11.05.2023

Unerwünscht in Tunesien

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Unerwünscht in Tunesien

Mi­gran­t:innen aus Subsahara-Afrika sind immer häufiger Übergriffen ausgesetzt. Schuld daran sind Alltagsrassismus, Verschwörungstheorien und die verbale Brandstiftung des Präsidenten. Die EU verschärft derweil weiter ihr Grenzregime.

von Thierry Brésillon

Auf der Anti-Rassismus-Demo in Tunis am 25. Februar 2023   NICOLAS FAUQUE/picture alliance/abaca
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In einer ohnehin schon angespannten Situation goss Präsident Saïed mit seinen Worten noch Öl ins Feuer. Nach einer Beratung des Nationalen Sicherheitsrats über „Notfallmaßnahmen“ zur Eindämmung der „Präsenz einer großen Zahl illegaler Migranten aus Subsahara-Afrika“ veröffentlichte das Präsi­dial­amt am 21. Februar auf seiner Face­book­seite eine Mitteilung, in der eine tunesische Version des Verschwörungsmythos vom „großen Austausch“ präsentiert wurde.

Nach einem „kriminellen Plan, der seit Beginn dieses Jahrhunderts vorbereitet wird“, hätten „bestimmte Par­teien seit 2011 große Geldsummen erhalten, um irreguläre Migranten aus Subsahara-Afrika in Tunesien anzusiedeln“, mit dem Ziel, „Tunesien auf seine afrikanische Dimension zu reduzieren und es seiner arabischen und islamischen Identität zu berauben“.

Schon seit Mitte Februar hatte die Polizei Kontrollen von Mi­gran­t:in­nen verschärft. Einen Tag nach der Veröffentlichung des Kommuniqués kündigte die Nationalgarde eine große Razzia an. Alle, die „Migranten mit irregulärem Status beherbergen oder beschäftigen“, sollten verhaftet werden. In den darauffolgenden Tagen wurden hunderte, vielleicht sogar tausende Mi­gran­t:in­nen von ihren Vermietern aus ihren Wohnungen geworfen, oft mitten in der Nacht und ohne Vorankündigung.

Ihr Hab und Gut mussten sie zurücklassen, Kautionen wurden einbehalten. Nachbarn halfen bei der gewaltsamen Vertreibung. Sie nahmen den Geflüchteten ihre Ersparnisse ab und zerstörten deren Eigentum.

Aus Angst vor weiteren Übergriffen und Verhaftungen trauten sich tausende Mi­gran­t:in­nen aus Subsahara-Afrika wochenlang nicht mehr auf die Straße und waren völlig auf die Solidarität tunesischer Hilfsorganisationen angewiesen. Die Botschaften von Guinea, Senegal, Mali und Côte d’Ivoire organisierten Sonderflüge für heimkehrwillige Landsleute.

Nachdem der Generalsekretär der Afrikanischen Union (AU), Moussa Faki Mahamat, Saïeds Äußerungen verurteilt hatte1 , versuchte dieser zu beschwichtigen: Er habe mit seinen Aussagen nur auf irreguläre Migranten gezielt, denn die seien die ersten Opfer der Ausbeutung durch lokale Arbeitgeber und Schlepper. Seine Äußerungen seien bewusst falsch interpretiert worden – um ihm zu schaden, sagte Saïed.

Außenminister Nabil Ammar versicherte den Botschaftern der subsaharischen Länder und den Vertretern internationaler Organisationen, dass sich Tunesien für die Einhaltung der Menschenrechte einsetze. Doch die tunesischen Behörden sprechen weiterhin von einer „Kampagne“ gegen das Land.

Zu einer ausdrücklichen Verurteilung der rassistisch motivierten Angriffe konnte man sich auch nicht durchringen. Lediglich eine gebührenfreie Telefonnummer für Opfer von Misshandlungen wurde eingerichtet. Vor allem weigert sich die Regierung anzuerkennen, dass es zumindest pro­ble­ma­tisch ist, die Migration als Teil eines „kriminellen Plans“ darzustellen.

Dabei war es nicht einmal der Präsident selbst, der sich diese Verschwörungserzählung ausgedacht hat. Sie wurde schon viele Monate zuvor in Umlauf gebracht, vor allem von der Tunesischen Nationalistischen Partei. Diese 2018 gegründete Kleinstpartei pflegt eine lupenreine faschistische Rhetorik: Sie verbreitet Hass auf die Demokratie und verherrlicht Gewalt gegen politische Gegner.

Die Nationalisten versuchen die Tunesierinnen und Tunesier davon zu überzeugen, dass ihrem Land die „­Kolonisierung durch Subsahara-Afrika“ drohe – und zwar durch Finanzmittel aus der Europäischen ­Union, die darauf abzielten, Migranten in Afrika zu halten. Menschenrechtsorganisationen wirft die Gruppierung vor, sie würden der tunesischen Regierung eine mi­gran­tenfreundliche Politik aufzwingen.

Steinwürfe und Spuckattacken

Dank einer wachsenden Anhängerschaft, vor allem in den sozialen Medien, brachen die Nationalisten eine Debatte über die angeblich 700 000 Migranten aus Subsahara-Afrika vom Zaun, die sich in Tunesien aufhielten. Die Zahl ist absurd übertrieben. Laut dem nationalen Statistikinstitut soll diese Personengruppe zwischen 2010 und 2021 von gerade einmal 7000 auf heute 21 000 angewachsen sein. Selbst die Zahlen der Hauptabteilung Wirtschaftliche und Soziale Angelegenheiten der Vereinten Nationen (UN Desa), die für das Jahr 2019 mit 57 000 subsaharischen Geflüchteten in Tunesien gerechnet haben, liegen weit unter den behaupteten 700 000.

Verbreitet werden diese Verschwörungsmythen zum Beispiel von Mabrouk Korchid, der von 2017 bis 2018 tunesischer Minister für Staatsliegenschaften war, oder von Leuten wie Taoufik Bourhou, Politikwissenschaftler an der Universität Lyon III. Korchid behauptete am 2. Januar in einem tunesischen Radiosender, dass Afrikaner extra nach Tunesien gebracht würden, „damit sie heiraten und die Morphologie des tunesischen Volks verändern“.

Und Bourhou schrieb am 15. Februar in einem Beitrag für das tunesische Onlinejournal UniversNews, dass „die unkontrollierten Massenankünfte eine Form der Überflutung darstellen, die in höchstens fünf Jahren das demografische Gleichgewicht Tunesiens umkehren wird“.2 Schätzungen zufolge betrage die Zahl der Einreisen 1,2 bis 1,7 Millionen in fünf Jahren, behauptete er.

Ihre Behauptungen untermauert die Tunesische Nationalistische Partei mit alten Videos, in denen umstrittene Anhänger des Afrozentrismus behaupten, Afrika sei schon immer schwarz gewesen, und fordern, die Maghrebiner sollten zurück nach Saudi-Arabien, wo sie herkommen. Solche Sprüche, die auf einer fragwürdigen Interpreta­tion des senegalesischen Ägyptologen Cheikh Anta Diop basieren, sind in Wahrheit lediglich ein Randgruppenphänomen und meistens eine Reaktion auf den in den maghrebinischen Staaten erfahrenen Rassismus.3

Gängige Beleidigungen sind etwa oussif (Sklave, Diener) oder kahlouch – was so viel wie „dunkelhäutig“ heißt, aber negativ besetzt ist und etwa mit dem N-Wort vergleichbar ist. Spuckattacken und Steinwürfe auf Schwarze sind keine Seltenheit; auch schwere Straftaten werden oft nicht verfolgt, wenn die Opfer Schwarze sind. „Die Polizei hat mich weggeschickt und meinte, dass sei ja wohl ziemlich dreist von mir, Tunesier anzeigen zu wollen“, erzählte uns das Opfer einer Gruppenvergewaltigung.

Dabei steht Rassismus seit 2018 in Tunesien unter Strafe. Doch es braucht mehr als ein paar Paragrafen, um die Einstellung der Menschen zu verändern – vor allem wenn sich gerade der Staatspräsident selbst die obskure Ideologie von Gruppierungen wie den Tunesischen Nationalisten zu eigen macht. Damit bekommen die Verschwörungserzählungen zur Migration einen quasi offiziellen Status.

Die Migration hat sich in den vergangenen Jahren tatsächlich verändert: Tunesien ist wegen seiner Nähe zur italienischen Insel Lampedusa zum Transitland für Mi­gran­t:in­nen aus Subsahara-Afrika geworden. Das frühere Auswanderungsland wurde so zum Einwanderungsland. Hinzu kam, dass die Afrikanische Entwicklungsbank (­AfDB) wegen der Krise in Côte d’Ivoire zwischen 2003 und 2014 vorübergehend von Tunis aus operiert hat. Dieser Umzug war der Ausgangspunkt für eine vor allem ivorische Zuwanderung..

In jüngerer Zeit haben zwei Faktoren maßgeblich dazu beigetragen, dass sich die Migrationsrouten aus Sahel und Westafrika nach Tunesien verlagert haben: das brutale Vorgehen der Milizen in Libyen4 und die von Alge­rien praktizierten Pushbacks in der Wüste. Auf See abgefangene Mi­gran­t:in­nen werden inzwischen meist in Tunesien an Land gebracht, selbst wenn sie von Libyen aus gestartet sind. Dadurch hat sich innerhalb weniger Jahre die Bevölkerungsstruktur einiger Stadtteile in Tunis verändert, aber auch in Sfax, einer Industriestadt im Osten Tunesiens, vor dessen Küste Meeresströmungen herrschen, die für Überfahrten nach Lampedusa günstig sind.

Die meisten Geflüchteten aus Subsahara-Afrika haben keinen regulären Aufenthaltstitel. Selbst diejenigen, die Anspruch auf eine Aufenthaltsgenehmigung haben, scheitern oft an den langwierigen bürokratischen Verfahren. Jede Woche, die das vorgeschriebene Ausreisedatum überschreitet, kostet 20 Dinar (etwa 6 Euro) Strafe. Die so angehäuften Schulden – bis zu mehreren tausend Dinar – machen Tunesien für die Betroffenen de facto zu einem großen Freiluftgefängnis.

Um ihre Rückkehr in die Heimat oder eine Weiterreise nach Europa zu finanzieren, arbeiten viele Mi­gran­t:in­nen für einen Hungerlohn (ein Drittel unter dem üblichen Niveau) auf dem Bau, in der Gastronomie oder als Haushaltshilfe. Nicht wenige bestreiten ihren Lebensunterhalt mit Prostitution und Drogenhandel.

Ihr Hauptziel bleibt es, auf die andere Seite des Mittelmeers zu gelangen. Die Hälfte der 38 000 Menschen, die 2022 vor der tunesischen Küste aufgegriffen wurden, kamen aus Ländern Subsahara-Afrikas. Mit den Geflüchteten lassen sich gute Geschäfte machen, vor allem in Sfax sind die eingespielten Netzwerke der Schlepperindustrie ansässig. Sie kontrollieren sämtliche Schritte – vom Bau der Boote über den Kauf der Motoren bis zur Vermietung von Unterkünften. Außerdem unterhalten sie gute Kontakte zu den Strafverfolgungsbehörden, die Informationen über geplante Abfangaktionen weitergeben. Schätzungen zufolge machen die tunesischen Schlepperbanden einen monatlichen Umsatz von etwa 1 Million Euro.

Seit Ende der 1990er Jahre überlassen die Schengenstaaten die Überwachung ihrer Grenzen im Süden Europas den Ländern des Maghreb. Tune­sien gilt dabei als idealer Partner, zumal seit dem Übergang zur Demokratie 2011. Das Land hat – wie Algerien und Marokko – Partnerschaftsabkommen mit der Europäischen Union unterzeichnet und gilt als kooperativ und präsentabel, vor allem im Vergleich zu Algerien beziehungsweise Libyen.

Die Zusammenarbeit in der Migrationspolitik wurde für diese Länder zunehmend zur expliziten Bedingung für den Erhalt von Wirtschaftshilfe. Während das Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) und die Internationale Organisation für Migration (IOM) unter den Geflüchteten eine Auswahl trifft und deren „freiwillige“ Rückkehr organisiert, stellen die EU-Staaten und insbesondere Italien immer mehr Mittel bereit, damit Tunis seine Kontrollen zur See verstärkt.

„Für die Italiener ist dieses Kontrollsystem aber nicht mehr ausreichend“, meint Romdhane Ben Amor vom Tunesischen Forum für wirtschaftliche und soziale Rechte. Rom ermutige die tunesischen Behörden, Druck auf die Mi­gran­t:in­nen aus Subsahara-Afrika auszuüben: „Am einfachsten ist es, ein Klima der Angst zu schaffen, um diejenigen, die hier sind, zu vertreiben und andere davon abzuhalten, überhaupt erst zu kommen.“

Am 18. Januar reisten der Außen- und der Innenminister Italiens nach Tunis, um über die Bekämpfung der irregulären Migration zu sprechen. Vor diesem Hintergrund darf man annehmen, dass das tunesische Präsidialamt mit seiner Erklärung vom 21. Februar nicht nur auf die gereizte Stimmung im Inland reagiert hat, sondern auch auf die Erwartungen der italienischen Regierung sowie der EU insgesamt.

Weil Tunesien kurz vor der Zahlungsunfähigkeit steht, hat die rechte Regierung von Giorgia Meloni zugesagt, sich bei den internationalen Geldgebern für das Land einzusetzen. Eine schwierige Aufgabe: Seit Monaten verhandelt Tunis mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) über ein Vier-Jahres-Darlehen in Höhe von 1,9 Milliarden US-Dollar, dessen Auszahlung der IWF von der Umsetzung bestimmter Sparmaßnahmen abhängig macht. Am 6. April erklärte Präsident Saïed, die gestellten Bedingungen seien „Anordnungen aus dem Ausland, die nur zu noch mehr Armut führen“.

Derweil bemüht sich die tunesische Diplomatie wegen Saïeds Ausfällen um Schadensbegrenzung. Am 5. März kündigte die Regierung ein Maßnahmenpaket an. Die Anträge von Mi­gran­t:in­nen mit Anspruch auf eine Aufenthaltsgenehmigung (das gilt insbesondere für Studierende) sollen schneller bearbeitet und die Strafen bei verspäteter Ausreise gelockert werden. Am grundsätzlichen Ziel, potenzielle Migranten aus Tune­sien fernzuhalten, ändert sich nichts.

Präsident Saïeds gefährliche Provokationen verhindern nicht zuletzt, dass sich Tunesien mit den Realitäten der Migration auseinandersetzt und sich aus dem Dilemma zwischen Sicherheitsbedürfnis und moralischer Verpflichtung lösen kann. Denn das wäre die Voraussetzung für eine unabhängige, mit allen Staaten Afrikas abgestimmte gute und vernünftige Mi­gra­tions­politik.

1 „Le président de la Commission de l’Union africaine condamne fermement les déclarations raciales sur des compatriotes africains en Tunisie“, Union afri­caine, 24. Februar 2023.

2 Taoufik Bourgou, „Pays en danger de disparition“, UniversNews, 15. Februar 2023.

3 Zu den Wurzeln des Rassismus aus der Zeit des „Sklavenhandels“ siehe Sarah Zaaimi, „Afrocentrism is trending in the Maghreb. It’s because Sub-Saharan migrants are rewriting their narrative“, Atlantic Council, 6. März 2023.

4 Siehe Ian Urbina, „Gefangen im Auftrag Europas“, LMd, Januar 2022.

Aus dem Französischen von Jakob Farah

Thierry Brésillon ist Journalist.

Le Monde diplomatique vom 11.05.2023, von Thierry Brésillon