Ohne Leiche kein Verbrechen
von Benjamin Fernandez
Mitte Dezember 2021 verkündete Präsident Bukele, der selbsternannte „CEO von El Salvador“, mit einem breiten Lächeln: „Das Jahr 2021 war das sicherste Jahr, das jemals in El Salvador verzeichnet wurde.“1 Er stand damals vor einer Gruppe junger Menschen, die im Rahmen des nationalen Bandenbekämpfungsprogramms in die Armee aufgenommen werden sollten.
El Salvador kann sich in der Tat über einen historischen Rückgang der Gewalt freuen: 2021 wurden im Land „nur“ 1147 Morde begangen, eine Quote von 17,6 auf 100 000 Einwohner:innen – das ist die niedrigste Rate seit Ende des Bürgerkriegs 1992. Bereits für 2020 hatten die Behörden einen Rückgang der Mordrate um 45 Prozent verkündet. Die meisten Tötungsdelikte werden von Mitgliedern der Mara Salvatrucha oder der Mara Barrio 18 begangen. Noch vor wenigen Jahren waren solche Zahlen unvorstellbar: 2015 lag die Mordrate bei über 108 pro 100 000 Einwohner:innen.
Das salvadorianische Wunder könnte sich jedoch als Fata Morgana erweisen. Der Präsident schreibt den Erfolg seinem „Projekt zur Kontrolle des Staatsgebiets“ (Proyecto Control Territorial, PCT) zu, das er 2019 zu Beginn seiner Amtszeit initiiert hatte; Grundlage ist die Kontrolle der Viertel, in denen die Maras die Herrschaft übernommen hatten, durch das Militär.
Das salvadorianische Online-Medium El Faro fand indes eine andere Erklärung für den Rückgang der Mordrate: Nach Recherchen von 2020 hatte die Regierung in Wahrheit einen geheimen Waffenstillstand mit den Banden ausgehandelt, um die Zahl der Morde vor den damals anstehenden Parlamentswahlen möglichst niedrig zu halten.2 Im Gegenzug wurden die Haftbedingungen einiger Bandenchefs verbessert.
El-Faro-Chefredakteur Oscar Martínez fasst die brutale Realität in einem Satz zusammen: „Wenn die Politiker ihre Absprachen mit den Banden brechen – entweder weil sie aufgedeckt wurden oder weil die Wahlen gelaufen sind –, dann antworten die Banden mit ihrem einzigen politischen Kapital: Leichen.“
Die linke Regierung der FMLN (Front Farabundo Martí zur nationalen Befreiung) hatte bereits 2012 zu dieser Strategie der geheimen Absprachen gegriffen – und sich damit erpressbar gemacht: „Als die FMLN die Feuerpause 2015 aufkündigte, erlebten wir das gewalttätigste Jahr unserer gesamten Geschichte“, berichtet Martínez.
Auch diesmal erinnerten die Maras die Regierung mit tödlicher Gewalt an ihr Versprechen: Im November 2021 begingen sie 47 Morde. Im März 2022 töteten sie innerhalb von drei Tagen 87 Menschen. Daraufhin verkündete Präsident Bukele einen „Krieg gegen die Banden“ und verhängte den Ausnahmezustand.
Er befahl, zehntausende Menschen, die er als „Terroristen“ betrachtete, zu verhaften und ohne Gerichtsverfahren einzusperren (siehe nebenstehenden Artikel). Zahlreiche zivilgesellschaftliche und internationale Organisationen, darunter Amnesty International und das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte, kritisierten willkürliche Verhaftungen, Folter und menschenunwürdige Behandlung in den Haftzentren. Mindestens 21 Personen starben bei ihrer Verhaftung.
Das „Projekt zur Kontrolle des Staatsgebiets“ ist auch der wichtigste Programmpunkt in Bukeles Partei „Nuevas Ideas“ (Neue Ideen), die der Präsident vor den Parlamentswahlen im Februar 2021 gründete. Es reiht sich ein in die zentralamerikanische Tradition, Problemen der öffentlichen Sicherheit mit Militarisierung zu begegnen.
Es handele sich „eher um Propaganda als um echte Politik“, meint Oscar Martínez. „Alle Regierungen, die seit Ende des Bürgerkriegs gewählt wurden, haben versprochen, die Mordrate zu senken, und die Armee als wichtiges Element ihrer Strategie verkauft.“ Umfragen zeigen, dass die Armee neben der Kirche die Institution im Land ist, die das größte Vertrauen genießt. Allerdings gibt es „keine Statistik, die den Schluss erlaubt, dass der Einsatz von Soldaten langfristig irgendwelche Erfolge im Kampf gegen die Morde erbracht hat“.
Seit 20 Jahren werden in Zentralamerika immer öfter polizeiliche Aufgaben an die Armee übertragen. Im Friedensabkommen von 1992 war noch der Abzug aller Truppen von den Straßen El Salvadors vorgesehen. Inzwischen hat sich die Entwicklung umgekehrt: Bukele hat versprochen, die Anzahl der Soldaten auf den Straßen auf 40 000 zu erhöhen.
Das internationale Echo auf die erneuten Gewaltausbrüche, die seine Erfolgsbilanz schmälern, sorgte offenbar für Verunsicherung in Bukeles Regierung: Man bereinigte die Mordstatistik um die Leichen, die in Massengräbern gefunden wurden. Zudem ist die Zahl der Vermissten (1828 im Jahr 2021) in den letzten 5 Jahren kontinuierlich angestiegen. Sie liegt mittlerweile höher als die Zahl der Ermordeten.
Das deutet darauf hin, dass die Mordrate tatsächlich weniger stark gefallen sein könnte, als die offiziellen Statistiken glauben machen wollen. Das bestätigt auch die Sicherheitsexpertin Jeannette Aguilar von der Zentralamerikanischen Universität in San Salvador: „60 Prozent der Vermissten- und 37 Prozent der Mordfälle ereignen sich in den 22 Gemeinden, die im Zentrum von Bukeles Sicherheitsprojekt stehen. Ohne Leiche kein Verbrechen – deshalb steigt die Mordrate nicht mehr.“⇥Benjamin Fernandez
1 EFE, San Salvador, 16. Dezember 2021.
Aus dem Französischen von Sabine Jainski
Benjamin Fernandez ist Journalist.