11.05.2023

Griechische Tragödie

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Griechische Tragödie

Das Zugunglück vom 28. Februar geht nur auf den ersten Blick auf „menschliches Versagen“ zurück. Das Fehlen moderner Sicherheitstechnik zeugt von einem tödlichen Versagen des Systems.

von Élisa Perrigueur

Rettungskräfte suchen nach Vermissten, Tempi, 1. März LEONIDAS TZEKAS/picture alliance/ane/eurokinissi
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Rauchende Wrackteile im Morgenlicht, Rettungskräfte im Einsatz: Das griechische Fernsehen bringt die Bilder in Dauerschleife.

Am Vorabend um 23.21 Uhr war in der Gemeinde Tempi (Region Thessalien), in der Nähe von Larissa, der Intercity 62, der von Athen nach Thessaloniki fahren sollte, mit mehr als 350 Passagieren mit einem Güterzug zusammengestoßen. Zwölf Minuten lang waren die Züge auf demselben Gleis aufeinander zugerast. Bei der Frontalkollision starben 57 Menschen, mindestens 85 wurden verletzt, darunter zahlreiche Studierende, die nach einem verlängerten Wochenende nach Thessaloniki zurückfahren wollten. Das Bahnunglück vom 28. Februar 2023 war das bisher tödlichste in der griechischen Geschichte.

Die Ermittlungen werden noch einige Monate andauern. Erst dann wird die Schuldfrage endgültig geklärt sein, doch der diensthabende Fahrdienstleiter von Larissa hat bereits gestanden, dass er eine Weiche falsch gestellt hatte. Der Mann war in der Nacht vom 28. Februar allein im Dienst  und hatte gerade erst eine dreimonatige Ausbildung absolviert, für die er aus Altersgründen eigentlich gar nicht zugelassen war. Mit dem Betrieb im stark frequentierten Bahnhof Larissa hatte er sich erst vier Tage zuvor vertraut machen können.

Ein Großteil der griechischen Bevölkerung sieht die Ursache des Unglück deshalb im ganzen „System“ – und nicht einfach im „tragischen menschlichen Fehler“ eines Einzelnen, wie es Ministerpräsident Kyriakos Mitso­takis in seiner ersten Reaktion getan hat. Selbst Verkehrsminister Karamanlis musste in seiner Rücktrittserklärung einräumen, das griechische Bahnnetz sei nicht in einem Zustand, „der ins 21. Jahrhundert passt“.

In den Wochen nach dem Unfall demonstrierten zehntausende überwiegend junge Leute mit Parolen wie „Regierung der Mörder“ oder „Tempi, ein vorsätzliches Verbrechen“. Sie fordern Rechenschaft von der Regierung und dem Staatsunternehmen OSE (Organismós Sidirodrómon Elládos, griechische Eisenbahnorganisation), das für die Bahninfrastruktur und damit für die Betriebssicherheit verantwortlich ist.

Ihre Kritik zielte aber auch auf das Bahnverkehrsunternehmen Hellenic Train, das den Personenverkehr wie den Gütertransport auf dem Schienennetz der OSE betreibt. Hellenic Train wurde 2017 (damals noch unter dem Namen TrainOSE) von der staatlichen italienischen Eisenbahngesellschaft FSI (Ferrovie dello Stato Italiane) gekauft.

„Leider war dieser Unfall vorhersehbar“, meint der 29-jährige Zugführer Georgios Dogoritis, der für ein privates Güterverkehrsunternehmen arbeitet. Im kleinen Bahnhof von Afidnes, 30 Kilometer nördlich von Athen, zeigt er auf die Ausfahrtsignale, die alle auf Rot stehen. „Sie zeigen niemals Grün“, sagt Dogoritis empört: „Fast alle modernen Signalanlagen, die auf 1700 der insgesamt 2500 Kilometer des griechischen Schienennetzes installiert sind, funktionieren nicht mehr. Seit Ende der 2000er Jahre wurden sie nicht mehr instandgesetzt!“

Für die Ausfälle gibt es viele Gründe, Dogoritis verweist auf Kabeldiebstahl, Defekte oder Verschleiß. „Im Lauf der Zeit wurden unterschiedliche Signalanlagen installiert, die von verschiedenen ausländischen Herstellern stammten.“ Dann gab es nicht genug Ersatzteile, weil „der griechische Staat und seine schwerfällige Bürokratie“ die Importe verzögerten. Deshalb werden die Signale immer noch manuell bedient, und die Züge können nicht schneller als 160 Kilometer pro Stunde fahren. Die Fahrdienstleiter, die bei der OSE angestellt sind, übermitteln den bei Hellenic Train angestellten Zugführern das Abfahrtsignal direkt und übermitteln ihnen, dass die Strecke frei ist.

Das gesamte System beruht darauf, dass diese Regeln eingehalten werden. Dabei gibt es, bemängelt Dogoritis, kein Sicherheitssystem, dass menschliche Fehler erkennen und melden könnte. Er nennt das europäische Zugbeeinflussungssystem ETCS (European Train Control System), das auf der automatisierten Datenübertragung zwischen dem Bordcomputer, den Stellwerken und den an den Schienen installierten Sensoren (Eurobalisen) basiert. Zwar seien die Züge in Griechenland seit Ende der 2000er Jahre mit den nötigen Instrumenten ausgestattet, „aber das System hat nie richtig funktioniert“. Der Grund: Die entsprechenden Eurobalisen waren nicht installiert oder aber nicht kompatibel.

Es gibt noch mehr Länder ohne funktionierendes ETCS, aber die haben zumindest andere Sicherheitssysteme, wie zum Beispiel eine ATP (Automatic Train Protection), erläutert der Zugführer Dogoritis. „Griechenland hat gar keines, und das ist eine politische Entscheidung.“

Die griechische Gewerkschaft der Eisenbahnbediensteten (PEPE), aber auch die Europäische Eisenbahnagentur (ERA) hatten seit langem gewarnt. Schon vor dem Unglück war das griechische Netz das gefährlichste der gesamten EU; statistisch gab es einen Todesfall pro 1 Million gefahrener Kilometer, das Fünffache des Durchschnitts.1

Die systematische Vernachlässigung des Bahnverkehrs hat eine lange Tradition. „Die Regierungen wollten immer lieber Straßen bauen, weil sie mit der Maut und der Kraftstoffsteuer mehr Gewinne machen“, meint Dogoritis. Aber die Hauptprofiteure sind die mächtigen Baukonzerne und der Verbund der Fernbusunternehmen KTEL, der nach eigenen Angaben fast „80 Prozent der Buspassagiere“ auf den 117 000 Straßenkilometern des Landes befördert.

Dagegen fiel allein in den letzten Jahren ein Drittel des griechischen Schienennetzes der Sparpolitik zum Opfer. Auf der Peloponnes wurden fast alle Strecken stillgelegt, die allerdings so marode waren, dass die veralteten Züge nur im Kriechtempo fuhren. Die einzige stärker befahrene Strecke ist die Achse Thessaloniki–Athen. Zahlreiche Pendler, Familien oder Studierende nutzen regelmäßig den Intercity, der die beiden größten Städte des Landes verbindet. Die planmäßige Fahrtzeit von 4 Stunden haben die Züge schon vor dem 28. Februar nur selten geschafft.

Seit 2014 hat die EU etwa 805 Millionen Euro zur Modernisierung des griechischen Schienennetzes bereitgestellt. Aber bei der Umsetzung des Programms gab es ständige Verzögerungen, mit tödlichen Folgen, wie das Unglück von Tempi zeigt. Ein einschlägiges Beispiel ist der inzwischen legendäre „Vertrag 717“ von 2014, den die staatliche ErgOSE – als Tochter der OSE für die Infrastruktur zuständig – mit einem Konsortium, bestehend aus dem französischen Unternehmen Alstom und dem griechischen Baukonzern Ellaktor, abgeschlossen hatte.

Das Konsortium sollte die gesamte Signal- und Kontrolltechnik auf der Strecke Athen–Thessaloniki–Promachonas sanieren; der Auftrag belief sich auf 41 Millionen Euro, die hauptsächlich aus EU-Mitteln stammten. Das Projekt hätte eigentlich 2016 abgeschlossen sein sollen, ist es jedoch bis heute nicht.

In den letzten neun Jahren ging es weder unter der linken Syriza-Regierung (2015–2019) noch unter der liberal-konservativen Nea Dimokratia (seit 2019) wirklich voran. Wie Eurydice Bersi von Reporters United aufgezeigt hat, rühren die Verzögerungen von ständigen Verstößen gegen die Vertragsbedingungen, die von ErgOSE einfach hingenommen wurden.2

Für Giorgos Vassalos, der Politikwissenschaft in Lille lehrt, verweist dies auf das Versagen des Rechtsstaats in Griechenland: „Manche Unternehmen sagen sich: Wir haben vermutlich weder von der Regierung noch von der Justiz etwas zu befürchten.“ Das jüngste Beispiel für diese „Kultur der Straflosigkeit“ datiert auf den 26. September 2022, als ein Athener Berufungsgericht 20 ehemalige Führungskräfte von Siemens Hellas freisprach, die in erster Instanz wegen ihrer Verwicklung in einen der größten Korruptionsskandale des Landes verurteilt worden waren.

Die Bahn könne nicht ohne Personal modernisiert werden, erklärt Nikolaos Kioutsoukis, Techniker bei Hellenic Train und Generalsekretär des Gewerkschaftsbunds GSEE. „Die Troika hat Griechenland umgebracht, genau dasselbe hat sie mit der OSE gemacht“, meint der Gewerkschafter. 2010 hatten die Europäische Zentralbank, der Internationale Währungsfonds und die Europäische Kommission 2010 drastische Kürzungen im Budget und beim Personal des öffentlichen Sektors zur Bedingung für ihre finanzielle Unterstützung gemacht. Diese Schock­therapie traf auch die OSE und Train­OSE. Beide hatten angeblich zu viel Personal.

Allerdings war die Bahn bereits vor dem ersten Schuldenmemorandum der Troika unter der Nea-Dimokratia-Regierung von Kostas Karamanlis (2004–2009) finanziell entgleist. 2009 waren die Schulden der OSE auf 10,7 Milliarden Euro und das jährliche Defizit von Train­OSE auf 1,2 Milliarden Euro angewachsen. Eine Verschlankung der Bahn sei unumgänglich, „und alle wissen das“, argumentierte damals Dimitris Rep­pas, Verkehrsminister der Pasok-Regierung.3

Das griechische Parlament verabschiedete den Umstrukturierungsplan der OSE, den Troika und Regierung im November 2010 vereinbart hatten. Fast ein Drittel des griechischen Schienennetzes wurden stillgelegt, 2300 der 5150 OSE-Beschäftigten in andere Ministerien versetzt oder pensioniert. „Die Versetzung von Personen, die in bestimmten Unternehmensbereichen dringend gebraucht wurden, haben wir verweigert“, rechtfertigt sich Rep­pas heute.

„Die Angestellten wurden nach rein buchhalterischen Kriterien versetzt, ohne an die Sicherheit zu denken“, klagt Kioutsoukis. Mit den Vorruhestandsregelungen sei die ältere Hälfte der Fachkräfte komplett ausgeschieden, sagt der Gewerkschafter: „Heute fehlen uns Fahrdienstleiter, Techniker, Elektriker und so weiter.“ Laut Rep­pas hat die OSE nur noch 1000 Angestellte, „von denen lediglich 200 im Verkehr tätig sind“. Das sind noch mal deutlich weniger als 2012.

Der Unfall von Tempi bezeugt diesen Verlust auf grausame Weise. Der inzwischen angeklagte Fahrdienstleiter von Larissa hatte bis 2011 einen OSE-Posten, allerdings bei der Gepäckaufbewahrung. Dann wurde er ins Bildungsministerium versetzt. 2022 bewarb er sich für einen OSE-Kurs, der Quereinsteiger zum Fahrdienstleiter „qualifizieren“ soll.

Im Februar 2023 wurde er erstmals für Nachtschichten im Bahnhof von Larissa eingeteilt, „mit ungenügenden Qualifikationen für einen derart verantwortungsvollen Job“, wie Kioutsoukis empört anmerkt. Die griechische Eisenbahn-Aufsichtsbehörde kritisierte nach dem Unfall die „unzureichende Ausbildung von wichtigem Fachpersonal“ und untersagte den Einsatz aller Absolventen des fraglichen Kurses auf sicherheitsrelevanten Positionen.4

Gemäß der EU-Direktive über die Trennung von Streckennetz und Bahnbetrieb wurde TrainOSE 2005 aus der OSE ausgegliedert. Die schon damals geplante Privatisierung des Betreibers (für den Personen- wie den Güterverkehr) erfolgte aber erst 2017. Und zwar unter dem Druck der Troika, die von Athen verlangte, möglichst viele Häfen, Flughäfen und andere relevante Infrastruktur zu verkaufen, um die exorbitante Schuldenlast abzutragen.5 Die TrainOSE wurde zum Schleuderpreis von 45 Millionen Euro verhökert, weil es nur einen Bewerber gab. Das war die – ebenfalls staatliche – italienische Bahngesellschaft FSI, die auf den europäischen Märkten expandieren wollte.

„Als die OSE noch dem griechischen Staat gehörte, wurde das von der Troika kritisiert, aber diese Vorbehalte entfielen plötzlich, als sie einem italienischen Staatskonzern zugeschlagen wurde“, kommentiert der Athener Wirtschaftswissenschaftler Nikos Theocharakis. Dabei sei die Bahn ein „natürliches Monopol“ und müsse ein öffentliches Unternehmen bleiben. Dafür spreche auch das „katastrophale“ Beispiel der Aufteilung und Privatisierung von British Rail in den 1990er Jahren, die im Sinne der Rentabilität, aber auf Kosten der Sicherheit erfolgte.6

Das Unternehmen Hellenic Train (wie TrainOSE seit 2022 heißt) hat jede Verantwortung für den Zusammenstoß in Tempi bestritten. Dennoch trugen die Demonstrierenden, die vor den Firmensitz in Athen zogen, Plakate mit Parolen wie „Unsere Toten, eure Gewinne!“ und „Privatisierung tötet“.

Solche Worte bezeugen die Wut, die in Griechenland noch immer gegenüber der Troika herrscht. Das Spartrio war anfangs davon ausgegangen, dass die Privatisierungen der griechischen Staatsunternehmen Erlöse von 50 Milliarden Euro erzielen würden. Tatsächlich brachten sie bislang lediglich 9 Milliarden Euro ein.7 Der Schaden für die griechische Gesellschaft liegt allerdings sehr viel höher.

1 „Report on Railway Safety and Interoperability in the EU“, Europäische Eisenbahnagentur, zuletzt aktualisiert am 25. November 2022; sowie Nikos Morfonios, „Warning – No Signal“, Mediterranean Insti­tute for Investigative Reporting (MIIR), 6. Februar 2020.

2 „French contractor, Italian-owned trains, EU policies: Greek crash was also a European failure“, Reporters United, 10. März 2023. Zum Vertrag 717 und anderen systemischen Ursachen des Tempi-Unglücks informiert der nächste Griechenland-Blog von Niels Kadritzke auf monde-diplomatique.de.

3 So Verkehrsminister Dimitris Reppas, zitiert nach Kathimerini, 5. Juni 2010.

4 Report der RAS, 17. März 2023.

5 Siehe Niels Kadritzke, „Privatisierungsschwindel in Griechenland“, LMd, März 2016.

6 Siehe Marc Nussbaumer, „Zug nach Nirgendwo“, LMd, April 2002.

7 Für den Zeitraum von 2011 bis 2020, nach Angaben des Hellenic Republic Asset Development Funds.

Aus dem Französischen von Sabine Jainski

Élisa Perrigueur ist Journalistin und lebt in Athen.

Le Monde diplomatique vom 11.05.2023, von Élisa Perrigueur