Die Freiheit der Andersdenkenden im Netz
Als das Internet noch jung war, erließen die USA unter Präsident Clinton ein Gesetz zum Schutz digitaler Plattformen vor staatlicher Zensur. So erhielten die Betreiber alle Freiheiten – und tragen null Verantwortung.
von Sébastien Broca
Die Übernahme von Twitter durch den Milliardär Elon Musk hat eine Protestwelle ausgelöst, die zeigt, dass es hier um mehr geht als ein bei den Eliten beliebtes soziales Netzwerk. Was bei Twitter geschieht, lässt ahnen, wie die Zukunft der Redefreiheit im Internet aussehen könnte, und die heftigen Kontroversen seit dem Antritt des neuen Chefs verweisen auf Konflikte, die nicht nur in den USA bevorstehen.
Als Elon Musk im April 2022 das defizitäre Unternehmen erwarb, begründete er das mit seinem Wunsch, die Meinungsfreiheit als „die Basis für eine funktionsfähige Demokratie“ zu schützen. Eingriffe in die Inhalte wolle er auf das vom Gesetzgeber verlangte Minimum beschränken; Twitter solle, so ein Tweet vom 25. April 2022, „der öffentliche Ort im digitalen Raum bleiben, wo die Zukunftsfragen der Menschheit diskutiert werden“.
Nach dem Kauf entließ Musk die Hälfte der Angestellten per E-Mail und kündigte die Verträge von gut 4000 externen Dienstleistern, die vorwiegend mit der Überprüfung der Inhalte betraut waren. Er entsperrte zahlreiche Nutzerkonten, darunter das von Donald Trump, beendete die während der Coronapandemie begonnene Bekämpfung von Desinformationen, ließ zeitweilig die Konten unliebsamer Publizist:innen sperren und veröffentlichte Belege für die Zusammenarbeit ehemaliger Mitarbeiter mit den US-Geheimdiensten.
Sein erratisches Agieren bei Twitter wirft eine interessante Frage auf: Wie kann es sein, dass ein autoritärer Milliardär sich zum Vorkämpfer der Meinungsfreiheit stilisiert, die doch eine klassische Domäne der Linken ist? Auch wenn man Musk sein demokratisches Engagement nicht abkauft: Fakt ist, dass sich rechte und rechtsextreme Kräfte in den USA für die Meinungsfreiheit starkmachen – und damit ein von der Linken verlassenes Feld besetzen.
Um diesen Rollentausch zu verstehen, muss man sich den gesetzlichen Rahmen zur Kommunikation im Netz ansehen: Entscheidend ist Artikel 230 des US-Bundesgesetzes Communications Decency Act von 1996, der die Social-Media-Unternehmen nicht als Urheber oder Herausgeber der Online-Inhalte sieht. Wenn rechtswidrige Äußerungen gepostet werden, muss Twitter also nicht eingreifen, außer etwa bei klaren Verstößen gegen das Strafrecht.
Laut Artikel 230 kann man die Plattformen auch nicht zwingen, bestimmte Inhalte zu blockieren oder zu filtern, solange sie in gutem Glauben handeln. Selbst wenn Posts gekürzt oder redaktionell bearbeitet werden, trägt die Plattform für die Inhalte keinerlei Verantwortung. Zudem ist sie durch das First Amendment der Verfassung geschützt, das private Akteure vor jeder vom Staat auferlegten Neutralitätsverpflichtung schützt. Daher werden Interface, Algorithmen und die Moderation der Plattformen als Teil der vom First Amendment geschützten „Rede“ betrachtet. Wenn Twitter einen von einem Nutzer geposteten Inhalt löscht, übt das Unternehmen nur sein eigenes Recht auf freie Meinungsäußerung aus.
Kurzum: Artikel 230 gewährt den großen Plattformen volle Freiheit für jegliche Art von redaktionellen „Moderationen“ und enthebt sie so der Verantwortung, die Medien – etwa Presseverlage – üblicherweise tragen. Er verpflichtet sie auch nicht zur Neutralität, zu denen bloße Telekommunikationsanbieter verpflichtet sind. Die Internetplattformen haben mithin das Recht, nicht aber die Pflicht, die auf ihnen verbreiteten Äußerungen zu moderieren.1
Eine solche Regelung mag unausgewogen erscheinen, wurde aber lange nicht angezweifelt. Vom Silicon Valley und von renommierten Organisationen wie der American Civil Liberties Union (ACLU) wurde sie mit folgender Argumentation verteidigt: Wenn man die Plattformen für die von Dritten geposteten Nachrichten verantwortlich macht, werden sie präventiv zu viele Inhalte unterdrücken; und wenn man sie zur Neutralität verpflichtet, wäre das ein Verstoß gegen das First Amendment. Fazit: Dank Artikel 230 habe man beide Klippen, die die Meinungsfreiheit bedrohen, umschifft.
Dieser Konsens zerbrach 2017. Nach dem Amtsantritt von Donald Trump wurde Artikel 230 zum nationalen Zankapfel. Die Republikaner schrieben sich das Recht auf freie Meinungsäußerung auf ihre Fahne. Die „rechte Alternative“ (Alt-Right) schuf eigene Netzwerke wie Gab und Parler, die vorwiegend von Trump-Fans genutzt wurden. Als selbsternannte Hüter der Meinungsfreiheit verbreiteten sie dort offen rassistische, frauen- und fremdenfeindliche Reden.
Die Tech-Giganten wiederum wurden von den Republikanern attackiert, die ihnen Bevorzugung der Demokraten und Zensur vorwarfen. Trump kündigte mehrfach an, Artikel 230 abzuschaffen, doch es blieb bei der Drohung. Bei den Anhörungen von Mark Zuckerberg vor einem Ausschuss des US-Senats im November 2020 zeigte sich, dass „die Republikaner den Unternehmen vorwerfen, sie gingen beim Einschränken der Verbreitung von Fake News zu weit, während die Demokraten sie auffordern, noch mehr dagegen zu tun“.2
Der Meinungsstreit kulminierte nach dem 6. Januar 2021. Der Sturm auf das Kapitol veranlasste Twitter, Facebook und Snapchat, die Konten des noch amtierenden Präsidenten Trump und vieler seiner Anhänger zu sperren, die mit der rechtsextremen QAnon-Bewegung in Verbindung standen. Google und Apple schlossen die Onlineshops von Parler; Amazon Web Services entschied, dieses alternative Netzwerk nicht mehr zu hosten, da es eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstelle.
Die von Republikanern regierten Bundesstaaten Florida und Texas reagierten einige Monate später mit der Verabschiedung neuer Gesetze. In der Florida Senate Bill 7072 und der Texas House Bill 20 waren entscheidende Bestimmungen aus Artikel 230 geändert, um die großen Plattformen von der Sperrung bestimmter Konten und der Moderation ihrer Inhalte abzuhalten.
Beide Gesetze ermöglichen es Nutzern, gerichtlich gegen Betreiber vorzugehen, wenn sie sich zensiert wähnen. Die wichtigsten Akteure im Netz (die Gesetze gelten nur für Plattformen mit einer großen Zahl von Nutzern) wären demnach verpflichtet, praktisch ausnahmslos alle Inhalte weiterzugeben. Damit würden sie derselben Neutralitätspflicht unterliegen wie die Anbieter von Telekommunikationsnetzen. Diese Sichtweise teilt der ultrakonservative Richter Clarence Thomas im Supreme Court, der beklagt, dass „die Kontrolle über so viele Meinungsäußerungen in unerhörtem Maße in den Händen weniger privater Unternehmen konzentriert ist“.3
Die großen Technologiekonzerne haben die neuen Gesetze von Florida und Texas, insoweit sie im Widerspruch zu Artikel 230 stehen, alsbald vor den zuständigen Gerichten angefochten. Mit dem Argument, es sei verfassungswidrig, ihnen eine strenge Neutralitätspflicht aufzuerlegen, da das First Amendment doch ihre redaktionelle Freiheit schütze. Die beiden Gesetze, mit denen sich der Supreme Court befassen wird, bedeuten eine 180-Grad-Wende der Republikaner.
Bis Ende der 2010er Jahre stand für die politische Rechte fest, dass die Meinungsfreiheit von Einzelpersonen und die von Unternehmen Hand in Hand gingen. Entsprechend sollten private Medien kraft ihrer Eigentumsrechte und des First Amendments über die von ihnen verbreiteten Reden absolut frei entscheiden dürfen. Mit dem Versuch, die sozialen Netzwerke zur völligen Neutralität zu zwingen, bricht die „trumpistisch“ gewendete Rechte mit dieser überkommenen Vorstellung und gibt implizit zu, dass private Unternehmen keine absolute Entscheidungsfreiheit über die verbreiteten Inhalte haben sollten – eine Position, die traditionell von den Demokraten vertreten wurde.
Diese ideologische Wende der Rechten ist das Gegenstück zu den Veränderungen im eher linken Lager. Als Reaktion auf Desinformationen und Hassreden hatten Politiker, Wissenschaftlerinnen und Aktivisten in den 2010er Jahren begonnen, die Laxheit der großen Plattformen anzuprangern. Sie verlangten eine bessere Moderation der Inhalte, um Minderheiten zu schützen und ihnen Gehör zu verschaffen. Der Kampf für größtmögliche Meinungsfreiheit zählte nun nicht mehr zu ihren zentralen Anliegen; sie sehen darin eher ein Instrument, um die Stimmen von Frauen und Minderheiten mittels Cybermobbing, Drohungen und massenhafte Verbreitung von Fake News zu unterdrücken.
Der Rechtswissenschaftler Tim Wu, der bis Ende 2022 der Biden-Regierung angehörte, äußerte die Befürchtung, „die Verfechter von offenen Kanälen und unzensierter Meinungsfreiheit im Internet (mich eingeschlossen) könnten mit ihren eigenen Waffen geschlagen werden, weil diese Medien nunmehr zur Bekämpfung von benachteiligten Gruppen eingesetzt werden“.4 Der klassische politische Liberalismus muss sich vorwerfen lassen, die verletzlichsten Mitglieder der Gesellschaft zum Verstummen zu bringen und der identitären Rechten den Weg zu ebnen.
Diese ideologische Umkehrung zeigte sich im Januar 2021 nach dem Sturm auf das Kapitol: Die ACLU und die Republikaner verurteilten unisono die grenzenlose Macht der Tech-Riesen. Und Teile der Linken fanden sich plötzlich in der Nähe des konservativen Lagers. Zum Beispiel der Journalist Glenn Greenwald, der die Enthüllungen von Edward Snowden über die Machenschaften der US-Geheimdienste veröffentlicht hatte. Dieser scharfe Kritiker von Zensur, Cancel Culture und dem Einknicken der Demokraten vor der Macht des Silicon Valley wurde bei der Linken zur Persona non grata, nachdem er mehrfach bei Fox News in der Sendung des rechtsextremen xenophoben Moderators Tucker Carlson aufgetreten war. Seit 2022 hat er eine eigene Sendung auf der Plattform Rumble, finanziert von dem rechtslibertären Unternehmer Peter Thiel.5
Greenwalds Seitenwechsel zeugt von der Kaperung der Meinungsfreiheit durch die Rechte – und deren Entwertung im linksliberalen Lager. Die Linke steckt in der Sackgasse. Sie hat ihren legitimen Wunsch, sozial benachteiligte Stimmen zu schützen, teuer bezahlt: mit dem Verzicht auf Widerstand gegen die Macht der Tech-Konzerne. Sie hat die Internetgiganten ermutigt, den Schutz von Minderheiten zu verstärken und mehr für die Qualität öffentlicher Diskussionen zu tun. Sie hat jedoch nicht bedacht, dass sie damit dieses wichtige Feld einem kapitalistischen Oligopol überlässt. In ihrem Eifer, gegen Desinformation vorzugehen, sind sie „zu Anwälten von Big Tech geworden“. Ausgerechnet die Mächtigen der Branche können Inhalte aus dem Netz entfernen, die sie für „gefährlich“ halten.6
Die öffentliche Debatte in den USA ist ziemlich unübersichtlich geworden: Während die Rechte die Plattformbetreiber per Gesetz zur Garantie der Meinungsfreiheit zwingen möchte, ist die Linke bereit, ihnen den Schutz benachteiligter Nutzergruppen anzuvertrauen. Damit gibt sie der Gegenseite die Chance, sich als Verteidiger der Meinungsfreiheit aufzuspielen und mehr staatliche Kontrolle über die Riesen des Silicon Valley zu fordern.
Was lehrt uns Twitter unter Elon Musk? Es macht uns vor allem deutlich, wie sehr die jahrzehntelange Untätigkeit der Legislative den Einfluss der Privatwirtschaft auf Internetinhalte gestärkt hat. Der Kauf des Netzwerks mit dem Vogel-Logo ist ein Exempel, wie sich die Rechte die Utopie vom Internet als Raum maximaler Meinungsfreiheit aneignet.
Doch diese Allianz von neoliberalen und konservativen Ultras ist alles andere als stabil. Die Republikaner in Florida und Texas verbannen unliebsame Bücher aus Schulen und Bibliotheken, fordern aber zugleich die totale Meinungsfreiheit im Internet. Die libertäre Internet-Utopie geht mit konservativen Werten nicht so richtig zusammen. Die Diskussionen um Twitter zeigen auch, wie schwer es ist, die Verteidigung der Meinungsfreiheit und den Schutz der Benachteiligten zu vereinbaren, wenn die Meinungsfreiheit im Internet von wenigen kapitalistischen Akteuren kontrolliert wird.
2 Bericht über das Senats-Hearing in der Washington Post, 17. November 2020.
3 Zitiert nach: American Enterprise Institute (AEI), 6. April 2021.
4 Tim Wu, „Is the First Amendment Obsolete?“ Michigan Law Review, Bd. 117, Nr. 3, 2018.
Aus dem Französischen von Birgit Bayerlein
Sébastien Broca ist Dozent für Informations- und Kommunikationswissenschaften an der Universität Paris 8 und Autor von „L’Utopie du logiciel libre“ Paris (Le Passager clandestin) 2018.