Straflosigkeit sei „eine große Ermutigung für zukünftige Aufstände“.
Ende des 19. Jahrhunderts war diese Philosophie nicht mehr tragbar. Während des Ancien Régimes hatte das Herrschaftsmonopol in den Händen des Adels gelegen. In der Zeit der Restauration und der Julimonarchie (1814–1848) lag es bei den Wohlhabenden. Mit der Einführung des allgemeinen Wahlrechts für Männer 1848 wurde auch das einfache Volk in die Politik einbezogen. Die traditionellen personellen Formen von Autorität verloren mit dem Aufkommen von Clubs, Wahlausschüssen, Vereinen und schließlich von Parteien an Bedeutung. In diesen Strukturen organisierten sich die Bürger, hier wurden die soziale Frage und die Situation der Arbeiter diskutiert und Manifeste verfasst.
Für die Regierenden wurde es immer heikler, einerseits Grundrechte wie Meinungsfreiheit (etwa mit dem Pressegesetz von 1881), Versammlungsfreiheit und das Recht auf gewerkschaftliche Organisation zu garantieren und gleichzeitig auf diejenigen schießen zu lassen, die diese Rechte wahrnahmen. Zumal auf die Armee nicht immer Verlass war.
Während des Winzeraufstands im Languedoc 1907 (der in Narbonne sieben Tote forderte) solidarisierte sich das 17. Infanterieregiment in Béziers mit den Demonstrierenden und brachte die Regierung Georges Clemenceau arg in Bedrängnis.
Anfang des 20. Jahrhunderts gab es mehrere Gesetzesvorhaben, um eine von der Armee unabhängige Spezialeinheit nur für den Einsatz bei Demonstrationen aufzubauen. Am 22. Juli 1921 wurden schließlich 111 mobile Gendarmerieeinheiten ins Leben gerufen. Diese Einsatzkräfte, die 1926 in „Garde républicaine mobile“ umbenannt wurden und heute allgemein als „Gendarmerie mobile“ (GM) bekannt sind, bestanden 1939 aus 21 000 Mann. Sie waren allein zuständig für die Aufrechterhaltung der Ordnung auf französischem Territorium, mit Ausnahme von Paris.
Die GM entwickelte eigene Richtlinien, Trainingsmethoden und Kompetenzen. Protestierende sollten nicht mehr als Feinde oder Gegner behandelt werden, sondern als „vorübergehend beeinflusste Individuen“, wie es in den 1930er Jahren hieß. Den direkten Kontakt mit den Demonstranten, der erfahrungsgemäß zur Eskalation führte, galt es zu vermeiden. Vorrang hatten Techniken der Kanalisierung, Einkesselung und Zerstreuung von Menschenansammlungen. Doch zunächst hatte man weiter nur die alten Mittel zur Verfügung: Korpsgeist, Polizeiketten, Gewehrkolben und Schlagstöcke.
Motorisierte Brigaden
Nach dem Zweiten Weltkrieg kamen Blendgranaten, Wasserwerfer und Tränengas hinzu. (Letzteres war zuvor wegen der Erinnerungen an die Schützengräben des Ersten Weltkriegs undenkbar gewesen.)2 1944 schuf die Polizei ihrerseits Spezialeinheiten, die Compagnies républicaines de Sécurité (CRS), die 1947 etwa 13 000 Mann zählten und sich in Organisation und Ausrüstung an der GM orientierten.
Beide Truppen kamen bei den hart geführten sozialen Auseinandersetzungen jener Zeit zum Einsatz, etwa bei den Bergarbeiterstreiks von 1947/48. Auf beiden Seiten kam es zu vielen Verletzten, doch die Todeszahlen unter den Protestierenden gingen deutlich zurück. Die Hauptstadt Paris blieb allerdings eine Ausnahme: Hier verfügte der Präfekt über eigene Einheiten, die er aus dem Personal der städtischen Polizei rekrutierte.3 Diese besaßen wenig Erfahrung und waren schlecht ausgebildet. Sie gingen mit äußerster Brutalität vor und „beglichen ihre Rechnung“ mit protestierenden Algeriern (sieben Tote am 14. Juli 1953 und mehrere Dutzend am 17. Oktober 1961) oder den Kommunisten (zehn Tote an der Metrostation Charonne am 8. Februar 1962).
Die heftigen, landesweiten Unruhen im Mai und Juni 1968 stellten die Ordnungskräfte auf eine harte Probe. Entgegen den offiziellen Angaben, es hätte keine Toten gegeben, starben fünf Menschen (drei Studenten und zwei Arbeiter). Vor allem aber zeigte sich, dass die Ordnungskräfte zahlenmäßig unterlegen und schlecht ausgerüstet waren. Zwischen 1968 und 1974 wurden daher 20 000 zusätzliche Polizisten eingestellt und die CRS und die GM erhielten neue Schutzausrüstungen (Helme, Visiere, Beinschutz, Schilde, Gasmasken) sowie gepanzerte Fahrzeuge und Granaten verschiedenen Typs.
Im April 1969 wurde in Saint-Astier in der Dordogne ein Ausbildungszentrum, das CPGM, eröffnet. 1977 entstand hier eine ganze Stadt (Cigaville), in der Sicherheitskräfte alle erdenklichen Einsatzszenarien trainieren konnten. Auch die CRS nutzten das CPGM, bevor sie eigene Trainingszentren errichteten. Ziel der Ausbildung ist es, Korpsgeist und Disziplin einzuüben, um mit Angst und Stress im Einsatz umgehen zu können.
Die Fischerproteste in Rennes im Februar 1994 gelten als die gewalttätigsten der jüngsten Vergangenheit: Das bretonische Parlament wurde in Brand gesteckt, die Protestierenden schossen mit Leuchtraketen und Harpunen, Polizisten und Gendarmen erlitten teils schwere Verletzungen. Danach wurden GM und CRS weiter aufgerüstet. Die Fahrzeuge wurden mit Gittern ausgestattet, und für die Einsatzkräfte wurden sogenannte Robocop-Monturen angeschafft: ein schwer entflammbarer Anzug, Armschützer, Ellenbogen- und Schulterpolster, dazu ein Kevlar-Helm.
Trotz der Behauptung, die Ordnungskräfte hätten sich in ihrem Vorgehen gemäßigt, kommt es bei Demonstrationen immer noch regelmäßig zu einer großen Zahl von Verletzten. Tote gab es seit 1968 jedoch nur noch so selten, dass ihre Namen weiter in Erinnerung bleiben: Malik Oussekine, der im Dezember 1986 bei Protesten gegen eine Universitätsreform von Polizisten zu Tode geprügelt wurde, oder Rémi Fraisse, der im Oktober 2014 bei einer Demo gegen ein Staudammprojekt in Sivens von einer Granate getroffen wurde.4
Polizeivertreter lobten sogar das „französische Modell“ im Umgang mit Protesten. Die Ordnungshüter in Frankreich beobachteten aufmerksam, welche Schwierigkeiten die Polizei im Ausland im Umgang etwa mit der globalisierungskritischen Bewegung hatte (1999 in Seattle oder 2001 in Göteborg und Genua). Aus den Debatten, die auf europäischer Ebene geführt wurden, hielten sie sich heraus.
Seit Ende der 1990er Jahre ist in Frankreich jedoch eine Veränderung zu beobachten: Weil sich das gesellschaftliche Konfliktpotenzial verringert habe, kamen führende Politiker auf die Idee, dass Kräfte der CRS und der GM auch als Personalreserve im Kampf gegen Kleinkriminalität und „antisoziales“ Verhalten dienen könnten. Angestoßen wurde diese Entwicklung während der Amtszeit von Premierminister Lionel Jospin (1997–2002) und nahm danach weiter Fahrt auf.
Im Aktionsplan, einem Anhang zum Gesetz für innere Sicherheit vom 29. August 2002, heißt es: „Die friedliche Demokratie, die seit vielen Jahren in unserem Land gelebt wird, erlaubt es, den Einsatzbereich der mobilen Ordnungskräfte grundlegend zu ändern.“ Wichtigstes Einsatzfeld der damals 30 000 mobilen Einsatzkräfte sollte nicht mehr die öffentlichen Ordnung sein, sondern die innere Sicherheit.
Insgesamt ist die Zahl der Polizisten und Gendarmen, die zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung bereitstehen, geschrumpft. Obwohl mittlerweile mehr Aufgaben in ihren Bereich fallen, waren es 2015 nur noch 25 786 Personen, fast 15 Prozent weniger als 2002. Weil die Einheiten unter Überlastung leiden, wurden die Compagnies départementale d’Intervention (CDI) aufgebaut. Die CDI sind auf regionaler Ebene organisiert und unterschiedlich aufgestellt. Sie setzen sich aus Polizeikräften zusammen, die vor allem im Kampf gegen „städtische Gewalt“ und Drogenhandel eingesetzt werden.
Zu erkennen sind die CDI an den zwei blauen Streifen auf den Helmen (im Unterschied zu den gelb gestreiften Helmen der CRS). Seit Ende der 2000er Jahre sind sie ein zentrales Instrument zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung. Sie sind in ihrer Kommando- und Einsatzstruktur autonomer als die CRS und die GM. Zudem stimmen sie sich offenbar besser mit der Judikative ab.
Verhaftungen spielten beim Demoeinsatz nur am Rande eine Rolle. Der frühere Leiter des CPGM-Ausbildungszentrums, General Bertrand Cavallier, erklärte im Oktober 2020 bei einer Diskussionsveranstaltung, der traditionelle Ansatz ziele darauf ab, die Gewalt zu „absorbieren“, denn sie sei „gemeinhin vorübergehend“.
Er sprach vom „Konzept der zumutbaren Unordnung“ und dass vielleicht nicht jede Sachbeschädigung geahndet werden müsse. Denn das eigentliche Ziel sei, dass nach „dem Anstieg der Emotionen eine Rückkehr zur Normalität möglich ist und wir versuchen können, auf die Forderungen der Demonstranten einzugehen, selbst wenn sie gewalttätig waren“.5
Die wechselnden Regierungen seit Anfang der 2000er Jahre formulierten jedoch immer wieder auch das Ziel, der „Straflosigkeit“ ein Ende zu setzen und Unruhestifter festzunehmen. Die CRS und die GM begannen Videoüberwachung einzusetzen, in jüngerer Zeit kamen chemische Produkte zur Markierung (Produit de marquage codé, PMC) hinzu, die Spuren auf der Haut und der Kleidung hinterlassen, um eine nachträgliche Festnahme zu ermöglichen.
Die Staatsanwaltschaften erlauben mittlerweile immer häufiger präventive Festnahmen und haben sich so organisiert, dass sie sehr schnell auf polizeiliche Anfragen reagieren können. Vor allem aber wurde die Polizeitaktik überarbeitet: Sie unterscheidet nun zwischen friedlichen Demonstranten und jenen, die sich an illegalen Handlungen beteiligen („les casseurs“). Letztere werden nun auch direkt aus der Menge gezogen.
Die Unterscheidung zwischen friedlichen Demonstranten und Gewalttätern findet sich auch im 2021 verabschiedeten nationalen Plan zur Aufrechterhaltung der Ordnung (SNMO). Er formuliert zwei „verschiedene und sich ergänzende“ Ziele für den Umgang mit Demonstrationen: die unverzügliche Auflösung gewaltbereiter Gruppen einerseits und schnelle und gezielte Festnahmen andererseits.
Obwohl die GM und die CRS über Einheiten verfügen, die in der Lage sind, solche Aufgaben zu erfüllen, werden sie in der Regel von den CDI und vor allem von den ebenfalls regional organisierten Brigades anticriminalité (BAC) übernommen; und seit 2019 auch von den neu geschaffenen, umstrittenen Brigades de répression des actions violentes motorisées (BRAV-M).
Trotz aller rhetorischer Zusicherungen, dass die unterschiedlichen Taktiken sich ergänzen würden, sind sie teilweise widersprüchlich: Der Zugriff auf einzelne Personen führt häufig dazu, dass der gesamte Demonstrationszug stoppt und Gewalt provoziert wird. Tränengas unterscheidet nicht zwischen friedlichen und gewalttätigen Demonstrant:innen, oft trifft es diejenigen mit wenig Demoerfahrung und löst bei ihnen Unverständnis und Wut aus.
Das hohe Risiko, als Polizist beim Zugriff in der Menge verletzt zu werden, erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass die Beamten bei ihrer Aktion selbst Gewalt anwenden. Die sozialen Medien sind voller Videos, die das Chaos zeigen, das die nicht spezialisierten CDI, BAC und BRAV-M verursachen, wenn sie in eine Menge hineingehen. Manche Videos zeigen auch, dass diese Einheiten mit der GM oder der CRS in Konflikt geraten, weil sie deren Einsatzpläne durcheinanderbringen. Bei Schwierigkeiten wird dann schnell zu Tränengasgranaten gegriffen oder sogar zum Gummigeschoss-Werfer, wie zum Beispiel dem in Frankreich stark umstrittenen LBD 40 (lanceur de balles de défenses 40 mm).
Diese sogenannten nicht tödlichen Waffen existieren seit Mitte der 1990er Jahre (unter dem Handelsnamen Flashball) und waren ursprünglich für Spezialeinheiten zur Neutralisierung von Amokläufern oder Geiselnehmern bestimmt. Nach und nach kamen sie auch bei den BAC und CDI zum Einsatz. Seit den Ausschreitungen in den französischen Banlieues 2005 ist ihr Gebrauch allgemein üblich.
Bei Demos werden sie von den BAC und den CDI mittlerweile systematisch eingesetzt: Während der Proteste der „Gelbwesten“ gingen von den 13 460 Schüssen, die mir solchen Waffen zwischen dem 17. November 2018 und 5. Februar 2019 abgegeben wurden, 85 Prozent auf das Konto dieser städtischen Polizeikorps, 15 Prozent auf das Konto der CRS. Für den selben Zeitraum meldete die Gendarmerie 1000 Schüsse mit Gummigeschosswerfern.6
Die Kontroverse über Verletzungen durch Gummigeschosse hat zwar dazu geführt, dass sie etwas weniger benutzt werden. Doch zur Standardausrüstung gehören sie mittlerweile trotzdem. Der jährliche Bericht der Generalinspektion der nationalen Polizei (IGPN) gibt für 2021 knapp 6700 Schüsse an. 2012 waren es nur 1514.
Die Rolle, die den städtischen Polizeikräften bei Demonstrationen zukommt, verändert auch ihr Selbstbild. Die Polizisten verstehen sich als „Jäger“ und sind wenig geneigt, die Demonstranten als „vorübergehend irregeleitete Bürger“ wahrzunehmen. Sie betrachten sie eher als Kriminelle. Und handeln dementsprechend: Sie demütigen, schikanieren und gehen bei Festnahmen übermäßig brutal vor.
All dies sind Elemente, die eine „Brutalisierung der Ordnungswahrung“7 erklären können, die seit Mitte der 2000er Jahre zu beobachten ist und mit dem Vorgehen gegen die Gelbwesten-Bewegung einen vorläufigen Höhepunkt erreicht hat. Ein zusätzlicher Faktor ist die Tatsache, dass Demonstrationen als politische Ausdrucksform zunehmend delegitimiert werden.
Das Bemühen um die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung beginnt allerdings nicht erst in der Konfrontation zwischen Polizei und Protestierenden. Es handelt sich um eine Dreierbeziehung, an der auch die Regierenden Anteil haben.
Im Laufe des 20. Jahrhunderts haben sich bestimmte Protest- und Aktionsformen herausgebildet und etabliert. Sowohl Bürger:innen als auch Ordnungskräfte haben sich dieser Entwicklung angepasst: Aufstände sind selten geworden, das Mittel der Wahl sind Demonstrationen, die häufig nach dem immer gleichen Schema ablaufen: ein Zug von A nach B, Transparente, Forderungen, Parolen.
Allerdings ist eine Demonstration nur möglich, weil sie als demokratischer Ausdruck des Dissenses anerkannt ist und die Möglichkeit politischer Verhandlungen beinhaltet. Der stellvertretende Direktor der öffentlichen Sicherheit in der Polizeipräfektur von Paris, Jean-Marc Berlioz, erklärte 1997: „Jeder Bürger wird in seinem Leben einmal ein Demonstrant sein, und ich teile die Auffassung, dass Demonstrationen ein Korrektiv zu Wahlen sind.“8
Die heutigen politischen Eliten scheinen diese Auffassung nicht mehr zu teilen, ihnen fehlt, anders als ihren Vorgängern, die Erfahrung kollektiven Handelns. Das Wahlergebnis, egal wie knapp, gilt ihnen als einzige Legitimationsquelle und fungiert praktisch als Blankoscheck. Man weigert sich, mit den Gewerkschaften (die ja auch repräsentativ sind) und Protestgruppen (etwa dem Pflegepersonal) in Dialog zu treten; man wendet alle rechtlichen Instrumente an, um das Parlament mundtot zu machen (etwa die Anwendung des Artikels 49.3 bei der Verabschiedung der Rentenreform)9 ; all dies zeugt von einem Konzept vertikaler Machtausübung, das dem Einspruch wenig Platz einräumt.
Mit Ausdrücken wie „Masse“, „Mob“ oder „Meute“ wird eine Vorstellung des ungebildeten, brutalen Pöbels reaktiviert. Das spiegelt sich auch in der Praxis: Einschüchterungen, unverhältnismäßiger Einsatz von Tränengas, Gummigeschossen und Wasserwerfern, Einkesselungen, Verbotszonen, präventiver Polizeigewahrsam, Geldstrafen und Massenfestnahmen. In Frankreich auf eine Demo zu gehen, wird immer gefährlicher.
Die Brutalisierung der Polizeiarbeit und der Politik sind zwei Seiten derselben Medaille. Die Weigerung, zu verhandeln und Demonstrationen als legitime politische Ausdrucksform anzuerkennen, schüren die Wut der Protestierenden, was das Ausmaß der Gewalt erhöht. Dass sich die Presse auf jeden noch so kleinen brennenden Mülleimer stürzt, verstärkt diese Dynamik.
Das führt dazu, dass spektakuläre Einzelaktionen ein Maß an Aufmerksamkeit erhalten, das in keinem Verhältnis zu ihrer Bedeutung für die Gesamtbewegung steht. Das verschärft wiederum die Reaktionen der Polizei und macht es leichter, die Proteste zu delegitimieren. Selbst wenn es sich um eine Massenbewegung handelt, wird diese dann auf die Handlungen derjenigen reduziert, die man im Innenministerium gern als „schwarzen Block“, „Autonome“ oder „Linksextremisten“ bezeichnet.
Der unmittelbare Nutzen für die Regierenden liegt auf der Hand. Mittelfristig aber sind die Folgen bedenklich. Zunächst einmal passen sich die Protestierenden den neuen Gegebenheit an, etwa mit besserer Ausrüstung zum Schutz vor Tränengas. Sie setzen stärker auf Konfrontation und machen Polizeigewalt durch Filmaufnahmen öffentlich. Diese Entwicklung könnte dazu führen, dass auch radikalere Aktionsformen wie Sabotage, Brandstiftung, Blockaden oder Besetzungen zurückkehren beziehungsweise häufiger werden.
Wer ein Land regieren will braucht zumindest ein Mindestmaß an Zustimmung derjenigen, über die er regiert. Für diese Zustimmung erwartet das Volk jedoch Gegenleistungen. Unmittelbar nach der Tragödie von Fourmies im Jahr 1891 wandte sich der Abgeordnete und spätere Staatspräsident Alexandre Millerand wütend an Innenminister Constans: „Wenn die Republik gegründet wurde, wenn sie besteht, wenn sie durch alle Krisen hindurch Bestand hatte, dann verdanken Sie dies, das wissen Sie sehr wohl, allein den Millionen von Arbeitern in den Fabriken, auf den Feldern, in den Bergwerken, die heute von der Republik die sozialen Reformen erwarten, die sie ihnen schuldig ist.“
An diese Worte Millerands musste unwillkürlich denken, wer die Rede von Gérard Mardinédes am 15. Februar 2023 hörte. Der Generalsekretär der Angestelltengewerkschaft CFE-CGC wandte sich an den Senatsausschuss für Soziales und fragte: „Für wen machen Sie Ihre Politik? Für die französischen Arbeitnehmer oder für angelsächsische Pensionsfonds?“
Beide Einwürfe erinnern uns daran, dass die Konsolidierung eines demokratischen Staats in Frankreich untrennbar verbunden ist mit dem Schutz der Arbeitnehmer:innen, mit den Kompromissen, die zwischen Arbeit und Kapital gefunden werden müssen. Das offensichtliche Ungleichgewicht, das sich zugunsten der Privilegierten entwickelt hat – und das noch nicht einmal mehr zu verschleiern versucht wird –, untergräbt diesen impliziten Gesellschaftsvertrag. Die politischen Eliten zerstören auf diese Weise Stück für Stück eine Konstruktion, ohne die es sie gar nicht gäbe.
Die repräsentative Demokratie funktioniert nicht wie ein höflicher Dialog zwischen den Aktionären in einem Aufsichtsrat oder den Vorstandsmitgliedern eines internationalen Finanzinstituts. Sie lebt und artikuliert sich auch durch kollektive Mobilisierungen, die regelmäßig die Kräfteverhältnisse zwischen Repräsentanten und Repräsentierten neu austarieren.
Bei Massenprotesten wird die Meinung einer großen Zahl von Menschen sichtbar. Insofern eignen sie sich weit besser, um politische Macht zu legitimieren, als es Richtlinien zur Strafverfolgung und Anweisungen zum Einsatz von Tränengasgranaten oder Gummigeschossen je vermögen werden.
2 Siehe Anna Feigenbaum, „Zerstreuen und ersticken“, LMd, Mai 2018.
3 Die Pariser Polizei wurde erst 1966 in die nationale Polizei integriert.
8 Les Cahiers de la sécurité intérieure, Nr. 27, Paris 1997.
9 Siehe Lauréline Fontaine, „Befangene Verfassungsrichter“, LMd, April 2023.
Aus dem Französischen von Uta Rüenauver
Laurent Bonelli ist Dozent für Politikwissenschaft an der Universität Paris-Nanterre.