11.05.2012

Das Gespenst einer Fabrik

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Das Gespenst einer Fabrik

von Joannis Papadopoulos

Das Gespenst einer Fabrik
Piraiki-Patraiki - Geschichte einer Firma

Sie trauen sich nicht in den Raum. Der Fußboden ist schlicht vollgeschissen. Hier war einmal das Büro der Gewerkschaftsgruppe „Solidarität“. An der Eingangstür hängt ein altes Plakat. Sie starren es an, als wollten sie ihre Vergangenheit entziffern. „Es reicht!“, steht da: „Die Arbeitslosigkeit hat Patras im Würgegriff“.

Die beiden Männer sehen sich um, als suchten sie nach vertrauten Bildern. Diese Textilfabrik, die Piraiki-Patraiki S. A. hat ihnen jahrelang Brot und Arbeit gegeben. An der Wand gegenüber ihrem alten Büro entdecken sie ein Graffito auf Arabisch. An einem alten Stromkabel, das die Plünderer nicht mitgenommen haben, sind Hosen und Anoraks zum Trocknen aufgehängt. Unten auf dem Fabrikhof rosten alte Laster vor sich hin. Die Polizei hat sie aus dem Verkehr gezogen, wie alle Lkws, in denen illegale Migranten versteckt waren, die den Sprung von Patras über die Adria schaffen wollten, nach Westen.

Nichts mehr erinnert an die Fabrik, aus der bei Schichtende einst Scharen junger Frauen mit Baumwollflocken im Haar strömten und in den Straßen und Gassen der umliegenden Siedlung verschwanden. Nichts mehr erinnert an die alten Zeiten, nichts außer dem Plakat mit dem Streikaufruf, eine historische Reminiszenz an den Verfall einer Industrie. Die Ursachen für deren Niedergang waren dieselben, die mittlerweile auch den griechischen Staat an den Rand des Abgrunds gebracht haben. Wie dieser geriet auch die Piraiki-Patriaki nach kurzem Aufschwung in den Abwärtsstrudel einer Misswirtschaft, die in Verstaatlichung und Ausbeutung durch klientelistische Gruppen mündete und das unvermeidliche Ende bedeutete.

Der Bankrott in Patras war der erste Dominostein in einem raschen Prozess der Deindustrialisierung, der den produktiven Sektor der griechischen Wirtschaft kastriert und zur Entstehung eines aufgeblähten Dienstleistungssektors geführt hat. Der Firmenbesitz wurde ausgeschlachtet und bis auf das Fabrikgebäude, das seit über fünfzehn Jahren leer steht, verkauft. Heute dienen die nackten Gewölbe und Gemäuer als Unterkunft für zum Teil minderjährige Migranten.

„Wir bekamen als Erste zu spüren, was heute ganz Griechenland zu erleiden hat“, sagt Nikos Gatomatis, ehemaliger Arbeiter bei der Piraiki-Patraiki und Gewerkschafter. In den 1990er Jahren, als die Fabrik dichtmachte, warnten die Gewerkschaft: „Ihr, die ihr heute nur Zuschauer seid, werdet irgendwann hungern wie wir!“ Und wir hatten recht, meint Gatomatis heute. Er war einer der Letzten, die mit der endgültigen Schließung des Unternehmens 1996 ihre Arbeit verloren.

Die Textilproduktion war schon 1992 eingestellt worden, aber die Maschinen wurden weiterhin notdürftig gewartet, und die Beschäftigten kämpften mit Protesten, Demonstrationen und Besetzungen für den Fortbestand ihrer Firma. „Wenn das Kind nicht schreit, bekommt es von der Mutter nichts zu essen“, sagen die alten Genossen, wenn sie ihre Strategien von damals erklären wollen.

Bis 1996 schieden 1 850 Beschäftigte freiwillig aus. Etwa 500 entschieden sich für eine Vorruhestandsregelung (für Männer ab 55, für Frauen ab 50 Jahren), mit einer Rente von monatlich 125 000 Drachmen, das wären heute rund 750 Euro. Weitere 500 Beschäftigte – und zwar nur Gewerkschaftsmitglieder – erhielten je 2,5 Millionen Drachmen (etwa 15 000 Euro) als Beitrag zu einem „beruflichen Neustart“. Die meisten investierten das Geld in ein Kafenion, einen Kramladen, einen Periptero1 oder eine Taxilizenz.

Insgesamt belief sich die staatliche Unterstützung damals auf 8 Milliarden Drachmen, knapp 50 Millionen Euro. „Das waren alles nur Luftblasen“, meint im Rückblick Ioannis Souvaliotis, der das Arbeitsamt von Patras leitet. „Und dafür zahlen wir noch heute. Die Produktion wurde aufgegeben, daraufhin flüchteten sich alle in Dienstleistungen.“ Die neuesten Zahlen der Handelskammer von Achaia2 bestätigen das: Im vergangenen Jahr wurden 1 549 neue Geschäfte eröffnet, 1 731 haben aufgegeben. Die Bilanz ist erstmals negativ.

Schuluniformen aus Patras für das ganze Land

Das Ende haben vor dreißig Jahren nur wenige kommen sehen. „Die Piraiki-Patraiki war ein halbstaatliches Unternehmen mit Monopolcharakter“, sagt Thanassis Koustas, ein Mitarbeiter der Handelskammer von Achaia. „Hier wurden die Schuluniformen für die Mädchen im ganzen Land hergestellt.“ Auch als das Unternehmen zur Aktiengesellschaft wurde, fühlten sich die Arbeitnehmer „sicherer als im öffentlichen Dienst“. Damals sagten sie, die Firma sei „wie ein Staat“.

In den 1960er Jahren war das Unternehmen auf 3 900 Beschäftigte angewachsen, erzielte einen Jahresumsatz von 16 Millionen Dollar und hatte sogar eine Fabrik in der sudanesischen Hauptstadt Khartum gegründet. Mit der sudanesischen Regierung gab es einen Vertrag über die Ausbildung von einheimischen Spinnereiarbeitern, für die jährlich 300 000 Dollar ausgegeben wurden. Angesichts der Expansion des Unternehmens bewilligte die griechische Regierung damals Subventionen an die Bauern, damit sie Baumwolle statt Weizen anbauten.

Aber planlose Investitionen und Verschwendung führten bald zu einer Verschuldung von umgerechnet 300 Millionen Euro. 1984 wurde die Piraiki-Patraiki verstaatlicht. Das heißt, sie wurde in die Agentur für wirtschaftlichen Wiederaufbau (OAE) eingegliedert, die von der sozialistischen Pasok-Regierung als Auffangbecken überschuldeter Firmen gegründet worden war. Doch damit geriet das Unternehmen noch tiefer in die roten Zahlen.

Im Wahljahr 1985 stellte der Betrieb in Patras 500 zusätzliche Leute ein, um Wählerstimmen für die Regierungspartei einzufangen. Man nannte sie damals die „Zwölfstünder“, weil sie am Samstag und Sonntag je eine Zwölfstundenschicht leisten mussten, plus acht Stunden am Mittwoch. „Mein Einspruch fand kein Gehör, so wenig wie die Einwände von anderen“, erinnert sich Georgos Roussos, der damals der Gewerkschaft der KKE-Esoterikou3 angehörte. „Mein Argument war: Wenn wir ein Rettungsboot für zwanzig Leute haben, und da sitzen schon dreißig drin, und dann wir holen noch mal zehn rein, dann geht das Boot unter!“ Im Arbeiterzentrum von Patras hatte damals die Gewerkschaftsorganisation der Pasok (Paske) das Sagen. Gegen Roussos und andere linke Gewerkschafter polemisierten sie damals mit dem Spruch: „Die Linke ist für Arbeitslosigkeit.“

Als einen der Letzten traf es Triantaphyllos Masmanides. Er war noch eine Zeit lang – wie zwölf weitere Kollegen – als Wachmann in der bereits stillgelegten Fabrik beschäftigt und konnte sich mit Instandhaltungsarbeiten noch ein paar Euro dazuverdienen. 2003 kaufte die Betreibergesellschaft des Hafens von Patras (Olpa) das knapp 20 Hektar große Werksgelände. Diese Aktiengesellschaft will die alte Fabrik als Frachtlager nutzen und bemüht sich bereits, einige der Werkshallen an Speditionsfirmen zu vermieten.

Inzwischen haben sich in der Fabrikruine jedoch an die 400 Migranten aus Asien und Nordafrika niedergelassen. Der jüngste Bewohner ist zwölf, der älteste vielleicht vierzig Jahre alt. Sie haben ein paar ehemalige Maschinenräume hergerichtet. Die fensterlosen Räume erinnern an Katakomben, nur dass es hier nach Dieselöl und rostigem Eisen riecht. Die Migranten wollten eigentlich nur eine provisorische Behausung, jetzt ist daraus ein Dauerquartier geworden. Wegen der strengen Polizeikontrollen im Hafen gelingt es den wenigsten, sich in einem Laster zu verstecken und auf eine Fähre nach Italien zu gelangen. Die wenigen, die es schafften, wurden von den Italienern geschnappt und nach Patras zurückgeschickt, wo für sie der Teufelskreis vergeblicher Fluchtversuche von vorn beginnt.

Der 35-jährige Marokkaner Alem Ibrahim ist am ehesten bereit, von seinem Schicksal zu erzählen. Er ist erst zwei Wochen hier. In Marokko hat er im Computerladen seiner Familie mitgearbeitet. „Da hab ich 15 Euro am Tag verdient“, sagt Ibrahim, „das war gutes Geld. Aber Freunde haben mir gesagt, dass man in Europa mehr verdient. Deswegen bin ich abgehauen; heute bereue ich das.“ Ibrahims Nachbar Mohammed Ichmud ist schon länger hier. Er gilt als der „Philosoph“ der Fabrikruine. Mohammed hat krause Haare, schrundige Lippen und ein warmes Lächeln: „Ich sehe uns wirklich nicht als menschlichen Abfall“, erläutert er, „auch wir sind nur auf der Suche nach einem besseren Leben.“ Er zeigt mir ein Buch von Jean-Paul Sartre, das er gerade auf Französisch liest. Die meisten Migranten, die in der Piraiki-Patraiki hausen, klauben sich ihr Essen aus dem Müll zusammen. Einige treiben sich vor den Supermärkten an der Uferstraße herum, wo sie ein paar Cent verdienen können, indem sie die Einkäufe griechischer Kunden zu deren Autos schleppen. Um die endlose Zeit des Wartens totzuschlagen, spielen sie Fußball oder Karten.

Einen Friedhof nennen sie ihre Behausung. Für Sugar Ismalai ist das Wort wahr geworden. Der junge Mann aus Afghanistan starb an Rauchvergiftung, nachdem er am Abend des 3. Januar in einem der herumstehenden Laster Feuer gemacht hatte, um sich zu wärmen. Mitte März starb ein anderer, als er von einem Laster überrollt wurde, auf dem er sich verstecken wollte. Alle Hoffnungen, von Patras nach Italien zu gelangen, sind auf diese Laster gerichtet. Manche versuchen es auf eigene Faust, manche zahlen dafür an die Transitdealer. Von denen gibt es drei, ebenfalls Migranten. Sie kassieren zwischen 2 000 und 3 000 Euro für das bloße Versprechen, einen Laster zu knacken und den Kunden dann mit auf die Fähre zu schmuggeln.

Die griechischen Behörden haben die Migranten aufgefordert, ihre Unterkunft zu verlassen. Sie sollen, heißt es, mit ihren paar Habseligkeiten in der seit 1991 stillgelegten Pirelli-Fabrik untergebracht werden, nur ein paar Kilometer weiter. Aber die meisten wollen nicht weg. Für sie ist die alte Piraiki-Patraiki wegen ihrer Nähe zum Hafen der optimale Standort. Aber schon sind die ersten Malerkolonnen angerückt und haben angefangen, zwei der alten Fabrikgebäude anzustreichen. Frische Farbe inmitten der Ruinen.

Nikos Gatomatis und Triantafyllos Masmanidis sind am Ende unseres Rundgangs durch ihren alten Betrieb wieder am Eingangstor angelangt. Zum Abschied wünschen sie sich gegenseitig alles Gute: „Na’ne vamvaki o dromos“ (wörtlich: Mögest du auf Watte gehen).

Im Januar 2012 ist die Arbeitslosenquote in der Region Patras auf 25 Prozent gestiegen und liegt damit noch 3 Prozentpunkte über dem Landesdurchschnitt. Obwohl die Hafenstadt als Tor Griechenlands nach Westen gilt, gibt es bis heute keine durchgehende Autobahn und keine moderne Bahnverbindung nach Athen und in die Wirtschaftsregion Attika.

Fußnoten: 1 Ein Periptero ist ein Kiosk, an dem es fast alles zu kaufen gibt, und der von einer Familie betrieben wird. Ein Periptero in zentraler Lage bedeutete bis zum Beginn der Krise eine gesicherte Existenz. 2 Die Provinz Achaia umfasst den Nordwesten des Peleponnes, ihre Hauptstadt ist Patras. 3 Partei der „Euro-Kommunisten“, die sich in der Zeit der griechischen Militärdiktatur (1967–1974) von der streng moskautreuen KKE getrennt hatte.

Aus dem Griechischen von Niels Kadritzke

Joannis Papadopoulos ist Reporter bei der griechischen Tageszeitung Ta Nea.

© Ta Nea, Athen; für die deutsche Übersetzung: Le Monde diplomatique, Berlin

Piraiki-Patriaki – Geschichte eines Unternehmens

1919 gründen Christoforos Katsampas und Stamoulis Stratos die Handels- und Industriegesellschaft Patras (PEE). Sie stellt Socken her und importiert Kleidung aller Art.

1924 wird sie in eine Aktiengesellschaft (A. E.) umgewandelt, die erste dieselbetriebene Spinnmaschine wird angeschafft.

1933 fusioniert die PEE mit einem Konkurrenzunternehmen in Piräus zur Piraiki-Patraiki A. E; wirtschaftlicher Erfolg mit der Produktion von Kleider- und Hemdenstoffen sowie Bettwäsche und Windeln, vor allem aber Decken und Uniformen für die Armee.

1950 errichtet sie bei Athen die erste neue Fabrik nach dem griechischen Bürgerkrieg; bis 1960 entwickelt sie sich zu einer sozial vorbildlichen Firma mit relativ hohen Löhnen und Sozialleistungen.

1962 erzielt die Piraiki-Patraiki einen Reingewinn von über einer Million Dollar und wird vom US-Magazin Time als „vorbildliches Unternehmen“ porträtiert. Sie beschäftigt über 4 000 Arbeiter in fünf Betrieben und setzt als erstes griechisches Unternehmen einen IBM-Computer ein.

1981 verfügt das Unternehmen über neun Fabriken in Griechenland und eine im Sudan; doch damit hat sie sich übernommen und muss vom griechischen Staat durch Kredite unterstützt werden.

1986 wird ein Teil der Schulden durch Übernahme von Anteilen durch den Staat getilgt; über die folgenden Jahre verschärft sich die Krise.

1992 muss die Produktion eingestellt werden.

1996 wird das Unternehmen juristisch abgewickelt; einige Maschinen werden nach Argentinien und Indien verkauft, der Rest wird verschrottet; mit der Schließung dieser und anderer Fabriken verliert die Region Patras fast 5 000 Arbeitsplätze.

2010 lassen sich die ersten illegalen Migranten in der Fabrik nieder.

2012 gibt es in Patras nur noch etwa 100 Industrieunternehmen mit insgesamt 3 000 Beschäftigten.

Le Monde diplomatique vom 11.05.2012, von Joannis Papadopoulos