Bidens Balkan-Team
US-Diplomaten wird seit dem Ukrainekrieg Appeasement gegenüber Serbien vorgeworfen, um Aleksandar Vučić ins westliche Lager zu ziehen. Tatsächlich mischen sich die USA in der Region wieder mehr ein, weil alte Konflikte erneut zu eskalieren drohen.
von Norbert Mappes-Niediek
Von „Appeasement“ dürfe man nicht sprechen, so Gabriel Escobar. Der Balkan-Beauftragte des US State Department hat das geschichtsschwere Wort in den letzten Monaten so oft hören müssen, dass er es bei einem Pressegespräch am 6. Juni in Prishtina schließlich selbst in den Mund nahm.
Genützt hat das Dementi nicht. Denn auch danach gingen die Vorwürfe weiter: Um eine möglichst breite Front gegen Russland aufzustellen, umschmeichelten die USA den serbischen Präsidenten Aleksandar Vučić, damit er nicht ins Putin-Lager schwenkt, stützten ihm zuliebe die Serben im Kosovo sowie „ethnonationalistische“ Positionen in Bosnien. Absender dieser Vorwürfe sind liberale Denkfabriken etwa die US-amerikanische Jamestown Foundation oder die Grünen-nahe Heinrich-Böll-Stiftung. Bei den traditionellen Verbündeten der USA in der Region, Albanern und Bosniaken, hat sich der Appeasement-Verdacht schon zur Gewissheit verdichtet. Der Regierungschef Kosovos, Albin Kurti, übt offen Kritik an der Schutzmacht und sieht „im demokratischen Westen eine beschwichtigende Haltung“1 .
Die US-Diplomaten bieten dagegen eine ganz andere Lesart ihrer Politik: „Der Balkan hat für uns Priorität“, sagte der Koordinator der US-Diplomatie in der Region, Derek Chollet, im Mai vor dem Senatsausschuss in Washington. Tatsächlich mischen sich die USA nicht erst seit dem Ukrainekrieg, sondern schon seit dem Amtsantritt Joe Bidens Anfang 2021 auf dem Balkan wieder ein – mit erheblichem Aufwand und eigener Agenda.
Ziel sei, so Chollet vor den Senatoren, die beiden letzten verbliebenen Brandherde in der Region ein für alle Mal auszutreten: Kosovo und Bosnien. Aufgestellt dafür ist ein hochkarätiges Team von Balkanveteranen: Chollet war Redenschreiber von Richard Holbrooke, dem Architekten des Bosnien-Friedensvertrags von Dayton 1995, und hat später selbst ein Buch über das Abkommen verfasst.
Sanktionen gegen Kosovo
Gabriel Escobar hat schon vier Missionen in der Region hinter sich. In Belgrad sitzt Christopher Hill, ein Urgestein des State Department und Teilnehmer an den großen Konferenzen in Dayton und auf Schloss Rambouillet 1999 (zu Kosovo). Auch die Botschafter in Sarajevo und Prishtina, Michael Murphy und Jeff Hovenier, kennen den Balkan genau. Außenminister Anthony Blinken schließlich, ihrer aller Chef, schrieb 1999 die Kosovo-Reden von Präsident Bill Clinton.
Die Ereignisse der letzten Monate scheinen den Appeasement-Vorwurf zu bestätigen. Nachdem Kosovos Premier Kurti am Freitag vor Pfingsten seine Spezialpolizei in den serbisch besiedelten Norden des Landes geschickt hatte, war es zu den schwersten Krawallen seit Jahren gekommen. Soldaten der Friedenstruppe Kfor, die das Schlimmste verhindern wollten, waren mit Steinen und Molotowcocktails beworfen worden. Dreißig von ihnen wurden teils schwer verletzt, ein Italiener musste in eine Spezialklinik nach Skopje geflogen werden.
Die Angreifer waren Serben. Druck aber übten die Amerikaner danach nicht auf Belgrad aus, sondern auf Prishtina. Kurti solle seine Polizeitruppe abziehen und den Serben Autonomie gewähren, so die Forderung. Die Europäische Union, die die Leitlinien der westlichen Balkanpolitik in den letzten Jahren allein hatte ziehen müssen und dabei keine Erfolge verbuchen konnte, zog erleichtert mit.
Ein erstes Sanktionspaket gegen die Regierung Kosovos fiel noch milde aus. Aber mögliche weitere Schritte täten wirklich weh: etwa die Blockade von Fonds oder die Aussetzung der Visumfreiheit für Reisen in den Schengenraum, nach jahrelangem Hinhalten endlich für Anfang 2024 vereinbart.
Neu ist nicht die Haltung der USA, sondern ihre Zielstrebigkeit. „Wir stehen an der Seite der Kosovaren“, bekräftigte Escobar. „Das heißt aber nicht: an der Seite eines Einzelnen, der unseren Instinkt zur Zusammenarbeit nicht teilt“ – mit anderen Worten: nicht an der Seite von Kurti. Mit der Weltmacht verbindet den Premier Kosovos
eine konfliktreiche Geschichte. Kurti war noch keine 24 Jahre alt, als er nach Kräften die Friedensbemühungen des Westens hintertrieb, die damals vom heutigen Belgrad-Botschafter Hill angeführt wurden.
Mit seiner „Bewegung Selbstbestimmung“ verband Kurti einen glaubwürdigen Kampf gegen Korruption mit nationalen Parolen und Härte gegen den Westen. Damit vertrat er genau die entgegengesetzte Linie des mächtigen US-Schützlings Hashim Thaçi, dem ersten Premier Kosovos nach der Unabhängigkeit, der sich gegen westliche Forderungen ebenso nachgiebig zeigte wie gegen Ansprüche von korrupten Parteifreunden.
Als Kurti es 2020 gegen amerikanischen Druck an die Regierungsspitze geschafft hatte, intrigierte der Sonderbeauftragte Donald Trumps, Richard Grenell, so intensiv gegen ihn, dass er schon nach sechs Wochen stürzte. Nach einem überwältigenden Wahlsieg war er ein Jahr später wieder im Amt.
Mehr als Trump, der in der Region ohne Ziel agierte, braucht Biden im Amt des Kosovo-Premiers einen, dem er vertrauen kann. Mit der Entsendung seiner Spezialpolizei in den Norden aber hat Kurti die Amerikaner regelrecht provoziert.
Seit dem Ende des Kriegs vor 24 Jahren versuchen EU und USA, das Gebiet mit seinen rund 50 000 Einwohnern friedlich ins Kosovo zu integrieren. Fortschritte gab es dabei immer nur, solange die Zugehörigkeit zu dem ungeliebten Staat für die Serben dort nicht sicht- und nicht spürbar war. So etwa ist die Polizei im Norden formal Teil der Kosovo-Ordnungsmacht, steht de facto aber unter serbischem Kommando.
Wer in Orten wie Zvečan oder Leposavić lebt, kann sich wie ein Serbe in Serbien fühlen. Das Eindringen einer bewaffneten albanischen Truppe in das Gebiet, wie der Premier es verfügt hatte, musste den Einwohnern wie eine Invasion aus Feindesland vorkommen. Eine öffentliche Warnung von Botschafter Jeffrey Hovenier hatte Kurti in den Wind geschlagen. Die Amerikaner und die Kfor-Truppe wurden erst eine halbe Stunde vor dem Zugriff informiert.
Schon die Vorgeschichte der Juni-Krawalle begann, im März, mit einer Kraftprobe Kurtis gegen die USA. Eigentlich hatte er sich in einem Treffen mit Belgrads Präsidenten Vučić darauf geeinigt, den Serben im Kosovo den seit zehn Jahren versprochenen, aber nie realisierten „Gemeindeverbund“ zuzugestehen. Dann aber hatte Kurti, als Vučić nicht förmlich unterschreiben und gegen die Absprache auch dem Beitritt Kosovos zum Europarat nicht zustimmen wollte, von seiner Zusage wieder Abstand genommen.
Als die Serben daraufhin ankündigten, die Kommunalwahl Ende April zu boykottieren, ließ Kurti entgegen amerikanischen Rat trotzdem wählen. Der Erfolg war, dass in den vier Gemeinden mit über 90-prozentiger serbischer Mehrheit nur drei Albaner und ein Bosniake zum Zuge kamen. Der Premier zog die harte Linie durch und ließ die Bürgermeister mit der Polizei in die Rathäuser bringen. Eine klare Botschaft: Wir handeln aus eigenem Recht!
Ohne physische Gewalt, dafür aber mit umso wilderer Rhetorik wird der Streit um die US-Politik in Bosnien-Herzegowina ausgetragen. Angriffsziel ist kein Amerikaner, sondern ein Deutscher: Christian Schmidt, Ex-Landwirtschaftsminister in Berlin und seit zwei Jahren Hoher Repräsentant der internationalen Gemeinschaft.
Durchgesetzt haben den CSU-Politiker im Mai 2021 die USA. Mit skurrilen Auftritten in schlechtem Englisch, Zornesausbrüchen vor Journalisten und handwerklichen Fehlern gibt er eine dankbare Zielscheibe ab. Aber US-Botschafter Murphy lässt keinen Zweifel aufkommen, dass Schmidts Interventionen eng mit den Amerikanern abgestimmt sind.
Auch in Bosnien tragen die USA eine Letztverantwortung – und nehmen sie jetzt wieder wahr. Nach dem Krieg der Jahre 1992 bis 1995 verpassten sie dem Land eine Verfassung, die künftige ethnische Konflikte ausschließen sollte: Bei demokratischen Wahlen sollten die Vertreter der drei verfeindeten Volksgruppen, Bosniaken, Serben, Kroaten, möglichst nie gegeneinander antreten müssen.
Heraus kam eine perfekte Durchquotierung des gemeinsamen Staats. Besondere „Völkerkammern“, zu gleichen Teilen zusammengesetzt aus Vertretern der drei Volksgruppen, sollten sicherstellen, dass nie zwei „Nationen“ über die dritte entschieden. An der Spitze des Staats steht bis heute ein Trio aus einem bosniakischen, einem serbischen, einem kroatischen Präsidenten.
Streit um die Völkerkammern
Das Muster sorgte für Frieden, kollidiert aber mit den Prinzipien einer liberalen Demokratie. Der Streitwert ist kein geringerer als der Charakter des Landes: Besteht Bosnien aus drei Völkern? Oder aus 3,3 Millionen Individuen?
Wer sich keiner der drei Nationen zurechnen will oder seine nationale Zugehörigkeit nicht wichtig nimmt, fällt in dem Quotensystem durch den Rost. Erst Entscheidungen des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs bewirkten, dass in den Völkerkammern inzwischen auch „Sonstige“ vertreten sind. Ein Urteil gegen die ethnische Exklusivität der drei Präsidenten dagegen wurde bis heute nicht umgesetzt.
Die Kunst des Hohen Repräsentanten ist es traditionell, zwischen den beiden Prinzipien, dem ethnisch-kollektiven und staatsbürgerlich-liberalen, einen Ausgleich zu finden. Schmidt ist seit 1995 der achte im Amt; mit schöner Regelmäßigkeit folgt ein „Interventionist“, der ausgiebig von seinen Kompetenzen Gebrauch macht, auf einen „Passivisten“, der auf die Selbstregulierung des Systems hofft.
Schmidt begann nach mehr als zwölf Jahren mit dem passiven Österreicher Valentin Inzko sogleich mit einer Intervention. Die Reaktionen fielen heftig aus. Schmidt handele im Interesse der kroatischen Volksgruppe, der kleinsten der drei, wird ihm aus der größten, der bosniakischen, vorgeworfen.
Tatsächlich hatte Schmidt einen Missstand beheben wollen. Weil in der „Föderation“, dem Landesteil, den sich Bosniaken und Kroaten teilen, mehr als dreimal so viele Bosniaken leben wie Kroaten, kann sich die bosniakische Mehrheit nicht nur aussuchen, wen sie als bosniakischen, sondern auch, wen sie als kroatischen Delegierten in die Völkerkammer schickt.
Deshalb verfügte Schmidt, dass Kantone, in denen fast keine Kroaten leben, keine Kroaten für die Kammer nominieren dürfen. Ein Aufschrei war die Folge: Schmidt leiste dem „Ethnonationalismus“ Vorschub. Schließlich sei es legitim, wenn Bürger als Individuen entschieden, unabhängig von der ethnischen Zugehörigkeit.
Weil Schmidt für die Berechnung der Quote fälschlich die Volkszählung von 2013 herangezogen hatte und nicht die von 1991, musste er sein Vorhaben aufgeben. Stattdessen erhöhte er nun die Zahl der Delegierten für die Kammer – mit dem Ergebnis, dass unter den dort vertretenen Kroaten diejenigen aus kroatischen Mehrheitsgebieten wieder in der Mehrheit sind.
Zweck des ganzen Manövers war, nach vier Jahren Blockade endlich wieder eine Regierungsbildung zu ermöglichen – also genau das, was die Amerikaner unter dem Label „Löschung von Krisenherden“ anstreben. Tatsächlich führte die „Deblockade“, wie Schmidt es nannte, dazu, dass in der Föderation endlich wieder eine Regierung zustande kam – mit der kroatisch-nationalistischen HDZ und ohne die bosniakisch-nationalistische SDA, dafür mit den Sozialdemokraten, der drittstärksten Partei, die vor allem von Bosniaken gewählt wird.
Seither fliegen die Fetzen. Eine „deutsch-kroatische Koalition“ führe „Apartheid“ in Bosnien ein. Schmidt, der für den ganzen Ärger über den treulosen Westen hinhalten muss, schaffe einen neuen „NDH“, die faschistische Republik der Ustascha aus dem Zweiten Weltkrieg, urteilte SDA-Vorstandsmitglied Haris Zahiragić öffentlich.
„Wenn das so weitergeht“, so der Politiker, „müssen wir uns eben neue Verbündete suchen. China. Oder die Russen.“ Ein Streifzug durch die Chaträume fördert bislang ungehörte Parolen zutage: Invektiven gegen den „US-Imperialismus“, Lobsprüche auf den „größten Staatsmann unserer Zeit“, Recep Tayyip Erdoğan.
Der schrille Ton macht vergessen, dass die Front zwischen dem liberalen und dem ethnischen – in polemischen Kommentaren: „völkischen“ – Prinzip in Bosnien alles andere als klar ist. Bosniaken machen etwas mehr als die Hälfte der bosnischen Bevölkerung aus, müssen also nicht mehr fürchten, von den beiden anderen Volksgruppen dominiert zu werden.
Entsprechend kann sich ihre Nationalpartei, die SDA, national indifferent geben, die Einheit Bosniens betonen, Quotierungen für überflüssig halten und dabei selbst doch „ethnisch“ bleiben. Eine langjährige Forderung ihrer Wählerklientel etwa ist die Aufhebung der „Entitäten“, die das Land praktisch in zwei Staaten spalten – ein Ansinnen, das vor allem von den Serben abgelehnt wird und das ihrem starken Mann, dem Srpska-Präsidenten Milorad Dodik, die Macht sichert.
Bosniaken stehen für die Einheit Bosniens; Serben und Kroaten, die andere Hälfte der Bevölkerung, pochen dagegen auf ihre ethnische Identität und streben, teils ganz offen, aus dem Staatsverband hinaus: Das ist die eine Sicht, beglaubigt durch die Kriegserfahrung der 1990er Jahre.
Die andere Sicht ist: Wer die Eigenständigkeit von Serben und Kroaten ignoriert, stellt den Bestand des fragilen Staatswesens infrage. Schon die Kommunisten nach dem Zweiten und die Österreicher vor dem Ersten Weltkrieg regierten das kleine Land als Verbund dreier Gemeinschaften.
Gerade die probosnischen Kroaten, die sich im Krieg gegen den Separatismus ihrer Volksgenossen in der Herzegowina stemmten, betonen den scheinbar paradoxen Zusammenhang: „Auch der bosniakische Nationalismus negiert Bosnien“, drückt Mile Babić es aus, wie viele Franziskanerpater im Land ein überzeugter Bosnier. Der jüngst verstorbene Schriftsteller Dževad Karahasan meinte, „jeder hier“ brauche „den Anderen als Beweis für seine eigene Identität“.
Doppeltes Spiel in Belgrad
Ob es so etwas wie bosniakischen Nationalismus überhaupt gibt oder ob er per definitionem ausgeschlossen ist, hat schon zu einem Streit im Deutschen Bundestag geführt – zwischen den beiden SPD-Abgeordneten Adis Ahmetović und Josip Juratović. Während Ahmetović gegen „Sezessionisten“ unter Serben und Kroaten streitet, will Juratović „Nationalisten“ in allen drei Volksgruppen bekämpfen.
Juratović hat gute Argumente. Nach einer soziologischen Untersuchung unter jungen Bosniaken, Serben und Kroaten in Bosnien weisen die Bosniaken beim Marker Nationalismus sogar höhere Werte auf als Serben und Kroaten.2
Statt eine „Appeasement-Politik“ gegenüber der serbischen Seite zu betreiben, haben sowohl Schmidt als auch US-Botschafter Michael Murphy in Wahrheit den Ton etwa gegen Milorad Dodik3 , den Präsidenten der Teilrepublik Srpska, im letzten Jahr deutlich verschärft. Als Reaktion beschloss das serbisch dominierte Parlament in Banja Luka Ende Juni, Schmidts Beschlüsse und Erlässe künftig komplett zu ignorieren.
Umgekehrt erklärte Schmidt den Beschluss des Srpska-Parlaments für ungültig. Dodik allerdings erkennt Schmidt nicht an, weil dessen Ernennung vor zwei Jahren nicht vom UN-Sicherheitsrat bestätigt wurde. Das Veto verdankt der Srpska-Präsident seinem Schutzherrn Wladimir Putin, den er erst im Januar mit einem hohen Orden auszeichnete.
Die Schlüsselfigur auf serbischer Seite aber ist nicht Dodik, sondern Serbiens autokratisch regierender Präsident Aleksandar Vučić. Mit US-Botschafter Hill, der schon vor einem Vierteljahrhundert mit Vučićs Vorgänger Slobodan Milošević verhandelte, sitzt dem Präsidenten ein diplomatisches Schwergewicht im Nacken.
Dass sein Belgrader Klient ernsthaft in Putins Lager umschwenken könnte, muss Hill allerdings nicht befürchten. Zwischen Putin und Vučić herrscht seit Kriegsbeginn Funkstille. Den beiden Resolutionen der UN-Vollversammlung gegen Russlands Angriffskrieg hat Serbien zugestimmt. Anfang Juni ließ Vučić die Financial Times wissen, dass Serbien Waffen und Munition an die Ukraine liefert, wenn auch nur über Umwege. Beschwichtigt werden muss Vučić also eher nicht mehr.
Wenn die dem Präsidenten ergebenen Belgrader Skandalblätter Informer und Kurir trotzdem täglich Putin huldigen und auf den Westen schimpfen, ist dies Teil eines alten Doppelspiels, das Vučić – einst Informationsminister unter Milošević – virtuos beherrscht: Eine angeblich prorussische öffentliche Meinung verschafft ihm Spielraum vor allem gegenüber der EU.
In Wahrheit weiß in Belgrad bis auf einen Narrensaum von Rechtsradikalen jeder, dass von einer Partnerschaft mit Moskau außer Isolation nichts zu erwarten ist. Schon seit November versucht man sich von russischem Öl und Gas unabhängig zu machen.
Wenn die US-Diplomaten nach über dreißig Jahren den erst heißen und jetzt kalten Krieg zwischen Serbien und seinen Nachbarn wirklich beenden wollen, dürften die Serben noch größere Zumutungen erwarten, als Kosovaren und Bosniaken sie derzeit erleben.
Im kleinen Kreis hat Botschafter Hill seine Sicht auf Vučić schon preisgegeben: Man dürfe nicht zu viel auf einmal von ihm verlangen. Diesen Fehler hätten die USA mit dem prowestlichen Regierungschef Zoran Djindjić gemacht, der 2003 von Kräften des alten Regimes ermordet wurde. Offenbar haben die USA mit Vučić noch viel vor. Auf einen Autokratenrabatt wird er nicht hoffen dürfen.
1 „How Kosovo’s prime minister became America’s ardent frenemy“, Politico, 20. Juni 2023.
3 Zu Dodiks politischer Karriere siehe Sead Husic, „Showdown in Bosnien“, LMd, November 2021.
Norbert Mappes-Niediek ist Korrespondent für Südosteuropa. Zuletzt erschien von ihm: „Krieg in Europa. Der Zerfall Jugoslawiens und der überforderte Kontinent“, Berlin (Rowohlt Berlin) 2022.
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