11.05.2012

Mit Tee und Empathie

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Mit Tee und Empathie

Eine Reise durch die Protestcamps von London bis Santiago de Chile von Raphaël Kempf

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Amir Imran, der von Anfang an dabei war, führte uns durch das Occupy-Camp vor der St Paul’s Cathedral in London.1 „Mein Zelt steht da hinten, neben der Technikzentrale mit dem Internetanschluss. Wir sind ja ständig in Kontakt mit den anderen Occupy-Gruppen. Außerdem posten wir täglich auf Facebook. Das hier ist die Küche. Da holen wir uns Frühstück, Mittag- und Abendessen. Und hier ist das ‚Tea and Empathy‘-Zelt. Da steht sogar ein Klavier drin, und es gibt kostenlos Tee und Kaffee.“

Am 28. Februar wurde das Zeltlager von der Polizei geräumt. Seit dem 15. Oktober 2011 hatte Amir Imran Tag und Nacht in dem Protestcamp im Herzen Londons verbracht und es nur zweimal in der Woche verlassen, um an der Uni seine Seminare zu besuchen. Der 24-Jährige war damals neu in der Stadt. Er war erst ein paar Monate zuvor nach London gekommen, um sein Journalismusstudium abzuschließen.

Imran kommt aus Malaysia, wo strenge Gesetze herrschen. „Wer auch nur in den Verdacht gerät, die Harmonie und die öffentliche Ordnung zu stören, wird verhaftet. Ich war in einer Gruppe, die für die Versammlungsfreiheit gekämpft hat. In Malaysia darf man nicht einfach so auf die Straße gehen. Hier ist das alles viel einfacher!“ Für ihn war es ganz selbstverständlich, sich den Aktivisten von „Occupy the London Stock Exchange“ (Besetzt die Londoner Börse) anzuschließen.

Die globale Occupy-Bewegung, die ihren ersten Auftritt am 17. September 2011 im New Yorker Zuccotti Park2 hatte (Occupy Wall Street, OWS), ist von den spanischen Indignados (Empörte), aber auch vom Arabischen Frühling inspiriert. Zwar unterscheidet sich die Situation in London von der in New York, Madrid oder Tel Aviv und die politischen Forderungen sind zugegebenermaßen zuweilen recht nebulös. Doch trifft man überall auf das gleiche Unbehagen an einer Politik, die sich der Kontrolle durch die Bürger entzieht, und einer sich immer nur bereichernden Oligarchie. Für allgemeine Begeisterung sorgt indes das Gefühl, Teil einer globalen Bewegung zu sein. Ungeachtet der verbreiteten Wunschvorstellung, die Proteste auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, stellt sich die Frage, ob man bei dieser Bewegung tatsächlich von einem „globalen Volk im Kampf“3 sprechen kann.

In Chile sprachen wir mit Studenten, die sich im Mai 2011 der „Bewegung für kostenlose öffentliche Bildung“ angeschlossen hatten. Das heutige System ist eine Hinterlassenschaft der Militärdiktatur. In den letzten dreißig Jahren hat die Anzahl der Privatschulen und privat bezuschussten Schulen rasant zugenommen. Chile hat keine einzige kostenlose Universität, alle – öffentliche wie private – verlangen hohe Studiengebühren, das gibt es in Lateinamerika sonst nirgends.4

Wutbürger aller Länder

Seit dem Ende der Pinochet-Diktatur hat es in Chile nicht mehr so große Demonstrationen gegeben wie im vergangenen Jahr. Den Studentenprotesten schlossen sich bald Familien und Schüler an, und dementsprechend bunt waren die Forderungen, die von der Abschaffung der sozialen Ungleichheit bis zur Steuerreform reichten. Und immer wieder ging es um die große Frage nach der Repräsentativität im politischen System.

Die Demonstranten beriefen sich dabei weder auf die spanischen Indignados noch auf den Arabischen Frühling. Ihre Forderungen bezogen sich einzig und allein auf den traurigen Istzustand in ihrem eigenen Land. Das soll aber nicht heißen, dass sie ihre Wut als ein rein chilenisches Phänomen betrachten. Der globale Protest, sagt der Student Andrés Muñoz Cárcamo richte sich doch überall gegen die Profitmacher, die die sozialen Strukturen zerstörten. In Chile könne man das am Bildungssystem festmachen, anderswo an anderen Themen. Für seinen Freund Vicente Saiz besteht bei allen Unterschieden die gemeinsame Basis darin, dass „die Leute dafür kämpfen, die Entscheidungen selbst zu treffen“.

In Madrid war Carlos Paredes erstaunt über die Wut der Demonstranten, die sich am 15. Mai 2011 in Madrid auf der Puerta del Sol versammelt hatten. Er war einer der Mitorganisatoren dieser ersten großen Demo, aus der später die Bewegung 15M hervorging. Paredes ist auch einer der Wortführer von ¡Democracia real YA! (Wirkliche Demokratie jetzt!), die einen Forderungskatalog in acht Punkten aufgestellt hat. Sie verlangen unter anderem die Abschaffung von Politikerprivilegien, die Umsetzung des Rechts auf Wohnraum sowie die Reform des Wahlgesetzes.

In Spanien, erklärt der 32-jährige Unternehmer aus der Informatikbranche, gebe es so etwas wie „eine gläserne Decke“, die die persönliche und berufliche Entfaltung verhindere. „Diejenigen, die oben sind, bleiben oben, und die, die unten sind, fallen immer noch tiefer.“ Deshalb habe sich Paredes auf die Suche nach Alternativen gemacht und sei dabei auf die ¡Democracia real YA! gestoßen.

Paredes gehört keiner Partei oder Gewerkschaft an, und er will sich politisch auch nicht festlegen. Aber er findet, dass die ökonomischen Verhältnisse ungerechter geworden sind und dass die Demokratie nicht mehr repräsentativ ist, und das gelte nicht nur für Spanien. Es sei doch skandalös, dass jetzt in Italien und Griechenland zwei Finanzexperten ohne politisches Mandat die Regierungsgeschäfte leiten. Um die Repräsentativität wieder zu stärken, setzen die Indignados ganz auf Konsensentscheidungen und haben dafür ein ausgeklügeltes basisdemokratisches Beschlusssystem entwickelt.

Am Abend der Demonstration vom 15. Mai schlugen einige Aktivisten vor, die Puerta del Sol zu besetzen. Die Belagerung dauerte länger als einen Monat. Alle, die wir in Madrid trafen, erzählten uns begeistert von den zahlreichen politischen Puerta-del-Sol-Happenings mit manchmal mehreren tausend Teilnehmern. Man habe eine große „Lust am öffentlichen Debattieren“ verspürt, schreibt der Philosoph José Luis Pestaña.5

Ivan Ayala promoviert an der Madrider Universität Complutense über die wissenschaftlichen Methoden der neoklassischen Ökonomie. „Ich habe Vollzeit bei der Bewegung mitgemacht. Am Anfang war es wirklich beeindruckend. Es gab Arbeitsgruppen mit 500 Teilnehmern. Es war ergreifend, auf die Puerta del Sol zu kommen und dort 400 Menschen versammelt zu sehen, die miteinander diskutierten wie auf der griechischen Agora.“

15M lehnt das Parteiensystem ab und bezeichnet sich selbst auch nicht als links. Dennoch, meint Ivan Ayala, beruhe die Kritik am Neoliberalismus und an den Politikern, Bankern und Spekulanten natürlich auf einer linken Analyse. Aber der wahre Erfolg von 15M liege darin, „dass die Bewegung demokratisch, volksnah und groß ist. In allen Stadtvierteln und sogar in den Dörfern gibt es inzwischen 15M-Gruppen.“

Das Projekt Demokratie 4.0

Die Aktivisten beendeten die Besetzung der Puerta del Sol, als ihnen klar wurde, dass sie ihren Kampf mit anderen Mitteln fortsetzen wollten. So wie in Spanien ist es in vielen Camps gelaufen. Nach der Auflösung des Zeltlagers organisierten sich die Indignados dezentral an verschiedenen Orten. So konnten sie noch mehr Leute erreichen. Als sie am 12. Juni 2011 von der Puerto del Sol abzogen, entfernten sie die vielen kleinen individuell gestalteten Plakate und hängten ein großes Transparent auf: „Nos vemos en los barrios“ („Wir treffen uns wieder im Kiez“). So wurde zum Beispiel eine Plattform eingerichtet, die von Zwangsräumung bedrohten Mietern hilft. Oder 15M-Aktivisten besetzen leerstehende Häuser, in die sich notleidende Familien einquartieren können.

Die Anwältin Liliana Pineda kämpft gegen die geplante Privatisierung der staatlichen Wasserwerke Canal del Isabel II. Ein besonderes Ereignis war die Großdemo vom 8. Oktober. Bis dahin hatten sich die Aktivisten von den Parteien möglichst ferngehalten, selbst wenn es inhaltliche Überschneidungen gab. Doch an dieser Kampagne beteiligten sich zum ersten Mal auch Politiker, von der Vereinigten Linken (Izquierda Unida, IU) und von Spaniens erster grüner Partei, der neu gegründeten Equo (der Name steht für Ecología/Ökologie und Equidad/soziale Gerechtigkeit).

Die Gretchenfrage nach der Beziehung zur Politik stellte sich noch einmal anlässlich der spanischen Parlamentswahlen vom 20. November 2011. Wie verhält sich eine Bewegung, die sich aus dem Parteienklüngel heraushalten möchte, bei einer so wichtigen Wahl? Einige schlugen vor, doch gleich selbst eine Partei zu gründen, was jedoch schnell wieder verworfen wurde. Und wie steht man zur Stimmenthaltung? „Wir haben nie zum Boykott aufgerufen“, betont Carlos Paredes. „Wir haben dazu aufgerufen, kleine Parteien zu wählen, weil wir das mehr oder weniger etablierte Zweiparteiensystem aus Partido Popular und Sozialisten grundsätzlich ablehnen.“

Es kam also darauf an, genau zu überlegen, welche der kleinen Parteien die meisten Chancen haben würde, in einzelnen Wahlkreisen den Kandidaten einer der beiden großen Parteien zu schlagen. Diese Taktik konnte zwar nicht verhindern, dass Mariano Rajoys konservativer Partido Popular den Sieg davontrug, doch sie offenbarte die Schwächen der spanischen Demokratie. Paredes und seine Mitstreiter wollen das politische System von Grund auf ändern. „Demokratie 4.0“ nennen sie ihr Projekt: So sollen etwa die Bürger im Internet über Gesetzesvorhaben, die im Parlament diskutiert werden, abstimmen können.

Mittlerweile ist 15M nicht nur eine wichtige Stimme in den politischen Debatten des Landes. Die Aktivisten haben es auch „geschafft, die Bewegung zu internationalisieren“, sagt Carlos Paredes. Occupy Wall Street und die israelische Protestbewegung6 würden sich in gewisser Weise von 15M ableiten.

In New York erinnert der Aktivist und Rechtsanwalt Alexander C. Penley daran, dass es das kleine Zeltlager im Süden Manhattans ohne die Gewerkschaftsproteste in Wisconsin Anfang 2011 nicht gegeben hätte. Zehntausende protestierten damals wochenlang gegen die geplanten Eingriffe ins Tarifrecht. Der konservative Gouverneur Scott Walker wurde von den Demonstranten sogar mit Husni Mubarak verglichen.7

Der Arabische Frühling, sagt Penley, habe in den USA ganz klar als Vorbild gedient: „Wenn so etwas in Frankreich passiert wäre, hätte es nicht diesen Einfluss gehabt. Die Amerikaner denken, dass Demonstrationen in Europa etwas ganz Normales sind. Aber in der arabischen Welt? Diese Länder hatten den Ruf, hermetisch abgeschlossen und rückwärtsgewandt zu sein. Wenn es also dort geht, dann kann es genauso gut auch hier gehen.“

Alles begann mit dem Onlineaufruf der werbe- und konsumkritischen Zeitschrift Adbusters aus Kanada, die ihre Leser direkt dazu aufforderte, doch die Wall Street zu besetzen. Am 17. September versammelten sich in New York ein paar hundert Menschen zu einer Demo gegen den Finanzkapitalismus. Sie trafen sich, eher zufällig, am Zuccotti Park, einer zwischen Wolkenkratzern eingezwängten Grünanlage ein paar Schritte von Wall Street und Ground Zero entfernt. „Jemand hatte die Idee, eine Versammlung abzuhalten wie in Griechenland oder Spanien“, erinnert sich David Graeber, bekennender Anarchist und Anthropologe, der in Yale unterrichtet hat und an der Planung der Besetzung beteiligt war.8

An diesem Tag geschah etwas Seltenes: Die Leute begannen auf der Straße, im öffentlichen Raum, über Politik zu reden. Auf der ersten Hauptversammlung von Occupy Wall Street wurde etwa darüber diskutiert, ob man nicht das umstrittene Urteil des obersten Gerichtshofs im Fall Citizens United versus Federal Election Commission (FEC) von Anfang 2010 anfechten sollte. Damals hatte der Supreme Court der Klage der konservativen Bürgerrechtsorganisation Citizens United recht gegeben und die Beschränkungen der direkten Wahlkampffinanzierung aufgehoben. Unternehmen, Gewerkschaften und Lobbyverbände dürfen seitdem vor Kongress- und Präsidentenwahlen in unbegrenzter Höhe Kampagnen für oder gegen Kandidaten finanzieren.

Während die einen gleich den Bullen am Broadway umstürzen wollten, wollten andere erst mal über die Finanzgesetze diskutieren. Ein großer Fehler sei etwa die Aufhebung des Glass-Steagall-Acts gewesen. Dieses Gesetz von 1933 sah eine strikte Trennung zwischen Geschäftsbanken und Investmentbanken vor. 1999 wurde es durch den Gramm-Leach-Bliley-Acts (GLB) ersetzt, der eine Deregulierungswelle zur Folge hatte. So wurde die Trennung im Bankensystem aufgehoben, und die Banken konnten ins Versicherungsgeschäft einsteigen, was etwa die Bildung von Finanzkonzernen wie der Citigroup ermöglichte.

In den folgenden Tagen kamen immer mehr Demonstranten hinzu, Zelte wurden aufgeschlagen, im Zuccotti Park war auf einmal der Bär los. Auch hier fanden regelmäßig Versammlungen statt, es bildeten sich Arbeitsgruppen, und es wurde eine „Declaration of the Occupation“ verabschiedet. Und natürlich gab es auch eine Zeitung, The Occupied Wall Street Journal. Im Occupy-Camp wohnten junge weiße Akademiker Zelt an Zelt mit Obdachlosen und anderen Outlaws. Manche Aktivisten bezeichnen sich als Kommunisten oder Sozialisten, andere halten den Kapitalismus an sich nicht für das Problem und fordern nur mehr Regulierungen.

In „Occupy Nashville“, Tennessee, trafen wir den jungen Anwalt William P. York. Er ist wie viele enttäuscht von Barack Obama: „Ich hab ihn gewählt, aber er hat nichts getan, jetzt mache ich bei Occupy mit. 2008 habe ich seine Wahlkampagne in Cleveland, Ohio, unterstützt. Erst seitdem bin ich politisch aktiv. Ich hab mich richtig verausgabt für die Kampagne. Aber als Obama dann an der Macht war, ist mir schnell klar geworden, dass er sich von den anderen Kandidaten kaum unterscheidet. Die zwei Parteien sind im Grunde gar nicht so verschieden. Beide werden von Firmen gesponsert, die so viel investieren dürfen, wie sie wollen. Die werden doch von den Multis regelrecht gekauft.“

Als das Zeltlager im Zuccotti Park in der Nacht zum 15. November 2011 von der New Yorker Polizei geräumt wurde, war das für manche eine Genugtuung. Andere waren einfach nur erleichtert. „Wer will schon im Januar mitten in New York in einem Zelt schlafen“, meint etwa Shane Patrick, einer der Organisatoren von Occupy Wall Street. Und Michael Levitin, ehemals freier Journalist bei Newsweek und The Los Angeles Times und dann Chefredakteur vom Occupied Wall Street Journal, erklärt: „Wir brauchen den Zuccotti Park nicht mehr. Es war der richtige Moment, um aufzuhören. Außerdem war das doch die perfekte Show, wie der Bürgermeister unser Camp räumen ließ: Es wurde Gewalt angewendet, die Leute wurden geschlagen, verhaftet, Bücher wurden weggeschmissen.“

Wie die 15M-Bewegung in Madrid oder Barcelona gewann Occupy Wall Street durch den brutalen Polizeieinsatz die Sympathien der Öffentlichkeit. Außerdem brachte die Räumung die Besetzer dazu, über andere Aktionsformen nachzudenken und sich mit anderen Organisationen in New York und weiteren Städten zu vernetzen.

„Occupy Our Homes“ vom 6. Dezember 2011 war zum Beispiel eine US-weite Aktion. Die leerstehenden Häuser, die in den Besitz der Banken übergegangen waren, sollten gewissermaßen zurückerobert werden. Ins Zentrum der allgemeinen Aufmerksamkeit geriet bei dieser Demo das sozial schwache Viertel East New York, wo mehr als die Hälfte der Bewohner unter der Armutsgrenze leben.

Als die Demonstration gegen Wohnungsnot und Zwangsräumungen in Brooklyn begann, marschierten fast nur Weiße mit, darunter erkennbar viele Studenten und junge Akademiker. Doch als die Demonstranten auf U-Bahnhöfen und in Zügen ihre Flugblätter verteilten, die über die Hintergründe der Wohnungsprobleme in East New York aufklärten, schlossen sich auch viele Schwarze und Hispanos aus der Unterschicht dem Protestzug an und stimmten in den Occupy-Wall-Street-Slogan „We are the 99 percent“ ein.

Am Ende zogen etwa 2 000 Demonstranten durch East New York. Veteranen der Bürgerrechtsbewegung waren auch dabei, wie der ehemalige Black-Panther-Kämpfer Charles Barron, der heute als Stadtverordneter im Rathaus von New York sitzt. Sein Kollege Ydanis Rodriguez hielt sogar eine Rede. Heute sei ein großer Tag, sagte Rodriguez, denn er zeige, dass Occupy Wall Street „farbiger“ geworden sei.

Insgesamt wurden in vierzig Städten Häuser besetzt. In East New York zog Alfredo Carrasquillo mit seiner Familie in die Vermont Street No. 702 ein. Als wir ein paar Tage nach der Demo wiederkamen, trafen wir auf eine Gruppe von Aktivisten, die ständig vor Ort waren, um die Familie vor der Räumung zu schützen.

Mit Occupy in die Häuser

Max Berger hat seinen Job in einer NGO gekündigt, um bei Occupy mitzumachen. „Wir besetzen dieses Haus im Namen einer Familie. Aktionen wie diese hier, die die bestehenden Machtverhältnisse auf den Kopf stellen, haben mich schon immer interessiert. Ich kämpfe für die Ausgegrenzten unserer Gesellschaft. Die Wohnungsfrage ist die natürliche Erweiterung von Occupy Wall Street. Viele Familien wenden sich an uns, damit wir ihnen helfen, eine Wohnung zu finden oder eine Räumung zu verhindern.“ Berger ist überzeugt, dass „Occupy Wall Street zur Massenbewegung werden könnte, die die Politik in diesem Land verändern wird“.

Tatsächlich beschränkt sich die Bewegung nicht nur auf New York und ein paar andere Großstädte.9 Eine der längsten Besetzungen gab es ausgerechnet in Nashville. Bis März 2012 stand das Occupy-Zeltlager vor dem Kongress von Tennessee. Im Herzen des konservativen, christlichen Amerikas hat die Inbesitznahme eines öffentlichen Raums noch einmal eine ganz andere Bedeutung als in New York. In dieser Stadt der Schnellstraßen, Wolkenkratzer und Riesenkirchen gehört der öffentliche Raum den Autos. Hier geht praktisch niemand zu Fuß. Das Protestcamp habe die Leute einander wieder näher gebracht, erzählen die Besetzer wider den inhumanen Urbanismus.

Jim Palmer ist Pastor. Früher hat auch er in einer dieser gigantischen Kirchen gearbeitet. Doch weil er sich nach mehr Spiritualität sehnte, verließ er schließlich seine Gemeinde. Statt sich um die ärmsten zehn Prozent der Bevölkerung zu kümmern, würden die Gemeinden in einem regelrechten Konkurrenzkampf immer noch größere Gebäude in die Landschaft setzen, klagt Palmer. „Seit Mitte der 1970er Jahre werden die Kirchen wie Unternehmen geführt. Der Pastor tritt wie ein Firmenchef auf und der Gemeindevorstand wie ein Aufsichtsrat. Die einfachen Mitglieder haben kaum noch etwas zu sagen.“ Deshalb hat Jim Palmer die interkonfessionelle Gruppe „Occupy Religion“ ins Leben gerufen. „Auch Jesus gehörte zu den 99 Prozent“, sagt der Pastor.

Heute umfasst die Occupy-Bewegung eine Vielzahl unterschiedlicher Initiativen zu allen möglichen Themen. Manche Aktivisten würden zum Beispiel gern Bauernhöfe besetzen. Occupy Wall Street ist zu einer „Bewegung der Bewegungen“10 geworden, denn sie lenkt die Aufmerksamkeit auch auf andere Proteste, die ohne ihre Unterstützung weniger wirkungsvoll wären.

Im Gegensatz zu Occupy ist der Protest der chilenischen Studenten eher klassisch organisiert. Es finden Wahlen statt, und es gibt Repräsentanten. Doch den Slogan – „Wir sind die 99 Prozent“ – hätten sie von Occupy übernommen, erzählt Gabriel Boric, der als Kandidat der linken Creando Izquierda zum Vorsitzenden des Studentenverbands der Universität von Chile gewählt wurde. „Wir sind links, aber wir sagen, dass die Linke im 20. Jahrhundert gescheitert ist“, erklärt der Jurastudent Boric, der sich auf Antonio Gramsci, Toni Negri und Slavoj Zizek beruft. „Die Welt ist nicht so geworden, wie die Linke es sich vorgestellt hat. Aus ihren Fehlern müssen wir jetzt lernen.“

Fußnoten: 1 Der vorliegende Text basiert auf Recherchen in London, New York, Nashville, Santiago de Chile und Madrid. 2 Carla Blumenkranz, Keith Gessen, Mark Greif u. a. (Hg.), „Occupy! Scenes from Occupied America“, New York (Verso) 2011. 3 François Cusset, „Quand le peuple se rebelle“, Le Monde, 5. November 2011. 4 Siehe Victor de la Fuente, „Die breiten Straßen von Chile. Die Studentenbewegung und Allendes Vermächtnis“, Le Monde diplomatique, September 2011. 5 José Luis Pestaña, „Le mouvement du 15-M: social et ‚libéral‘, générationnel et ‚assembléiste‘ – Un témoignage“, Savoir/Agir, Nr. 17, Bellecombe-en-Bauges (Éditions du Croquant), September 2011. 6 Siehe Yaël Lerer, „Tel Aviv, Rothschild-Boulevard. Israels Protestbewegung hat viel nachzuholen“, Le Monde diplomatique, September 2011. 7 „Im Spareifer geht es in Amerika gegen die Gewerkschaften“, FAZ, 23. Februar 2011. 8 Inzwischen widmet sich www.adbusters.org nur noch der Occupy-Bewegung. Von David Graeber sind gerade zwei Bücher auf Deutsch erschienen: „Kampf dem Kamikaze-Kapitalismus. Es gibt Alternativen zum herrschenden System“, München (Pantheon) 2012, und sein Erlebnisbericht „Inside Occupy“, Frankfurt am Main (Campus) 2012. 9 Siehe Olivier Cyran, „Jackson, Mississippi“, Le Monde diplomatique, April 2012. 10 Prachi Patankar und Ahilan Kadirgamar, „Wither Wall Street: Challenge of the Occupy Movement“, 2. Januar 2012; www.criticallegalthinking.com.

Aus dem Französischen von Uta Rüenauver

Raphaël Kempf ist Journalist.

Le Monde diplomatique vom 11.05.2012, von Raphaël Kempf