Willkür, Öl und Korruption
Arbeitskämpfe in der kasachischen Steppe von Régis Genté
Tausende Arbeiter der Ölbranche (nieftianiki) begannen im Mai 2011 im Westen von Kasachstan den größten Streik seit der Unabhängigkeit der Landes 1991. Sie forderten einen größeren Anteil an den erheblichen Erträgen, die aus den Bodenschätzen Kasachstans gewonnen werden. Sieben Monate später, am 16. Dezember, eröffnete die Polizei in der Kleinstadt Schangaösen (150 Kilometer östlich der am Kaspischen Meer gelegenen Provinzhauptstadt Aktau) ohne Vorwarnung das Feuer auf eine Menschenmenge. Nach offiziellen Angaben starben siebzehn Menschen, ausnahmslos Zivilisten. Lokale Quellen sprachen von vierzig Toten.
Obwohl sie unter Druck gesetzt wurden und trotz der willkürlichen Entlassung von 2 500 Arbeitern, blieben die Streikaktionen der Nieftianiki friedlich. Ihr Arbeitskampf sollte „trocken“ (ohne Alkohol) und sauber sein: Der Marktplatz von Schangaösen, wo sie seit dem Sommer ihre Versammlungen abhielten, wurde jeden Abend gefegt … Inzwischen hat sich das Regime auf Verhandlungen über die Entlassungen und die Lohnforderungen eingelassen, allerdings sind die Streikenden nach dem Blutvergießen auch eingeschüchtert.
Die Staatsform in der früheren Sowjetrepublik lässt sich – um einen Begriff der Politologin Marlène Laruelle zu verwenden – als „konsultativer Autoritarismus“ bezeichnen. Die nach der Tragödie vom 16. Dezember versprochenen sozialen und wirtschaftlichen Hilfsprogramme machen jedoch deutlich, dass sich das Regime in Astana um einen gewissen Rückhalt unter den 16 Millionen Kasachen bemüht. Ob diese Programme jemals umgesetzt werden, weiß allerdings niemand.
Die Nieftianiki hatten darauf gehofft, dass ausländische Regierungen das Blutbad von Schangaösen verurteilen und das kasachische Regime zur Korruptionsbekämpfung und zu einem weniger autoritären Regierungsstil drängen würden – und sei es nur aus Sorge um die Stabilität des zentralasiatischen Landes oder um die Sicherheit der eigenen Investitionen. Doch davon war nicht viel zu spüren. Die westlichen Energiekonzerne (Total, ExxonMobil, ENI und andere) und Bergbauunternehmen (Areva, Arcelor-Mittal und andere), die in der kasachischen Steppe im Geschäft sind, vermeiden jede Kritik an dem seit 1989 regierenden 72-jährigen Präsidenten Nursultan Nasarbajew. Am 18. Januar 2012, drei Tage nach den Parlamentswahlen, von OSZE-Beobachtern als „unsauber“ kritisiert, zitierte die Tageszeitung Kasachstanskaja Prawda den französischen Senatsabgeordneten Ayméri de Montesquiou (Union Centriste), der auf Nasarbajews Wunsch als Wahlbeobachter nach Schangaösen entsandt worden war: „Wo immer ich während der Wahlen hinkam, in jedem Wahllokal, alles verlief vorschriftsmäßig.“
Die Tragödie in Schangaösen geschah am 20. Jahrestag der Unabhängigkeit Kasachstans. Um jede Störung der Feierlichkeiten zu vermeiden, versuchten die lokalen Sicherheitskräfte, die Demonstranten vom Marktplatz zu vertreiben. Damit war die Eskalation vorprogrammiert. Bereits im August hatte die Polizei den Streikenden verboten, auf dem Platz Zelte zu errichten. Die Stadtverwaltung von Schangaösen durfte dagegen ihre Jurten aufbauen. In den Augen der Streikenden war das eine für den kasachischen Machtapparat typische Provokation.
Orak Sarbopejew, der Bürgermeister von Schangaösen, sah das natürlich anders: „Ich wollte, dass das ganze Land an diesem Tag gute Laune hat“, versicherte er gegenüber einem russischen Journalisten. „Wir hatten schon viel Geld für die Vorbereitungen ausgegeben. Nie zuvor hatten wir Jurten aufgebaut, deshalb bat ich die Streikenden, das zuzulassen, damit wir den Menschen eine kleine Freude machen können. Sie hatten den Platz doch schon sieben Monate besetzt.“1
Den Nieftianiki in Mangystau geht es vor allem um Lohnerhöhungen. In dieser Gegend liegt ein großer Teil der Rohölvorkommen des Landes – bis 2020 könnte Kasachstan zu den zehn bedeutendsten Erdölförderländern der Welt gehören. Der staatliche Ölkonzern Ozenmunaigas (OMG), wo die Proteste begannen, gehört zu KMG EP, der für Erschließung und Förderung zuständigen Tochterfirma der ebenfalls staatlichen Öl- und Gasgesellschaft Kazmunaigas (KMG). Der Ausstand fing als Solidaritätsstreik mit den Arbeitern von Karaschanbasmunai (KBM) an, einem weiteren Ölunternehmen in der Region, das je zur Hälfte KMG EP und – seit 2007 – dem staatlichen chinesischen Investmentunternehmen Citic gehört. Dort waren die Löhne noch niedriger als bei OMG.
Dem Streik war ein monatelanger Streit zwischen Arbeitern und Unternehmensführung um einen regionalen und einen branchenspezifischen Faktor bei der Festsetzung der Löhne vorausgegangen. Der noch aus Sowjetzeiten stammende Regionalzuschlag war 1999 abgeschafft, aber von einigen Unternehmen weitergezahlt worden – er erschien nur nicht mehr auf der Lohnabrechnung. Als die Regierung beide Zulagen 2009 wieder einführte, begann der Streit um die Berechnung ihrer Höhe. Mit Verweis auf das Arbeitsrecht erklärt ein Mitarbeiter der Personalverwaltung von KMG EP, die Arbeiter hätten „nicht verstanden, wie diese Faktoren anzuwenden sind“. Zugleich räumt er aber auch „Kommunikationsfehler“ seitens der Geschäftsführung ein.
Die Arbeiter dagegen verdächtigen die Unternehmensführung der Unterschlagung. Alexander Piastolow, ein Rentner, der sich im Selbststudium juristisches Rüstzeug angeeignet hat, machte sich zu ihrem Sprecher. Er war zunächst der Einzige, der für die Streikenden vor Gericht auftrat. Kein Anwalt wollte diese Fälle übernehmen, weil Druck von oben befürchtet oder bereits ausgeübt wurde. Piastolow ist überzeugt, dass „die Erdölfirmen die Vorschriften über die Zuschläge falsch auslegen. So wird jemandem zum Beispiel offiziell ein Lohn von 250 000 Tenge gezahlt (1 250 Euro), tatsächlich bekommt er aber nur 130 000 Tenge (650 Euro). Die Differenz verschwindet vermutlich in den Taschen irgendwelcher Leute in der Unternehmensspitze. Wir können das nicht hieb- und stichfest beweisen, aber wir haben Unterlagen, die belegen, dass in diesen Unternehmen die als Lohnkosten aufgeführten Summen nicht mit den tatsächlich ausgezahlten Löhnen übereinstimmen.“
Es gibt Vorschriften, aber niemand kennt sie
Natalia Sokolowa ist studierte Juristin. Bevor sie bei der Gewerkschaft angefangen hat, arbeitete sie jahrelang in den Personalabteilungen der großen Erdölfirmen dieser Gegend, zuletzt bei Karaschanbasmunai (KBM). Sie kennt sich also gut aus im Labyrinth der Lohnpolitik und hat versucht, den Arbeitern klarzumachen, dass die Unternehmen sich nicht an die gesetzliche Zulagenregelung halten.
Einer ihrer früheren Kollegen bei KBM äußert sich eher skeptisch über sie: „Mit ihrer falschen Interpretation der Zulagenberechnung hat sie die Arbeiter belogen – vielleicht wollte sie sich nur an KBM rächen, weil man ihren Vertrag nicht verlängert hat.“ Wegen „Aufwiegelung zum sozialen Unfrieden“ wurde Sokolowa zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt, kam aber erstaunlicherweise schon am 8. März 2012 wieder frei, nachdem das Strafmaß in eine dreijährige Bewährungsstrafe umgewandelt worden war.
Sokolowa hatte die Finanzaufsicht, den Generalstaatsanwalt und den Finanzminister angeschrieben und um Auskunft über die korrekte Berechnung der Zulagen gebeten, aber es kam keine Antwort. Das bestärkte sie in ihrem Verdacht, dass sowohl die Unternehmen als auch die staatlichen Institutionen die Vorgaben bewusst missachten.
Während des gesamten Ausstands waren die Streikenden Repressionen ausgesetzt. Im Frühjahr 2011 legten auch die Beschäftigten der Ersai Caspian Contractor Company, eines staatlichen Dienstleisters in der Ölbranche, an dem die italienische ENI mit 43 Prozent beteiligt ist, die Arbeit nieder. Ihnen ging es nicht um die Höhe der Zulagen, sondern um neue Tarifverträge und vor allem um die gleiche Bezahlung von einheimischen und ausländischen Arbeitskräften. Die Firmenleitung bestellte jeden Arbeiter, der sich für den Streik einsetzte, zum Einzelgespräch – eine ungesetzliche Maßnahme, die eindeutig als Drohung gemeint war. „Zumal auch immer die Polizei dabei war“, erklärt Mihra Rittmann von Human Rights Watch.
Als die Gewerkschaft im Mai 2011 ihre Experten für die vor jedem genehmigten Streik obligatorische Schlichtungskommission benannte, lehnte die Unternehmensführung die Aufstellung von Natalia Sokolowa ab. „Sie haben den damaligen Gewerkschaftsvorsitzenden Erbosin Kossarchanow gedrängt, Natalia von der Expertenliste zu streichen“, erinnert sich Ehemann Wassili voller Empörung. Viele Arbeiter und Gewerkschafter sind überzeugt, dass Kossarchanow damals gekauft wurde. „Bis 2005 hatten wir hier einen Provinzgouverneur, der für das Funktionieren der Ausschüsse sorgte, in denen Behörden, Unternehmer und Beschäftigte zusammenkamen“, meint der Gewerkschaftsführer Kenschegali Sujeow. „Aber sein Nachfolger hat die Aufgaben der Ausschüsse beschränkt, und seither gibt es ständig Probleme.“
Die unternehmerfreundlichen Vorschriften in Kasachstan, die die Durchführung von Streiks erschweren, widersprechen dem Übereinkommen Nr. 87 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO): „Die Organisationen der Arbeitnehmer … haben das Recht …, ihre Vertreter frei zu wählen, ihre Geschäftsführung und Tätigkeit zu regeln und ihr Programm aufzustellen. Die Behörden haben sich jedes Eingriffs zu enthalten, der geeignet wäre, dieses Recht zu beschränken oder dessen rechtmäßige Ausübung zu behindern.“2
Bei den Streiks von 2011 wurden Betriebsräte, seit Sowjetzeiten Profsojus genannt, unterwandert und ihre Mitglieder bedroht. Bezahlte kriminelle Banden terrorisierten Arbeiter und Gewerkschafter, die als aufsässig galten. Am 2. August 2011 wurde Jaksilik Turbajew ermordet, ein junger Nieftianik, der für den Betriebsratsvorsitz bei der OMG-Tochter Munaifiltraservice kandidiert hatte. Die Mörder wurden nie gefasst, obwohl es Hinweise gab – seit Wochen hatten die Streikenden per SMS furchtbare Drohungen erhalten. Damals wurde auch die Tochter eines Streikführers vergewaltigt und ermordet, ein Zusammenhang mit dem Engagement des Vaters war nicht nachzuweisen.
Ein Gericht erklärte den Streik bei KBM für illegal, was angesichts des Rufs, den die kasachische Justiz genießt, nicht viel zu bedeuten hat. Die konservative US-amerikanische NGO Freedom House gab ihr auf einer Skala von 1 bis 7 gerade mal 6,25 Punkte – 7 bedeutet, dass ein Justizsystem vollständig von der Exekutive kontrolliert wird. Die Gerichtsentscheidung erlaubte es den Unternehmen, auf einen Schlag ihre aufmüpfigen Mitarbeiter loszuwerden: Im Sommer 2011 gab es bei KBM und bei OMG jeweils rund tausend Entlassungen, 500 bei Ersai. Die Zahl der Streikenden (bei OMG waren es im Mai 2011 noch 7 500 von 9 500 Beschäftigten) ging daraufhin schnell zurück – aber innerhalb der Bewegung wuchsen Zorn und Entschlossenheit.
Bei diesem Ausmaß an Unterdrückung und Demütigung ist es nicht verwunderlich, dass sich manche Streikende schnell radikalisierten, meint Galym Ageleulow, Präsident der NGO „Freiheit“, „einige haben sogar einen Hungerstreik begonnen“. Sieben Monate lang fanden die Nieftianiki weder bei den Behörden noch bei den Unternehmen Gehör.
„Glauben Sie an Zauberei?“, fragte im Oktober 2011 der OMG-Chef Kiikbay Eschmanow im Interview mit einer BBC-Korrespondentin. „Ich glaube wirklich, die Leute hier auf dem Platz sind hypnotisiert worden. Wir haben ihre Löhne in den letzten Jahren sechsmal erhöht.“3 Die Löhne der Nieftianiki liegen tatsächlich deutlich über dem Landesdurchschnitt von knapp 65 000 Tenge (325 Euro) – vielleicht steht bei diesen Streiks eben nicht das wirtschaftliche Elend im Vordergrund.
Ein Fahrer bei OMG, nennen wir ihn Murat, verdiente bis Mai vergangenen Jahres 130 000 Tenge (665 Euro), etwa ein Drittel mehr als seine Kollegen in anderen Städten. „Davon kann man in Kasachstan leben“, räumt er ein. „Aber nur mit Mühe, weil das Leben in Schangaösen sehr teuer ist. Die Stadt ist sehr abgelegen, und die guten Gehälter der höheren Angestellten treiben die Preise in die Höhe.“ Murat hat uns in die bescheidene Küche seiner Wohnung eingeladen, im dritten Stock eines Chruschtschowki (das sind die vier- bis fünfstöckigen Plattenbauten aus der Zeit des Kremlführers Chruschtschow). Auf dem Weg dorthin durften wir nicht auffallen, überall sind Polizeistreifen unterwegs. Es herrscht Ausnahmezustand in Schangaösen.
Wie konnte sich eine derart radikale Bewegung entwickeln? In Regierungskreisen heißt es, der Oligarch Muchtar Abliasow, der seit 2009 im Londoner Exil lebt und ein Gegner von Präsident Nasarbajew ist, habe die Streikenden bezahlt. Doch dafür gibt keine Beweise. Der Streik ist auch nicht ideologisch motiviert, und niemand fordert den Sturz Nasarbajews. Einige der Nieftianiki bezeichnen sich als Sozialisten oder Kommunisten, andere definieren sich vor allem über ihre Zugehörigkeit zum Volk der Adai, das Anfang des 20. Jahrhunderts den Kampf gegen die Bolschewiki aufnahm. „Aber Formeln wie ‚wir Adai gegen die anderen‘ sind nur eine Art, die eigene Unzufriedenheit auszudrücken und möglichst viele Leute zu mobilisieren“, meint der Politologe Edward Schatz.4
Der schwedische Ökonom Anders Aslund, ein Experte für die ehemaligen Sowjetrepubliken, ist überzeugt, dass es um die soziale Frage geht: „Ich halte das für einen Klassenkonflikt. Obwohl Kasachstan ein reiches Land ist, sterben hier 29 von 1 000 Kindern, bevor sie das fünfte Lebensjahr erreichen. In Bulgarien oder Lettland, Ländern mit ähnlicher Wirtschaftsleistung, liegt diese Zahl bei 10 beziehungsweise 8. Kasachstan bleibt damit auf dem Niveau seiner wesentlich ärmeren Nachbarländer Kirgisien und Usbekistan, und das ist kein Zufall: Nur 2,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts werden für das Gesundheitswesen aufgewendet; in Bulgarien sind es 4,2 und in Lettland 3,6 Prozent.“
„Ich bin jetzt fünfzig und muss meinen Kindern jeden Tag erklären, dass das Geld nicht reicht“, schimpft Murat. „Wann werde ich denn ein vernünftiges Auskommen haben? In zwanzig Jahren vielleicht, wie es die Regierung verspricht? Man behandelt uns wie Schafe, nicht wie Menschen.“ Er zieht den Vorhang zur Seite: „Sehen Sie sich diese hässliche Stadt an. Alles ist grau, die Häuser sind alt und die Schulen heruntergekommen! Noch vor ein paar Monaten hatten wir nur vier Stunden am Tag Wasser.“
Noch empörender findet er, dass seit Anfang 2012 der Preis für ein Barrel Rohöl deutlich über 100 US-Dollar liegt. Die Machthaber schwimmen also im Geld und geben Unsummen für den Aufbau der neuen Hauptstadt Astana aus, die im Nirgendwo aus dem Boden gestampft wird. Überall an den Straßen in Mangystau künden Plakate von der futuristischen Schönheit Astanas – als wolle man den Nieftianiki von OMG und KBM noch einmal vor Augen führen, was mit den Petrodollars gemacht wird, zu deren Erwirtschaftung sie beitragen.
Die schicke Aktau City, aber keine anständige Kanalisation
„Für die existieren wir gar nicht. Unsere Führung lebt mit ihren Milliarden auf einem anderen Stern“, sagt Nurijash Abdraimowa, Ehefrau eines Nieftianik und überzeugte Kommunistin. „Jetzt wollen sie hier die neue ‚Aktau City‘ bauen, todschick, ein neues Dubai, aber leider so teuer, dass man sich keine Wohnung leisten kann. Sie sollten uns erst mal eine anständige Kanalisation bauen!“
Eine andere Frau, die sich auch am Streik beteiligt hat, meint: „Unsere Führer stopfen sich doch nur die eigenen Taschen voll, wie Kulibajew, der Schwiegersohn des Präsidenten: Der ist Milliardär, und jeder weiß, woher sein Vermögen stammt. Ausgerechnet der wagt es, uns vorzuwerfen, das Land habe unseretwegen hunderte Millionen verloren!“ Tatsächlich hat Timur Kulibajew, der mutmaßlich korrupte „Ölprinz“, der mit einer Tochter von Nasarbajew verheiratet ist, die Oralman (nach der Unabhängigkeit zurückgekehrte ethnische Kasachen) als Anstifter der dauernden Streiks ausgemacht. Unter den 37 Angeklagten, die seit März 2012 wegen „Störung der öffentlichen Ordnung, Gewalttaten und Brandstiftung“ vor Gericht stehen, sind zwanzig Oralman.
Im Zentrum von Schangaösen, vor dem Firmensitz von OMG, der am 16. Dezember in Brand gesteckt wurde, steht eine weiße, orientalisch anmutende Gedenksäule mit der etwas ausgebleichten roten Inschrift: „17. Juni 1989“. An dem Tag starben dutzende von Menschen bei ethnischen Zusammenstößen, vor allem Tschetschenen und Aseris. Sie standen als Fachkräfte bei einem Unternehmen unter Vertrag, das ein Ölfeld in der Nähe von Schangaösen ausbeutete – und wurden wesentlich besser bezahlt als die kasachischen Arbeiter.
Schon damals nahm der Streit über Einkommensunterschiede und ungleiche Lebensbedingungen in dieser fast vergessenen Stadt mitten in der Steppe einen tödlichen Ausgang. 2006 kam es beim riesigen Ölfeld von Tengiz – das vorwiegend von den US-Konzernen Chevron (50 Prozent) und ExxonMobil (25 Prozent) ausgebeutet wird – zu einem ähnlichen Konflikt. Diesmal gingen Kasachen und Türken aufeinander los: Die Türken waren bei einem Subunternehmer angestellt, der besser zahlte als die kasachischen Firmen.
In einer Studie zur Lage in Schangaösen, die das kasachische Institut für politische Lösungen im Dezember 2009 durchführte, gaben 40,7 Prozent der Befragten an, dass ihr Einkommen nicht reiche, um die Basisdienstleistungen (Strom, Gas et cetera) und Lebensmittel zu bezahlen. 32 Prozent waren der Ansicht, dass die Erfolge radikalislamischer Gruppen auf soziale Probleme zurückzuführen seien. Zwei Jahre später, ab Mai 2011, erlebte Kasachstan eine Welle islamistischer Gewaltakte und Anschläge auf Vertreter der Staatsmacht.
Wenige Tage nach dem Blutbad von Schangaösen im Dezember 2011 übte Staatschef Nasarbajew scharfe Kritik an den Verantwortlichen der Erdölbranche und entließ praktisch die gesamte Führungsriege – allen voran seinen Schwiegersohn Kulibajew, den manche bereits als seinen Nachfolger gehandelt hatten. Bis Ende Dezember war Kulibajew noch Aufsichtsratsvorsitzender von Samruk-Kazyna, einer Holding, zu der sämtliche staatlichen Erdölunternehmen gehören. Hat Nasarbajew so viele Köpfe rollen lassen, nur um den Volkszorn zu besänftigen?
Geklaute Tanklaster voller Rohöl
Natürlich weiß der Präsident über die Korruption in der Erdölbranche Bescheid. Tanklaster voller Rohöl wurden einfach gestohlen, manche Mitglieder der Öldynastien im Westen des Landes kauften Beteiligungen an KMG-Töchtern, die nur gegründet wurden, um Gewinne abzuzweigen.5 In Kasachstan ist die Korruption System. Es gibt zwar ein paar theoretisch vernünftige Regelungen, wie die Vorschriften über den „lokalen Anteil“, die ausländische Unternehmen verpflichten, Aufträge an lokale Firmen zu vergeben und lokale Arbeitskräfte einzustellen. Aber gerade die ausländischen Geschäftsleute erzählen davon, wie Vetternwirtschaft und Korruption jeden politischen Ansatz zur Schaffung lokaler Industriestrukturen scheitern lassen.
Wird Kasachstan aus den Ereignissen in Schangaösen etwas lernen? Bauyrschan Muchamedschanow, der neue Gouverneur der Region, räumt ein, dass „Arbeitsplätze und Wohnungen knapp sind und die Korruption ein Problem darstellt“. Staatschef Nasarbajew hat eine Kommission einberufen, die die sozialen und wirtschaftlichen Problemen in Schangaösen lösen soll, und er hat den staatlichen Erdölunternehmen Führungskräfte verordnet, die als sensibel im Umgang mit sozialen Fragen gelten – etwa Alik Aidarbajew, den neuen Chef von KMG EP.
Zugleich forderte Nasarbajew, man müsse die „Hooligans“ dingfest machen, die den Aufstand vom 16. Dezember angezettelt hätten. Polizei, Geheimdienste und Staatsanwaltschaft, die vor allem darum bemüht waren, ihre eigenen Fehler zu vertuschen, verstanden das als Freibrief zur Anwendung der „guten alten Methoden“: „Streikführer wurden ohne begründeten Verdacht festgenommen, und leider besteht Anlass zu der Vermutung, dass nach dem 16. Dezember auch Folterungen vorkamen“, berichtet Mihra Rittmann von Human Rights Watch. „Oppositionspolitiker wie Wladimir Koslow wurden unter dem Vorwand verhaftet, dass sie die Arbeiter zur Fortsetzung des Ausstands ermutigt hätten – eine Einschränkung des Grundrechts auf freie Meinungsäußerung.“
Letztlich verlässt sich das kasachische Regime auf das bewährte Rezept von Zuckerbrot und Peitsche. Um die Streikbewegung in Schach zu halten und ihre Ausbreitung auf andere Branchen und Landesteile zu verhindern, hat es ein Klima der Angst geschaffen – durch willkürliche Verhaftungen und einen Schauprozess gegen die 37 Arbeiter, die als Rädelsführer galten. Dagegen wurden nur sieben Polizisten wegen ihrer Beteiligung am Blutbad des 16. Dezember zur Verantwortung gezogen. Keiner der 2 500 entlassenen Arbeiter hat seinen Job wiederbekommen. Aber man hat ihnen – angekündigtes Zuckerbrot – Arbeitsplätze in einer neuen Firma versprochen, die bald entstehen soll.
Aus dem Französischen von Edgar Peinelt
Régis Genté ist Journalist.
Land und Leute
Bevölkerung (2012): 16 718 000 Einwohner.
Bevölkerungsdichte (2011): Sechs Einwohner pro Quadratkilometer.
Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf (2011): 13 000 US-Dollar.
BIP-Wachstum (2011): 8 Prozent. (Russland 4,5, Frankreich 1,2).
Exporte (2011): Erdöl, Erdgas und Bergbauprodukte (Kohle, Uran) 85 Prozent; Agrarprodukte (Getreide, Wolle, Fleisch) 4 Prozent; Industrieprodukte 11 Prozent.
Importe (2011): Erdöl, Erdgas und Bergbau 16 Prozent; Agrarprodukte 10 Prozent; Industrieprodukte 74 Prozent. (42 Prozent der Importe kommen aus Russland.)
Bevölkerung unter 15 Jahren (2011): 25 Prozent.
Durchschnittsalter (2011): 30 Jahre.
Geburtenrate (2011): 2,48 Kinder.
Lebenserwartung (2011): 67 Jahre.
Durchschnittlicher Schulbesuch der über 25-Jährigen (2011): 10,4 Jahre.
Müttersterblichkeit (pro 100 000 Lebendgeburten, 2011): 45.
Quellen: Weltbank; CIA World Factbook; UN