11.05.2012

Radio Rajca aus Bialystok

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Radio Rajca aus Bialystok

Der Osten Polens braucht EU-Geld fürs wirtschaftliche Überleben. Zugleich erstickt die geschlossene Außengrenze der Union den Austausch mit den Nachbarn von Laurent Geslin und Sébastien Gobert

Radio Rajka aus Bialystok
Ein kulturelles Mosaik

sfDie Straße endet im Urwald von Bialowieza. Hier, in der polnischen Woiwodschaft Podlaskie, ist der Wilde Osten der Europäischen Union. Im Nationalpark leben noch mehrere hundert Bisons in Freiheit, nur Indianer und Cowboys gibt es nicht. Östlich von Warschau werden Städte selten, die größten sind Bialystok und Lublin. Das Schienennetz wird dünn, statt Schnellzügen bewegen sich Lastwagen mühsam über Landstraßen vorwärts in Richtung Litauen, Weißrussland oder die Ukraine. „Wir sind praktisch von Warschau isoliert“, bedauert der Bürgermeister der Stadt Biala Podlaska, Andrzej Czapski. „Hier gibt es auch keine Arbeit. Die großen Fabriken in der Region haben in den Übergangsjahren zugemacht.“ Von dem in westlichen Medien vielgepriesenen polnischen Wirtschaftswunder (2010 betrug das Wachstum 3,8 Prozent, 4 Prozent 2011) ist in den ländlichen Regionen des Ostens wenig zu spüren.

„Seit zwanzig Jahren verstärkt sich das Gefälle innerhalb Polens“, erläutert Wiktor Wojciechowski, Professor an der Warsaw School of Economics. „In den östlichen Regionen fehlt einfach die Infrastruktur, mit der man Investoren anlocken könnte.“ In der Karpatenprovinz (Podkarpackie) lag der Durchschnittslohn schon im Jahr 2000 gut 12 Prozent unter dem Landesdurchschnitt, 2012 sind es 17 Prozent. Der Anteil des Bruttoinlandsprodukts (BIP) der Provinz Lublin (Lubielskie) am polnischen BIP beträgt nur noch 3,9 Prozent, 1995 waren es noch 4,5 Prozent. Das durchschnittliche BIP der drei östlichen Regionen (Podlaskie, Lubelskie und Podkarpackie) blieb 2008 etwa 30 Prozent unter dem Landesdurchschnitt.1

„Hauptarbeitgeber hier in der Stadt ist der öffentliche Dienst“, berichtet Czapski. „Wir können die jungen Leute nicht halten, die nach Warschau gehen oder gleich nach Westeuropa auswandern wollen.“ Seit dem Beitritt Polens zur EU am 1. Mai 2004 haben fast zwei Millionen Menschen, die meisten junge Hochschulabsolventen, ihr Glück im Ausland gesucht. Für die polnische Regierung, die den Aderlass nicht zu stoppen vermag, ist es eine weitere „verlorene Generation“. Nach Angaben des nationalen Amts für Statistik arbeiten über 1,6 Millionen Polen in anderen EU-Ländern2 und über 200 000 im übrigen Ausland. Tomek, um die dreißig, ist einer der wenigen, die nach Bialystok zurückgekommen sind. Seine Stimme klingt entschlossen, aber sehr zuversichtlich sieht er nicht aus. „Ich habe fünf Jahre in China Englisch unterrichtet. Ich bin froh, dass ich endlich wieder zu Hause bin, auch wenn ich nicht weiß, wie ich hier Arbeit finden soll.“

Dass die Arbeitslosenquote in Bialystok nicht über 13 Prozent und selbst in einer so heruntergekommen Stadt wie Biala Podlaska, einer der ärmsten in ganz Polen, nicht über 15 Prozent steigt, liegt an der Abwanderung. „Die Landbewohner ziehen in die Kleinstädte und dann weiter nach Warschau. Die ländlichen Gebiete leeren sich, ohne dass die Bevölkerung der Kleinstädte zunimmt“, erklärt Czapski. In der Woiwodschaft Podlaskie liegt die Bevölkerungsdichte bei 59 Einwohnern pro Quadratkilometer, das ist etwa die Hälfte des Landesdurchschnitts. Und die Abwanderung wird wohl weiter zunehmen: Deutschland hat seinen Arbeitsmarkt für acht Staaten Mittel- und Osteuropas geöffnet, um dem Arbeitskräftemangel zu begegnen, und rechnet damit, künftig 100 000 Arbeitskräfte pro Jahr aufzunehmen. Viele Polen werden den über 400 000 Landsleuten folgen wollen, die bereits jenseits der Grenze leben. Jedes Dorf hier hat übrigens seine eigene Migrationslogik: Aus dem Städtchen Mónki geht man nach Glasgow, aus Sokólka nach London, und die Leute aus Siemiatycze ziehen Richtung Belgien.

Für Ostpolen gibt es die durchaus gebräuchliche Bezeichnung „Polska B“. Diesem Polen zweiter Klasse steht, so die allgemeine Vorstellung, „Polska A“, das bessere Polen im Westen gegenüber. Die Regionen, die „Polska A“ zugerechnet werden, entsprechen in etwa den Gebieten, die bis 1918 oder 1945 deutsch waren, während der Osten des Landes bis 1918 zum russischen Reich gehörte. Manche sehen in diesen verschiedenen Zugehörigkeiten den Ursprung des deutlichen West-Ost-Gefälles. Der Philosoph und Politikwissenschaftler François Bafoil spricht von einem territorialen Bruch zwischen dem „entwickelten und industrialisierten und dem ländlichen Polen, einer Gegend kleiner, oft winziger Gehöfte mit wenig Land. Der Gegensatz besteht auch zwischen den Werten, die sich in der berühmten traditionellen Dreifaltigkeit Gott, Ehre, Vaterland ausdrücken, die in den Regionen des Ostens gilt, und Begriffen wie Öffnung und Dynamik, die immer mit den Regionen des Westens verbunden wurden.“3

Eine Analyse der Wahlergebnisse bei den Parlamentswahlen im Oktober 2011 nach Distrikten (Powiat) scheint diese Hypothese zu bestätigen: Der Westen hat sich mehrheitlich für die liberale, proeuropäische Bürgerplattform (PO) ausgesprochen, die seit 2007 an der Macht ist, während der Osten Recht und Gerechtigkeit (PiS) treu blieb, der Partei des nationalistischen Präsidenten Lech Kaczynski, der am 10. April 2010 bei einem Flugzeugabsturz bei Smolensk ums Leben kam, und seines Zwillingsbruders, des einstigen Ministerpräsidenten Jaroslaw Kaczynski. „Die Leute hier sind Menschen vom Land, loyal und fleißig“, erklärt Pawel Makowiecki, ein junger Ingenieur, der in Bialystok versucht, neue Informatik- und Kommunikationstechnologien zu entwickeln. „Aber sie sind ziemlich verschlossen. Es bedarf großer Anstrengungen, um die Mentalität zu verändern. Da sind die EU-Hilfen eine Chance, die wir uns nicht entgehen lassen dürfen.“

Seit Einführung des Programms „Polen und Ungarn: Hilfe zur Restrukturierung der Wirtschaft“ (Phare) sowie des Strukturpolitischen Instruments zur Vorbereitung auf den Beitritt (Ispa), vor allem aber seit dem Beitritt zur EU fließen diese Gelder. „In den letzten Jahren hat sich die Region dank der europäischen Integration unwahrscheinlich entwickelt“, bestätigt der Soziologe Tadeusz Poplaski bei einem Spaziergang durch Bialystok. „Endlich haben wir die Mittel, um das Potenzial dieser Gebiete auszuschöpfen und sie zu den dynamischsten Polens zu entwickeln.“

Mit dem europäischen Geld gibt sich die Stadt, die grau und heruntergekommen war, gegenwärtig ein neues Gesicht. Arbeiter sind damit beschäftigt, die Fußgängerzone im Zentrums neu zu pflastern. Auf dem vollkommen restaurierten Marktplatz finden im Sommer Konzerte statt. „Hier gibt es angesagte Cafés und Buchläden, das schafft Orte, wo sich Leute treffen, wo die Studenten zusammensitzen. Die Stadt atmet wieder.“ Der Asphalt auf den Landstraßen ist noch frisch, und in den Städten prangt an den renovierten Gebäuden und den unzähligen Baustellen der Sternenkranz der EU.

In der alten Stadt Lublin wird das Teatr Stary bald wieder seine Tore öffnen. Es war 1986 bei einem Brand zerstört worden und hat dann zwanzig Jahre lang leer gestanden. Im ältesten Theater der Stadt, an dem gerade die letzten Farbschichten aufgetragen werden, werden bald wieder Theaterstücke inszeniert und Filme gezeigt. „Dieses Projekt hat eine große symbolische Tragweite. Es verkörpert die Erneuerung Lublins“, meint Krysztof Latka, der im Rathaus für kulturelle Entwicklungsstrategien zuständig ist.

Für den Zeitraum von 2007 bis 2013 sollen insgesamt 2,67 Milliarden Euro, davon 85 Prozent aus EU-Mitteln, in das Entwicklungsprogramm für Ostpolen fließen. Die fünf östlichen Woiwodschaften (Podlaskie, Lubelskie, Podkarparckie, Warminsko-Mazurskie und Swietokrzyskie) teilen sich die ansehnliche Summe und stecken sie in vorrangige Anliegen wie Wirtschaftsförderung, Ausbau schneller Internetverbindungen, Verkehrswege und Subventionen für den nachhaltigen Tourismus. „Diese Strategie zeigt, dass die Regierung die Entwicklung der Makroregion zur Priorität erhoben hat“, verkündet Bozena Lublinska-Kasprzak, die Leiterin der Polnischen Agentur für Unternehmensentwicklung (Parp). „Die wirklich optimistischen Unternehmen findet man im Osten. Mit unserer Unterstützung können sie bisher ungenutzte regionale Trümpfe ausspielen.“

Einsamkeit, Wälder, Seen und Sümpfe

In der kleinen Stadt Siedlce hat der 25-jährige Grzegorz Korcinska mithilfe einer EU-Förderung von 5 000 Euro eine eigene Firma für Webdesign gegründet. „Mit diesem Zuschuss konnte ich loslegen, Material kaufen und ein Büro mieten. Jetzt muss ich selbst Kunden finden“, sagt er voller Elan.

Die polnische Regierung versucht die kargen Vorzüge dieser ländlichen Randregion nutzbar zu machen. Die Erde von Podlaskie ist sandig und nicht sehr fruchtbar? Das ist ideal als Weideland! Heute produziert die Woiwodschaft fast ein Drittel der Milch in Polen. Die Region ist wenig urbanisiert und voller Wälder? Diese Eigenschaften haben den schwedischen Möbelriesen Ikea angelockt, der im Juni 2011 im Bezirk Orla eine Möbelfabrik eröffnet hat, eine Investition von 140 Millionen Euro, kofinanziert von der EU. Und gerade weil der Südosten, Podkarpackie, relativ isoliert liegt, baut und testet die US-amerikanische Waffenfirma Sikorsky in Mielec den Militärhubschrauber Black Hawk. Sie beschäftigt dort 2 000 Mitarbeiter.

Als einsames Land voller Wälder, Seen und Sümpfe mit einer reichen Fauna setzt der Osten Polens auch auf seine Naturschönheiten, um den grünen Tourismus zu entwickeln. „In der Woiwodschaft Podlaskie gibt es drei Nationalparks. 70 Prozent der Region gehören zum Netz Natura 2000“, sagt Jadwiga Bogucka-Skorochodzka, die in der Regionalverwaltung Subventionen für die Landwirtschaft verteilt. „Das begrenzt die Investitionen in die Produktion, ermöglicht aber einen nachhaltigen Tourismus, um das Leben in den ländlichen Zonen zu erhalten.“ Holzhütten, Pferde, ein See, der sich im Nebel verliert – alles ein paar Autostunden von Warschau entfernt. Der Gasthof Zagroda Kuwasy im Dorf Woznawiesz empfängt das ganze Jahr hindurch Gäste. Jarek ist kaufmännischer Angestellter in einem Haushaltsgeräteunternehmen. Er nimmt mit seinen Kollegen an einem Seminar teil. Seine Stimme ist belegt, der Gang unsicher: Sie feiern den Kursabschluss. „Das ist wirklich ein idealer Standort, um tagsüber zu arbeiten und sich nachts zu entspannen.“ Am Eingang des Hotels weist eine unauffällige Tafel darauf hin, dass das Projekt EU-Subventionen erhalten hat.

Es ist allerdings noch zu früh, um zu sagen, ob die zaghafte Wiedergeburt der Region nachhaltig sein wird. „Der Osten hat in den letzten zwanzig Jahren wenig von der Öffnung Polens mitbekommen. Heute erwacht die Region aus ihrer Betäubung, aber die meisten ausländischen Unternehmen, die in Polen investieren wollten, haben sich schon in Breslau, Posen und Warschau niedergelassen. Sie werden nicht mehr hierher umziehen“, bedauert Piotr Stec, der Direktor der Polnischen Agentur für Regionalentwicklung (Papp). Nach Ansicht des Ökonomen Wiktor Wojciechowski bläht der massive Geldstrom aus den Strukturfonds das Wachstum künstlich auf. „Der größte Teil dieses Gelds geht in Infrastruktur oder Konsumgüter, nicht in produktive Investitionen.“

Die Stadt Zamosc im Südosten des Landes wird ihrer Architektur wegen auch „Padua des Nordens“ genannt. Dort wurde mit massiver Unterstützung aus EU-Mitteln das Stadtzentrum renoviert, ein Juwel der Renaissance- und Barockarchitektur. Außerhalb der Sommersaison sind die Straßen menschenleer, die neu gestrichenen Fassaden leblos und die Einwohner arbeitslos. Die Arbeitslosigkeit lag im Herbst 2011 bei etwa 13 Prozent. Es gelingt nicht, genug Investoren anzuziehen, um den Wohlstand der Stadt zu sichern.

„Solange Europa uns Geld gibt, schaffen wir alle Infrastrukturen, die uns fehlen“, bestätigt Czapski. „Auch wenn wir uns verschulden müssen.“ Für jeden EU-Euro müssen die Städte und Bezirke nämlich denselben Betrag einbringen und dafür meistens Kredite aufnehmen. Dieses System wird vor allem in Zeiten der Schuldenkrise in Europa allmählich besorgniserregend, obendrein fürchtet man eine Verringerung der europäischen Subventionen für die Zeit nach 2014. „Der Rückgang der Subventionen wäre ein harter Schlag“, gibt Frau Bogucka-Skorochodzka lächelnd zu, „aber wir werden nicht daran sterben. Wir in unserer Gegend wissen, wie man überlebt.“ Ohne die Unterstützung aus Brüssel wird die Region allerdings noch lange nicht auf die Beine kommen. Denn die EU hat Polen einerseits massive Finanzhilfen gewährt, andererseits hat die Aufnahme in den Schengenraum das Land von seinen östlichen Nachbarn abgeschnitten.

Etwa dreißig Kilometer von Bialystok entfernt, in einem dichten Wald, verliert sich die gerade Straße im Nebel. Hier gibt es häufig Polizeikontrollen. Seit dem 21. Dezember 2007 gehört das Land diesseits der Grenze zum Schengenraum. Die ist seither für die Weißrussen zu einer unüberwindlichen Mauer geworden. Zusätzlich zu den endlosen Genehmigungsverfahren, die man durchlaufen muss, kostet ein Visum 60 Euro, das ist ein Viertel eines durchschnittlichen weißrussischen Monatslohns. Für das gleiche Visum bezahlen Russen nur 35 Euro. „Diese Grenzen behindern unsere Entwicklung“, bestätigt Tadeusz Truskolaski, der Bürgermeister von Bialystok. „Dabei könnte unsere Region zum Tor Europas nach Weißrussland werden.“ In der Stadt gibt es Supermärkte westeuropäischer Ketten, für die Weißrussen, die noch zum Einkaufen kommen. „Aber das hat nur wenig Einfluss auf die Wirtschaft“, fährt der Bürgermeister fort. „Nur wer ein Visum hat und vom Schmuggel lebt, profitiert von der Grenze.“

In Bobrowniki wartet eine sechs Kilometer lange Lkw-Schlange vor den Zollkontrollen. Manchmal dauert es zwölf Stunden, ehe man die Grenze passiert hat. Weiter südlich, am Grenzübergang Terespol, ein paar Kilometer von der weißrussischen Stadt Brest entfernt, werden auf der Straße Wodka und Zigaretten aus Weißrussland und polnische Windeln verkauft. Die Behörden verschließen die Augen vor diesem harmlosen Schmuggel.4 „Wir hatten ein paar Probleme mit Korruption“, bestätigt Marcin Czajka, der Pressesprecher des Zollamts Biala Podlaska. „2008 und 2009 gab es Verfahren gegen etwa hundert Beamte. Es braucht Zeit, bis sich die Mentalitäten ändern.“ Nach Angaben der polnischen Behörden wurden in Polen 2010 mehr als 8 Milliarden geschmuggelte Zigaretten verkauft. Trotz der ultramodernen, vom Westen bezahlten Ausrüstung gehen 50 Prozent dieses Schmuggels durch die Region Lublin. „Wir finden vor allem Tabak und gefälschte Markenkleidung in Fahrzeugverkleidungen und Reifen“, bestätigen die Zöllner, während sie auf den Bildschirm des Röntgenscanners starren, der gerade einen weißrussischen Lkw durchleuchtet. In den ersten sechs Monaten des Jahres 2011 wurden allein an den Grenzübergängen zu Weißrussland und der Ukraine 120 000 Straftaten registriert. Die Schmuggelware überwindet die Mauer von Schengen leicht, aber die Bevölkerung bleibt meistens ausgesperrt.

„Seit wir zu Schengen gehören, sehen wir hier wenig Ukrainer und Weißrussen“, stellt Czapski fest. „Aber es ist wichtig, dass Europa nicht wie 1945 gespalten wird.“ 2008 hat Polen ein Passierscheinsystem entwickelt, das es den Bewohnern des ukrainischen Grenzgebiets erlaubt, sich in einem Raum bis zu 30 Kilometern hinter der Grenze frei zu bewegen. 5 Mit Weißrussland wurde ein ähnliches Abkommen ratifiziert, aber seit der Verhaftung von sechs Oppositionellen bei den Präsidentschaftswahlen im Dezember 2010 ruht die Umsetzung. „Durch die Repressionen, die auf die Wahlen folgten, haben sich die Beziehungen zwischen der Europäischen Union und den weißrussischen Behörden verschlechtert“, sagt Wojciech Komonczuk, Wissenschaftler am Center for Eastern Studies in Warschau. „Präsident Lukaschenko, der nicht nach Polen einreisen darf, nutzt diese Spannungen für seine Propaganda.“

In fünf Ländern gelebt und sein Dorf nie verlassen

Lukaschenko betrachtet die polnische Minderheit in Weißrussland, nach Schätzungen zwischen 200 000 und 400 000 Menschen, als Bedrohung. Die Föderation der Polen in Weißrussland (ZPB), die sich für die Förderung der polnischen Kultur einsetzt, ist seit 2005 auf weißrussischem Boden verboten; ihre Mitglieder werden immer wieder verhaftet. „Die Rhetorik der Macht ist einfach: Der weißrussische Staat unter Präsident Lukaschenko, Erbe des Großen Vaterländischen Krieges [so hieß der Zweite Weltkrieg in der UdSSR], ist der Einzige, der die Polen und Faschisten bekämpft, die Weißrussland zerschlagen wollen wie 1920“, erklärt Komonczuk.

Nach dem russisch-polnischen Krieg von 1920 und der Niederlage der Roten Armee vor Warschau musste die Sowjetunion die Territorien westlich von Minsk räumen, darunter die Städte Vilnius, Grodno, Brest und Lwiw (Lemberg). Sie kamen erst 1945 wieder unter sowjetische Kontrolle, als Stalin die auf der Curzon-Linie6 basierende Grenze festlegte. Diese Bruchlinie prägt noch heute die ostpolnischen Gebiete, die jahrhundertelang zu einem riesigen Reich gehört hatten. Im 16. Jahrhundert lebte unter dem Dach der Polnisch-Litauischen Union7 wie in Österreich-Ungarn und im Osmanischen Reich eine große Vielfalt von Völkern und Religionen an den Kreuzungspunkten der Handelswege, die die Ostsee und das Schwarze Meer verbanden.

„Die Grenzen ändern sich. Mein Urgroßvater hat in fünf verschiedenen Ländern gelebt, ohne sein Dorf je zu verlassen: im zaristischen Russland, in Polen, in der Sowjetunion, in Deutschland und wieder in Polen“, sagt der Journalist Jaroslaw Iwaniuk, der bei Radio Rajca arbeitet, einem Sender in Bialystok, der 2,5 Millionen Hörer in Weißrussland erreicht. „Wir wollen den Familien, die durch die Grenze getrennt sind, die Möglichkeit geben, in Kontakt zu bleiben, aber die regionale Identität verschwindet allmählich.“ Polnisch, Russisch, Weißrussisch – bei Radio Rajca darf sich jeder in seiner Sprache äußern, und man versteht sich. „Für uns hat es nie eine Grenze gegeben“, erklärt der Anthropologe Tomasz Sulima. „Früher definierte sich die Bevölkerung dieser Region nicht nach ihrer Sprache oder ihrer Religion, man stand loyal zum König und der Republik der zwei Nationen [Polen und Litauen].“

Tomasz Sulima setzt sich dafür ein, das Podlachische zu erhalten. Dieser Dialekt ist dem Weißrussischen ähnlich und wird noch auf dem Land um Bialystok auf beiden Seiten der Grenze gesprochen. „Wir organisieren Konzerte und traditionelle Feste. Wir wollen die Menschen an ihre Wurzeln erinnern.“ Abgesehen von solchen Initiativen sind die Kontakte zum benachbarten Weißrussland sehr beschränkt. In Bialystok wendet man sich entschlossen dem Westen zu. „Wir hatten zwar Kontakte zur Stadtverwaltung von Grodno, aber seit den Präsidentenwahlen von 2010 ist alles eingefroren“, bestätigt Tadeusz Truskolaski. „Heute orientieren wir uns in Richtung Warschau und baltische Staaten.“

Die weiter südlich gelegene Universitätsstadt Lublin hat sich für die Öffnung nach Osten entschieden. 2009 wurde auf Initiative Polens die „Partnerschaft des Ostens“ ins Leben gerufen. „Wir verstärken den Austausch mit Lviv und den anderen Städten der Westukraine“, erklärt Michal Karapuda, der für die kulturellen Pläne der Stadt verantwortlich zeichnet. „Wir befinden uns in der Mitte eines großen zentraleuropäischen Raums, das muss man ausnutzen. Schließlich war es kein Zufall, dass die Polnisch-Litauische Adelsrepublik 1569 in unserer Stadt gegründet wurde.“ Nach der erfolglosen Kandidatur8 für den Titel „Europäische Kulturhauptstadt 2016“ bereitet sich Lublin darauf vor, 2017 seinen 700. Geburtstag zu feiern. In diesem Rahmen sind auch zahlreiche grenzüberschreitende Projekte geplant, die die Zusammenarbeit bei Musik und Theater verstärken sollen. „Wenn wir ein erstrangiges kulturelles Zentrum werden, betonen wir unsere Einzigartigkeit und werden zu einer regionalen Hauptstadt“, hofft Karapuda.

So verhelfen die Subventionen aus Brüssel einer lange vergessenen Region am Rand der Europäischen Union zu einem allmählichen Wiederaufbau. Aber diese Gebiete werden ihre Identität und damit auch ihren Wohlstand nur wiederfinden, wenn die Grenzen, die sie spalten, durchlässiger werden. In seinem Bürgermeisterbüro in Biala Podlaska entwirft Andrzej Czpaski eine neue Europakarte: „Wir liegen auf der Eisenbahnstrecke von Lissabon nach Wladiwostok. Eines Tages werden wir vielleicht die Stellung als Handels- und Touristenzentrum erhalten, die uns zusteht.“ Damit die alten Territorien des polnisch-litauischen Großreichs diese zentrale Position wiedererlangen, darf die Region nicht länger als Verteidigungswall gegenüber einer von Moskau dominierten Welt gesehen werden, die als grundsätzlich instabil und feindselig gilt. Stattdessen soll sie sich im Herzen eines für Beziehungen und Austausch offenen Raums befinden, unabhängig von den künftigen Grenzen der EU.

Fußnoten: 1 Siehe www.stat.gov.pl/. 2 Nach Zahlen von 2009 arbeiteten 550 000 Polen in England, 140 000 in Irland, 415 000 in Deutschland: laender-analysen.de/polen/pdf/PolenAnalysen78.pdf. 3 François Bafoil, „Pologne: réflexions sur les élections d’octobre 2005“, Ceri/CNRS, November 2005: www.ceri-sciences-po.org.

4 Siehe zum polnisch-russischen Schmuggel auch Mathias Wagner, „Arbeitsplatz Grenze“, in: Le Monde diplomatique, März 2009. 5 Siehe Larisa Titarenko und Anaïs Marin, „Les Bélarusses victimes du rideau Schengen. Regard sur l’est“, 15. November 2011, www.regard-est.com. 6 Der britische Außenminister Curzon schlug nach dem Ersten Weltkrieg diesen Grenzverlauf vor. 7 Sie bestand von 1385 bis zur Teilung Polens 1791. 8 Die Städte Breslau (Polen) und San Sebastián (Spanien) teilen sich diesen Titel 2016.

Aus dem Französischen von Claudia Steinitz

Laurent Geslin und Sébastien Gobert sind Journalisten.

Ein kulturelles Mosaik

Hinter dem Wald führt die Straße an einem See entlang nach Sejny, einem Städtchen mit 6 000 Einwohnern. Es ist nur ein paar Kilometer von der litauischen Grenze entfernt. In der Hauptstraße gibt es eine katholische und eine orthodoxe Kirche. Etwas weiter kommt man zur „weißen Synagoge“, die daran erinnert, dass es hier vor dem Zweiten Weltkrieg eine große jüdische Gemeinde gab. „Sejny ist historisch durch die kulturelle Vielfalt seiner Einwohner geprägt“, erklärt Bozena Szroeder vom Verein Po Granice („Jenseits der Grenze“).

Der 1991 gegründete Verein sammelt die Spuren dieser Geschichte und macht sie bekannt. Dabei legt er besonderen Wert auf das kulturelle Erbe der Minderheiten im Nordosten Polens. „Die Menschen, die hier leben, sollen wissen, wer die Häuser gebaut hat, in denen sie wohnen.“

Weiter südlich, in Bohoniki an der weißrussischen Grenze, wurde die tatarische Moschee aus dem 18. Jahrhundert 2005 mit Unterstützung des polnischen Kulturministeriums, der Regionalverwaltung und einem Verein von Muslimen aus Podlaskie vollständig renoviert, obwohl die Mehrzahl der Gläubigen schon lange auf dem Dorffriedhof liegt. Die Bevölkerung von Podlaskie ist ein außergewöhnliches kulturelles Mosaik, ein Erbe der Polnisch-Litauischen Union. „Polen, Litauer, Weißrussen, Deutsche, Tataren, Podlachen, Juden: Wir haben alle jahrhundertelang friedlich zusammengelebt. Jede Gemeinschaft hatte ihre Traditionen, aber alle teilten eine gemeinsame regionale Identität“, erzählt Pawel Makowiecki. In Bialystok wuchs auch Ludwik Zamenhof auf, der Ende des 19. Jahrhunderts das Esperanto erfand, lange vor den Massakern und den erzwungenen Bevölkerungswanderungen des Zweiten Weltkriegs, bevor Stalin hier die Grenze zwischen der Sowjetunion und Polen zog.

Heute bezeichnen sich 97 Prozent der Bevölkerung Polens als „polnisch“ und 90 Prozent als katholisch. Der äußerste Nordosten des Landes aber ist kulturell gemischt. Diese Besonderheit nährt die nationalistische Paranoia. In den letzten Jahren haben Intoleranz und ausländerfeindliche Aktionen zugenommen. Im August 2011 wurden die zweisprachigen Ortsschilder des Grenzdorfs Punsk (Punskas auf Litauisch), in dem 80 Prozent der etwa tausend Einwohner sich als Litauer betrachten, mit Farbe überstrichen. Eine Vergeltungsmaßnahme, wie es im Dorf heißt, für eine Gesetzesänderung im litauischen Bildungswesen, die seit Juli 2011 den Unterricht auf Litauisch in Schulen für Minderheiten, besonders polnischen, in mehreren Fächern obligatorisch macht.

„Solche Vorkommnisse sind selten“, relativiert der stellvertretende Bürgermeister des Dorfs, Jan Wojczulis. „Es geht uns sehr gut in Polen, vor allem seitdem die Grenzen offen sind.“ In Punsk wurden Stacheldraht und Wachtürme, die Wahrzeichen der sowjetischen Grenze, entfernt. Sie haben breite Schneisen in den Nadelwäldern hinterlassen. Die Minderheiten auf beiden Seiten der Grenze können sich jetzt frei bewegen. Im nahen Weißrussland ist das nicht möglich. „Ein großer Schritt nach vorn“, scherzt der Bürgermeister und setzt einen Fuß auf litauischen Boden. L. G.

Le Monde diplomatique vom 11.05.2012, von Laurent Geslin und Sébastien Gobert