11.05.2012

Brief aus Teheran

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Brief aus Teheran

von Mitra Keyvan

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Es ist der erste Samstag nach den Nouruz-Ferien. Ich betrete die große Halle im Untergeschoss der Melli-Bank, ziehe mir eine Nummer, setze mich hin und warte, bis ich dran bin. An Schalter 17 wird die Nummer 427 aufgerufen, ich habe 465. Neben mir diskutieren zwei Männer über den realen Wechselkurs des Dollars, der doppelt so hoch ist wie der offizielle, und über die Preise, die wegen der „Sanktionen des Westens“ steigen, dann über den Korruptionsprozess, bei dem es um dreitausend Milliarden geht: „Ich verstehe ja nichts davon, aber es ist doch klar, dass solche Summen nicht ohne den Segen von ganz oben bewegt werden.“ Die beiden lachen.

Auf das Schulheft des Sohns der Frau neben mir ist mit schwarzer Tusche eine Blüte gezeichnet, daneben stehen Verse aus einem Gedicht von Rumi: „Komm im Frühling auf die Wiese, dort findest du Frieden und Wein, die Nymphen verstecken sich in den Orchideen.“ Das Heft liegt auf seinen Knien, aber der Junge ist mit seinem Gameboy beschäftigt. Ein anderer Mann spricht laut in sein Handy: „Ich bin in einer Sitzung, komme gleich zu euch, verkauft nichts, wartet noch ab … Natürlich habe ich heute Abend Zeit, macht euch keine Sorgen, ich nehme alle mit … Was essen wir heute Mittag?“

Schalter 12 ruft mich auf, das Mädchen ist sehr streng. Sie hat einen Fehler bei meiner letzten Überweisung entdeckt, das kostet mich Zeit und eine Strafe von 200 000 Toman. Ich hebe 500 000 (ungefähr 200 Euro) ab, renne zum Bus und fahre zum Genossenschaftsladen der Volksbildungsbeamten. Meine Mutter hat mir aufgetragen, 15 Kilo Reis und 5 Kilo Zucker zu kaufen. „Durch das Embargo steigen die Preise, wir müssen Vorräte anlegen.“ Ich habe ihr immer wieder erklärt, dass es sinnlos ist, trotzdem sagt sie: „Es ist sicherer, das machen alle.“

Die Preise für Artikel des täglichen Bedarfs sind „frei“, auch wenn man in der Einkaufsgenossenschaft ist. Hier können Lehrkräfte und Rentner ihren Anspruch auf reduzierte Preise allerdings nur geltend machen, wenn sie Haushaltsgeräte auf Kredit kaufen. Der Preis für den Flachbildfernseher, den meine Mutter mit ihrer Rentnerkarte kaufen will, um die Satellitenprogramme besser zu empfangen, hat sich fast verdoppelt. Sie muss also noch warten. Ich kaufe Reis, Zucker und ein paar andere Dinge und bitte den Händler, sie am Nachmittag zu liefern. Ich habe nicht mehr viel Geld im Portemonnaie.

Gestern Abend habe ich auf Facebook sein Foto im Profil gesehen, neben ihm ein eher unscheinbares französisches Mädchen. Omid lebt bei ihr in Paris, aber er schreibt mir immer noch jeden Tag. Er schreibt mir, seit er im Dezember 2010 das Land verlassen hat, aber er schreibt nicht, wie es mit uns weitergeht. Jeden Morgen sage ich mir, es ist vorbei, ich entferne ihn aus meinem Leben, aber wenn ich keine Mail von ihm bekomme, kann ich nachts nicht einschlafen. Er schreibt: „Brigitte ist ein Zeitvertreib, das mit dir ist fürs Leben.“ Dabei habe ich weder Visum noch Pass, kein Geld und nicht einmal Lust, das Land zu verlassen.

Ich nehme ein Sammeltaxi, um vor Mittag beim Gesangsunterricht zu sein. Der Fahrer erzählt uns, dass sich heute früh 800 Metallarbeiter vor dem Präsidentenpalast versammelt haben. Sie fordern, zum Ausgleich für acht Monate Lohnrückstand, vier Millionen Toman für jeden, plus Neujahrsprämie.1 Das schön geschminkte junge Mädchen neben mir beantwortet eine SMS nach der anderen. Ich setze die Kopfhörer auf. Durch die Klänge meiner Musik für die Gesangslektion hindurch höre ich Fetzen von dem Gespräch zwischen einem Fahrgast und dem Fahrer: „Das Dorf Fordo mit seinen 2 500 Einwohnern? Atomstandort.“

Omid und ich durchquerten die Kirschbaumhaine am Fuß des Damavand und stiegen hinauf zum Ort unseres geheimen Stelldicheins. Wir tranken Tee, den wir auf einem Holzfeuer zubereiteten, und sangen laut. Seine Stimme verschmolz mit meiner, eine kräftige Tenorstimme, die die traditionellen persischen Lieder ebenso gut singen konnte wie die alten Lieder von Pouran und Viguen oder Piaf, Brel, den Beatles und James Blunt. Wir hatten einen herrlichen Blick über Teheran und versuchten unsere Lieblingsecken zu entdecken. Ein Intermezzo, um alles zu vergessen, ohne Ziel, ohne Rechtfertigung, ein vergänglicher Moment.

Ich habe noch ungefähr 300 000 (weniger als 100 Euro) bis zum Monatsende, um Gesangsunterricht, Essen und Verkehrsmittel zu bezahlen, ich werde ein paar Nachtdienste machen müssen. Meine Mutter verrät es keinem. Die Agentur für häusliche Krankenpflege vermittelt mich an Todkranke, die ich nachts betreue. Der letzte ist ein früherer Filmmanager mit metastasierendem Darmkrebs, einer depressiven Frau und Kindern im Ausland. Er hat mir seine Fotos aus den 1970er Jahren in Cannes gezeigt. Ich schneide ihm die Nägel und wechsle seine Windeln, er erzählt mir mühsam von seinen Filmen. Seine Tochter versucht ihm Zaltrap zu schicken. Das Medikament ist noch nicht auf dem Markt, aber der Antrag auf vorläufige Zulassung ist gestellt. Es ist für Patienten in unserer Ecke der Welt nicht vorgesehen. Sie will ihm helfen, ein paar Wochen Überlebenszeit zu gewinnen, und versucht damit Jahre der Trennung und Abwesenheit wieder gutzumachen. Gestern Abend sagte er kurzatmig: „Sagen Sie dem Schlaf, er soll heute Nacht nicht um meine Augen kreisen, die Insel, die ihn aufnehmen sollte, ist überschwemmt.“ Ich bin neben ihm sitzen geblieben und habe seine Hand gehalten.

Heute Nachmittag redeten im Bus alle von Mehdi Tolouti, dem jungen Boxer, der bei den Olympischen Spielen in London die Farben des Iran vertreten darf. Ich habe Shiva angerufen und gefragt, ob sie mich morgen früh auf den Berg begleitet, um durch die Kirschbaumhaine zu laufen und einen Tee zu trinken. Ich will den Weg noch einmal ohne Omid gehen.

Meine Mutter hat die Vorräte im Keller verstaut. Sie beruft sich auf die Nachrichten der ausländischen Medien, um ihre Angst vor einem bevorstehenden Angriff gegen den Iran zu rechtfertigen. Unsere Nachbarn, Herr Mohamadi und seine Frau, beruhigen sie und sagen, das sei nur ein Täuschungsmanöver. „Sie können nichts machen, Iran ist nicht Libyen und auch nicht Afghanistan, sie versuchen es schon seit dreißig Jahren ohne Erfolg.“ Meine Mutter antwortet: „Sie sind wahnsinnig und stecken bis zum Hals in ihrer Krise, also sind sie zu allem fähig.“ Herr Mohamadi glaubt das nicht: „Hören Sie auf, ständig BBC und Voice of America zu schauen.“ Frau Mohamadi lädt meine Mutter zu einem Fest nur für Frauen ein. „Wir werden singen und tanzen und alle Probleme vergessen. Ich erwarte Sie morgen Abend.“ Meine Mutter überlegt, was sie anziehen soll, und fragt mich, ob ich sie am nächsten Tag frisieren kann. Ich erzähle ihr, dass ich mit Freundinnen auf den Berg gehen will, verspreche ihr aber, sie vor dem Fest zu frisieren.

Bevor ich mich fertig mache, gehe ich noch schnell auf Facebook. Brigitte will mit mir befreundet sein, und Omid schreibt mir, dass seine Freundin Persisch lernt und dass ich die Einladung annehmen soll. Ich schließe Facebook. Dann versuche ich auf die offizielle Seite der Olympischen Spiele in London zu gehen, aber sie ist gesperrt. Der Proxy, um die Sperrung zu umgehen, funktioniert nicht. Shiva klingelt an der Tür, es ist sechs Uhr früh. Ich schnappe mir den Rucksack mit Tee, einer kleinen Kanne und Streichhölzern, und los geht’s.

Die Kirschbäume sind in voller Blüte, zwei andere Wanderer gehen unseren geheimen Weg hinauf. Zwei Männer mittleren Alters, die über das für nächste Woche in der Türkei geplante Treffen der G5+1 mit dem Iran diskutieren. Der eine denkt, der Westen wird nachgeben, der andere scheint etwas skeptischer zu sein. Er sagt nur „Teheran ist wunderschön, ich bin nach Jahren des Exils zurückgekehrt, um die Stadt wiederzusehen und die Luft am Fuß des Damavand zu atmen. Ich möchte sie nicht in Flammen sehen. ‚Das iranische Volk auslöschen‘2 – ein Albtraum. Man muss es diesem Volk überlassen, selbst die nötigen Veränderungen herbeizuführen.“

Shiva findet es lächerlich und verächtlich, dass sich das Ausland einmischen will, um uns die Demokratie zu bringen. Ich sehe das auch so, wir müssen unseren Weg allein finden. Sie fürchtet, von der Uni ausgeschlossen zu werden, weil sie sich an der grünen Bewegung beteiligt. Trotzdem macht sie weiter und hofft, ihr Jurastudium abschließen zu können. Sie rät mir, Brigittes Freundschaftsanfrage abzulehnen, sie findet sie absurd und arrogant. Ich antworte nicht und fange ganz leise an zu singen. Ein kleiner Junge kommt zu uns und bietet uns Kekse und Chips zum Kauf an. Ich halte ihm einen Zweihunderterschein hin (zehn Cent), er gibt mir ein Kaugummi und erklärt, dass er nicht bettelt.

An unserem Geheimort mache ich ein Feuer für den Tee. Es ist kalt, ich binde meinen Schal fester. Wir singen laut und lesen den Text von einem Zettel ab. „Wild und gehorsam / Du verhüllst deine Haut / Leg ab deinen Schleier / Und sei meine Braut. / Eine Kirsche ist die Liebe / Es eilt die Zeit / Komm mit mir zum Tanz / In deinem schönsten Kleid.“ Dann stimmen wir ein altes Lied von Pouran an: „Die Blumen erblühen, der Frühling ist da, wir gehen aufs Land …“ Die beiden Männer kommen vorbei und summen die Melodie mit. Vor uns liegt die Stadt, der Fernsehturm Borj-e Milad steht immer noch, Teheran ist wieder in Autoabgase gehüllt, das Leben strömt in alle Richtungen.

Fußnoten: 1 www.tabnak.ir/fa/news/, Information von Sonntag, 8. April 2012. 2 Zitat aus dem Gedicht von Günter Grass „Was gesagt werden muss“.

Aus dem Französischen von Claudia Steinitz

Mitra Keyvan ist Mitarbeiterin von Le Monde diplomatique auf Farsi.

© Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 11.05.2012, von Mitra Keyvan