Gibt es eine Zukunft für Kurdistan?
von Vicken Chaterian
Im September 2017 organisierte die Kurdische Regionalregierung (KRG) ein Unabhängigkeitsreferendum für das von ihr verwaltete autonome Territorium im Nordirak. Trotz klarer Zustimmung (92,73 Prozent Ja-Stimmen bei einer Wahlbeteiligung von über 70 Prozent) blieb die Initiative folgenlos, denn die Zentralregierung in Bagdad weigerte sich, das Ergebnis anzuerkennen. Aber auch die Großmächte USA und Russland sowie die Nachbarstaaten Saudi-Arabien, Iran und Türkei reagierten ablehnend. Sie wollten eine Zerstückelung des Irak verhindern.
Der Misserfolg schwächte die KRG nachhaltig. In der Folge musste sie große Gebiete an die Zentralregierung abtreten, darunter auch die strategisch wichtige Stadt Kirkuk.
Die Aussichten für die 2016 gegründete Autonome Administration von Nord- und Ostsyrien, die häufig als Demokratische Föderation Nordsyrien oder Rojava (Kurdisch für „Westen“) bezeichnet wird, sind nicht weniger düster. Die dortigen Kurden leben unter ständiger Bedrohung durch das syrische Regime und sahen sich in den vergangenen Jahren mit mehreren Invasionen der türkischen Armee konfrontiert.1 Allerdings wird die territoriale Selbstbehauptung der Kurden nicht nur durch Interessen äußerer Mächte beeinträchtigt, sondern auch durch die Rivalität zwischen ihren verschiedenen politischen Vertretern.
Wenn es um die Voraussetzungen für Stabilität im Nahen Osten geht, kann man die Kurdenfrage nicht außen vor lassen. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde die Region neu geformt. An die Stelle dynastischer Reiche traten Staaten, die auf ethnischen Kriterien basierten, wie die Türkei und die arabischen Länder. Die Kurden aber wurden nicht berücksichtigt und erschienen auf der Karte als „ein Volk ohne Staat“. Sie lebten verteilt auf Gebiete in der Türkei, in Syrien, im Irak und in Iran. Deren Zentralregierungen respektierten die Grundrechte der Kurden entweder nicht oder sprachen sie ihnen sogar ab. Dies war der Hintergrund für zahlreiche kurdische Aufstände, die fast alle gewaltsam unterdrückt wurden.
In den letzten Jahren eröffneten die Schwächung beziehungsweise der Zusammenbruch des irakischen und des syrischen Staates den Kurden neue Möglichkeiten. Zumal kurdische Militärverbände sowohl im Irakkrieg ab 2003 als auch beim Kampf gegen den Islamischen Staat (IS) ab 2014 zu den wichtigsten Verbündeten der von den USA angeführten internationalen Koalitionen gehörten.
Ihre Beteiligung am Kampf gegen den IS brachte den kurdischen Kämpfer:innen und ihrer Sache eine nie dagewesene weltweite Aufmerksamkeit und Unterstützung. Sie begünstigte auch die Entstehung des autonomen Gebiets in Nordostsyrien. Im Irak erreichten die Kurden mit ihrer Mobilisierung gegen das Regime von Saddam Hussein, dass in der Verfassung von 2005 der Autonomiestatus der kurdischen Region verankert wurde.2
Doch die anhaltende Rivalität zwischen der Patriotischen Union Kurdistans (PUK) und der Demokratischen Partei Kurdistans (DPK) führte zuletzt unter anderem dazu, dass der Irak fast ein Jahr lang ohne Staatspräsident – und damit auch ohne Regierung – blieb.3 Das Amt des Präsidenten, das vor allem protokollarische Funktionen hat, aber symbolisch für die irakische Einheit steht, muss gemäß der Verfassung von 2005 mit einem vom Parlament gewählten Kurden besetzt werden. Bislang galt als innerkurdischer Konsens: Die Staatspräsidentschaft geht an die PUK und die Führung der Regionalregierung an die DPK.
Nach der Parlamentswahl im Oktober 2021 stellten jedoch beide Parteien einen Kandidaten für das Amt des Staatsoberhaupts auf, was eine politische Blockade verursachte. Erst im Oktober 2022 konnte der PUK-Politiker Abdel Latif Rachid dank eines Kompromisses zwischen den kurdischen Lagern und anderen irakischen Gruppierungen zum Präsidenten gewählt werden.
Trotz dieses Kompromisses ist die DPK-Führung der Ansicht, dass die Forderungen der PUK gemessen am Wahlergebnis unverhältnismäßig sind. „Die PUK repräsentiert nicht die Hälfte des kurdischen Volkes“, kommentierte Mahmud Mohammad, Mitglied des DPK-Politbüros.
Familie Barzani gegen Familie Talabani
Die PUK klagt indes darüber, dass die Kontrolle der DPK über die in Erbil ansässige Regionalregierung zu finanziellen Ungleichgewichten führe. Laut einer Entscheidung des irakischen Parlaments von 2015 stehen der KRG 17 Prozent der staatlichen Haushaltsmittel zu. Doch bei der Verteilung der Gelder werde die Provinz Sulaimaniyya im Osten von Irakisch-Kurdistan nicht ausreichend berücksichtigt, findet die PUK, die dort stark verankert ist. In Sulaimaniyya demonstrieren Beschäftigte des öffentlichen Sektors regelmäßig wegen der verspäteten Auszahlung ihrer Gehälter.
Die beiden Kurdenparteien streiten sich auch um die Kontrolle der Ölproduktion und die damit erzielten Einnahmen. In der Autonomieregion lagern rund 45 Milliarden Barrel Erdöl (etwa 30 Prozent der gesamten irakischen Reserven) und 8 bis 10 Billionen Kubikmeter Erdgas.
Ein grundlegender Streitpunkt ist auch die Vereinigung der Peschmerga-Einheiten. Seit der Verwirklichung der kurdischen Autonomie im Irak unter dem Schutz der USA im Jahr 1992 kontrollieren zwei unterschiedliche militärische Strukturen jeweils ein genau definiertes Gebiet. Zwar verabschiedete das kurdische Regionalparlament 1992 ein Gesetz, wonach politische Organisationen keine eigenen Truppen stellen dürfen, dennoch untersteht bis heute der Großteil der Peschmerga den beiden Parteien: Einheit 70 der PUK, Einheit 80 der DPK.4
Auch noch lange nach dem kurdischen „Bruderkrieg“5 von 1994 bis 1997 erwies sich diese Spaltung als katastrophal. Als 2014 der IS Sindschar angriff, zogen sich die DPK-Peschmerga aus dieser Region zurück, was zur Folge hatte, dass mehrere tausend Angehörige der jesidischen Minderheit ermordet wurden. Und als die irakische Armee 2017 nach dem Unabhängigkeitsreferendum auf Kirkuk vorrückte, verließen die PUK-Peshmerga ihre Stellungen, was zum Fall der Stadt führte, die als Symbol für den Ölreichtum Kurdistans gilt. „Mit einer vereinigten und reformierten Peschmerga-Armee hätten wir eine Chance zu überleben. Aber mit den gespaltenen Einheiten riskieren wir weitere Niederlagen“, sagt Niyaz Barzani, Leiter der Abteilung für Außenpolitik und Diplomatie beim KRG-Präsidialamt.
Die DPK ist eine Partei mit langer Geschichte, sie wurde 1946 von Mustafa Barzani im iranischen Mahabad gegründet. Ursprünglich war sie pankurdisch ausgerichtet, aber sie stand von Anfang an unter der Kontrolle der Barzani-Familie und gilt heute als traditionalistisch. Nach dem Tod des Gründers im Jahr 1979 übernahm dessen Sohn Masud Barzani die Führung der Partei und ihrer Militäreinheiten. Ab 2005 war Masud Barzani auch Präsident der KRG, bis er wegen des Scheiterns des von ihm initiierten Unabhängigkeitsreferendums im November 2017 zurücktrat. Er behielt jedoch die Kontrolle über die DPK, obgleich in der Barzani-Familie inzwischen eine neue Führungsriege heranwächst.
Diese jungen Leute tragen allerdings lieber westliche Anzüge als die traditionelle kurdische Kleidung. Und weil sie nicht über die Legitimität der Veteranen verfügen, die noch gegen die Armee Saddam Husseins gekämpft haben, verdanken sie ihre Stellung an der Spitze der politischen Hierarchie einzig und allein ihrer Zugehörigkeit zum Barzani-Clan.
In der kurdischen Gesellschaft wird dieses Privileg nicht offen infrage gestellt, aber die Machtverschiebungen innerhalb des Führungszirkels bieten Anlass zur Sorge. Nach dem Abgang Masud Barzanis 2017 fiel der Posten des KRG-Präsidenten an seinen Neffen Nechirvan Barzani; sein Sohn Masrur Barzani wurde 2019 Premierminister. Weil die Zuständigkeitsbereiche beider Ämter in den Gesetzen der KRG nicht genau voneinander abgegrenzt sind, kam es sogleich zu politischen Spannungen.
Innerhalb der PUK war der Kampf um die Macht noch härter. Nachdem ihr Gründer Jalal Talabani 2017 gestorben war, standen sich sein Sohn Bafel und sein Neffe Lahur gegenüber. Zunächst kooperierten die beiden, um die alte Garde der Partei loszuwerden. Aber danach kam es zur Konfrontation, aus der Bafel als Sieger hervorging; sein Cousin wurde aus der PUK-Führung vertrieben.6 Die Stabilität in Irakisch-Kurdistan hängt also nicht nur davon ab, ob beide Parteien ihre Differenzen friedlich lösen können. Entscheidend wird auch sein, wie die neue Generation innerhalb der beiden Organisationen ihr Verhältnis zur Macht definiert.
Der weite Weg von Erbil nach Rojava
Und wie steht es um die Beziehungen zwischen der KRG und Rojava? Anschauungsunterricht bekommt man bei einer Autofahrt von Erbil nach Qamischli, der wichtigsten Stadt in der Autonomen Administration von Nord- und Ostsyrien. Für die rund 280 Kilometer würde man etwa fünf Stunden rechnen, doch die Reise dauert einen ganzen Tag.
Der Grenzübergang Semalka – eine schwimmende Brücke über den Tigris – ist nur an drei Tagen der Woche geöffnet; alle, die ihn passieren wollen, brauchen eine Sondergenehmigung. Dieser Zustand erklärt sich durch die angespannte Lage zwischen der DPK und der Kurdischen Arbeiterpartei PKK. Letztere wurde in Türkisch-Kurdistan gegründet, ist aber in Syrien durch den lokalen Ableger PYD und seine bewaffneten „Volksverteidigungseinheiten“ (YPG) vertreten.
In den vergangenen zwei Jahren gab es wiederholt Zusammenstöße zwischen der DPK und den PYD. Sie sind nicht zuletzt auch eine Folge der massiven Angriffe der türkischen Armee auf die kurdischen Einheiten in der Türkei.
Seit 2015 hat Ankara seine Militäraktionen gegen die PKK stark ausgeweitet. Tausende Kämpfer und hunderte Zivilisten kamen dabei ums Leben, Städte wie Cizre und Diyarbakır wurden großenteils zerstört.7 Unter diesem Druck zogen sich die kurdischen Bewaffneten in Gebiete innerhalb des Iraks sowie nach Syrien zurück. Dort sind sie von der DPK allerdings nicht gern gesehen, denn die ist seit Langem auf gute Beziehungen zu Ankara bedacht.
Die Führung in Rojava beunruhigt allerdings weniger ihr schlechtes Verhältnis zur DPK, sondern vor allem das Verhalten der Türkei. Ankara verkündet seit Längerem, in den gesamten Norden Syriens einmarschieren und eine 30 Kilometer breite „Sicherheitszone“ einrichten zu wollen. Dort sollen dann in die Türkei geflüchtete Syrer angesiedelt werden, was de facto die Errichtung eines „arabischen Gürtels“ entlang der türkischen Südgrenze bedeuten würde.8 Viele Beobachter sind der Ansicht, dass diese Invasion nur deshalb bisher nicht stattgefunden hat, weil sich in Syrien noch rund 900 US-Soldaten aufhalten, die auf mehr als ein Dutzend Stützpunkte verteilt sind. Aber was würde passieren, wenn sie abziehen?
Saleh Muslim, Co-Vorsitzender der PYD, empfängt uns in einem Gebäude nahe der Stadt Hasaka, rund 70 Kilometer südlich von Qamischli. Es geht um die Frage, ob die syrischen Kurden einer türkischen Offensive standhalten könnten. In der Nähe liegt eine US-Militärbasis, das Gespräch wird immer wieder durch das Pfeifen von Hubschrauberturbinen unterbrochen.
„Die türkische Armee ist nicht in der Lage, gegen die Guerilla der PKK in den Bergen zu gewinnen“, ist Muslim überzeugt. Auf die Frage, ob das auch für die flache Steppe von Rojava gelte, antwortet er lakonisch: „Wir haben hier keine Berge, aber wir können Tunnel graben.“
Doch es gibt in Syrien auch kurdische Stimmen, die zum Dialog mit der Türkei aufrufen: „Die Kurden werden es nicht schaffen, in der aktuellen Situation in Syrien einen unabhängigen Staat zu gründen. Aber wir sollten darüber nachdenken, wie wir Stabilität herstellen können, statt endlos Krieg zu führen“, meint Nasser Haj Mansour, der Kurde ist Leiter des Syrischen Zentrums für Forschung und Dialog. Aber auch er fragt sich, ob Ankara zu Zugeständnissen, und seien sie noch so klein, überhaupt bereit ist.
In jedem Fall sind Rojava und Irakisch-Kurdistan nach wie vor stabiler und wohlhabender als manche andere Staaten in der Region, die vom Zerfall bedroht sind – wie etwa der Libanon. Und für beide kurdischen autonomen Entitäten hängt das Überleben ebenso sehr von den Umwälzungen im Nahen Osten ab wie von der Zusammenarbeit der Kurden untereinander.
1 Siehe Günter Seufert, „Die Lektion von Idlib“, LMd, April 2020.
2 Siehe Vicken Cheterian, „Wo genau liegt Kurdistan?“ LMd, Mai 2013.
3 Siehe Laurent Perpigna Iban, „Irak – Schiiten gegen Schiiten“, LMd, Dezember 2022.
7 Siehe Laura-MaЇ Gaveriaux, „In den Ruinen von Cizre und Sûr“, LMd, Juli 2016.
8 Siehe Jean Michel Morel, „Gnadenlos und unerschüttert“, LMd, März 2023.
Aus dem Französischen von Jakob Farah
Vicken Cheterian ist Lehrbeauftragter für Geschichte und internationale Beziehungen an der Universität Genf.